Читать книгу Was das Herz begehrt - Nina Weber - Страница 7
Startlinie: Lungenflügel
ОглавлениеDie Fahrgäste unserer roten Fähren sind Sauerstoffmoleküle. Sie steigen in der Lunge ein, wenn der Tropfen durch ein feines Blutgefäß schießt, das auch Kapillare genannt wird. Immer wenn wir einatmen, strömt – neben anderen Gasen – Sauerstoff durch die sich immer feiner verästelnden Atemwege hinein in winzige Bläschen, die Alveolen. Im Inneren sehen die Lungen wegen dieser Bläschen aus wie ein Schwamm.
Man schätzt, dass sich in der menschlichen Lunge mindestens 300 Millionen Alveolen befinden. (Genau nachgezählt hat aber noch keiner.) Bläht sich eine Alveole nach dem Einatmen auf, kann sie einen Durchmesser von einem Viertelmillimeter erreichen. Beim Ausatmen schrumpft sie auf ein Fünftel davon zusammen. Die Schwammstruktur mit den unzähligen kleinen Bläschen dient dem Zweck, dass wir mit jedem Atemzug möglichst viel Sauerstoff aufnehmen. Dafür muss die Fläche, an der sich Atemluft und Blut begegnen, möglichst groß sein. Grob geschätzt umfasst die Oberfläche aller Alveolen in einer Lunge um die hundert Quadratmeter – auf diese Grundfläche kommt manche Dreizimmerwohnung nicht!
Nur eine extrem dünne Wand trennt das vorbeifließende Blut in den Kapillaren von der Luft in den Alveolen. Für die Fahrgäste stellt diese Wand kein Hindernis dar: Die Sauerstoffmoleküle wandern einfach hindurch – wie Harry Potter und seine Freunde, wenn sie den Zug nach Hogwarts auf Gleis 9 ¾ erreichen wollen. Aber warum will der Sauerstoff mit dem Kopf durch die Wand? Er folgt einem Naturgesetz, das die Ausgeglichenheit als höchstes Ziel hat. Während in der eingeatmeten Luft viel Sauerstoff zu finden ist, ist er im gerade heranströmenden Blut Mangelware. Also geht es ab durch die Wand für unsere auf Ausgleich bedachten Passagiere.
Damit die Reisenden schnell einsteigen können, haben die Fähren speziell angefertigte Sitze. So wie man selbst auf Reisen gern gemütlich und sicher sitzt, so mag es auch der Sauerstoff. Die kleinen Fähren verwenden als Sitz das Modell Hämoglobin. Dieses Molekül enthält Eisen – und übt damit eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf den frisch eingeatmeten Sauerstoff aus. Das Hämoglobin gilt während der Fahrt in die Bereiche, wo der Sauerstoff gebraucht wird, sozusagen als Sitz samt Anschnallgurt – und es verleiht dem Blut auch die rote Farbe.
Abgesehen von ihrer Größe unterscheidet die Fähren unseres Blutsystems noch etwas anderes von den Passagierfähren auf dem Wasser: die Anzahl der möglichen Fahrgäste. Jede rote Blutzelle enthält – bei ausreichender Versorgung des Körpers mit Eisen – um die 280 Millionen Hämoglobinmoleküle, und jedes von diesen kann bis zu vier Sauerstoffmolekülen einen Platz anbieten. Bei voller Auslastung sind also mehr als eine Million Fahrgäste in einem einzigen roten Blutkörperchen unterwegs. Wenn man bedenkt, dass wir davon 25 Billionen Stück haben, wird einem schon etwas schwindelig …
Übrigens ist eine »Verkehrszählung« ein probates Mittel für uns Ärzte, um einen Eisenmangel festzustellen (der sich unter anderem in ständiger Müdigkeit äußert): Wenn zu wenig Passagiere (also Sauerstoff) auf einem roten Blutkörperchen mitreisen, enthält der Organismus zu wenig Eisen und kann deshalb zu wenig Hämoglobin bilden.
Auf ihrer Reise durch die feinen Gefäßverästelungen in der Lunge müssen die roten Blutkörperchen dann ihre Flexibilität unter Beweis stellen: Die Kapillaren haben im Durchschnitt einen Durchmesser von 7 Mikrometern (0,007 Millimeter); an den engsten Stellen sind es nur fünf Mikrometer. Wer einmal ein YouTube-Video mit einer Katze gesehen hat, die sich unter einer Zimmertür durchquetscht, der ahnt, was an diesen Engstellen los ist: Die Blutkörperchen müssen sich verbiegen, um hindurchzupassen.
In unseren Blutbahnen geht es auch im Übrigen zu wie im Straßenverkehr: Wenn es eng wird, werden alle langsamer. In den Kapillaren der Lunge kommt der Tropfen bloß mit einer Geschwindigkeit von einem Drittel Millimeter in der Sekunde voran. Im Gegensatz zum Stau wegen einer Baustelle ist das hier aber kein Ärgernis. Vielmehr haben die Sauerstoff-Fahrgäste dadurch Zeit zum Einsteigen.