Читать книгу Afghanistan Dragon - Norbert F. Schaaf - Страница 5
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Sanaubar dehnte und reckte und streckte sich. Die Gebirgswelt in der Weite um sie herum wirkte überwältigend, wenn sie aber auf den Erdboden herabschaute, herrschten Kargheit und Härte vor, die Natur und Klima der felsigen, zerklüfteten Landschaft eingeprägt hatten. Freilich sollte niemand sich täuschen: Das Gebirge gab sich einmal sonnig-heiter, ein andermal eisig-schroff.
Seufzend machte sich Sanaubar wieder an die beschwerliche Arbeit, ohne ihre grübelnden Gedanken verbannen zu können. In Karambar machte sich niemand Illusionen über die Regierung. Wer sich auf sie verließ, war verloren. Der Präsident, eine vom Ausland eingesetzte Marionette in der albernen Mischkleidung aus verschiedenen Trachten einiger Landesstämme, redete ab und zu von der Notwendigkeit, etwas für die arme Bergbevölkerung zu tun, doch alles sah danach aus, als könnte er seine Herrschaften von dieser Notwendigkeit nicht überzeugen – falls er es überhaupt versuchte. So blieb alles beim Alten. Vor einiger Zeit war manches geändert worden, nachdem die ersten Flugzeuge der Briten und der Deutschen, vor allem jedoch der US-Amerikaner über den Bergen erschienen waren. Zunächst waren sie verschwunden, doch bald wiedergekehrt. Vielfach mit Hubschraubern, die keine Landebahn benötigten. Rasch war eine Militärinvasion daraus geworden. Mit ihr war eine neue Händlerschaft erstarkt, die nach allmählicher Verdrängung der bisherigen Aufkäufer in den Tälern wohnte und meist für die Kabuler War Lords und Kriegsgewinnler oder andere Schieber arbeitete. Diese neuen Händler sprachen englisch und trugen saubere, frisch gebügelte Uniformen. Sie brachten in ihren Flugmaschinen Säcke und Kisten mit erstaunlichen Dingen noch in den letzten Winkel des Landes: von der Taschenlampe mit eingebauter Wasserwaage über den Zimmerspringbrunnen bis zum Modell eines Hexenhäuschens, und die Bergbewohner fanden es günstig, dass sie ihr Rohopium nicht mehr mühsam über die halsbrecherischen Pfade in die Täler transportieren mussten.
Es hatte den Anschein, als sei der Wohlstand in die Berge eingezogen. In den Lehmhäusern brannten am Abend helle Benzinlampen, die Kinder aßen Fleisch aus Dosen und tranken Milch, die als Pulver geliefert wurde. Sie naschten von dem Zuckerwerk, das die Fremden verteilten, und die Frauen trugen bunte Kattunkleider. Hier und da spielte ein Radio, flimmerte ein Fernsehgerät. Die Männer hatten Feuerzeuge und Digitalarmbanduhren. Das war jedoch nur eine Weile so gegangen. Heute luden die Fremden kaum anderes aus als Waffen, und die waren für die Leute in den Bergdörfern nutzlos. Zwar verfügten die Männer in Karambar wohl über Jagdflinten, meist sehr alte Exemplare, und sie freuten sich, wenn sie sie gegen neuere Modelle tauschen konnten. Wozu jedoch sollten sie Maschinengewehre oder Granatwerfer brauchen?
Das Problem löste sich vorerst dadurch, dass bunt zusammengewürfelte Haufen von dozds aus dem nordwestlichen Pakistan über die Grenze kamen. Angehörige der Taliban, die seit ihrem Machtverlust wieder Kleinkriege gegen die eigene Staatsmacht im Lande führten. Für sie waren Maschinengewehre und Granatwerfer nützlich. Sie bezahlten mit Opium dafür. In Karambar lagerten in den Erdgruben unter den Lehmhäusern wochenlang Plastiksäcke, gefüllt mit der braunen Opiummasse, bis die Fremden sie holten und wieder Maschinengewehre dafür brachten sowie Handgranaten, Panzerfäuste und Munition. Nahrungsmittel gab es nur noch selten, die waren angeblich knapp geworden. Nach und nach war Karambar, wie viele andere kleine Gebirgsdörfer, zu einer Umschlagstelle geworden: Waffen gegen Opium. Was die Kinder von Karambar essen sollten, kümmerte die Fremden nicht. Dennoch würde es bald im Dorf eine Besserung geben. Mir Khaibar, der qariadar, der Dorfälteste, war zusammen mit Jalaluddin, dem Onkel des Mädchens Sanaubar, nach Faïzabad gezogen, vor mehr als zwei Wochen schon. Die beiden Männer hatten alle verfügbaren Kamele mit Rohopium beladen, um es in Faïzabad, der ersten großen Stadt im westlichen Tal, gegen Geld einzutauschen. Dafür würden sie alles kaufen, was das Dorf benötigte: Salz, Mehl, Dörrfisch, geräuchertes Geflügel, Speiseöl, Tee, Zucker, Seife und Zahnpasta.
Vor dem Aufbruch der Karawane waren lange Debatten darüber geführt worden, ob man sie bewaffnen sollte oder nicht. Eine Anzahl junger Männer war bereit gewesen, zum Schutz mitzugehen. Schließlich hatten sie sich entschieden, lieber unbewaffnet aufzubrechen. Gewiss, sie könnten einer der in den Bergen vagabundierenden Horden von al-Qaida-dozds in die Hände fallen. Die Banditen würden die Männer töten und das Opium rauben, um es selber den Fremden zu verkaufen, mit denen sie auf gutem Fuß zu stehen wussten. Doch Mir Khaibar hatte gemeint, mit einigem Geschick ließe sich eine solche Begegnung vermeiden. Ebenso wie Jalaluddin kannte er jeden Steg in den Bergen, und die Karawane würde auf einer Route marschieren, die so gut wie sicher war.
Die Männer müssten indes längst zurück sein. Sanaubar war ein wenig beunruhigt. Sie lebte seit ihrer Kindheit bei ihrem Onkel. Kaka Jalaluddin hatte versprochen, ihr aus Faïzabad eine Haarspange mitzubringen und noquls, die leckeren Konfektstücke in Form von Maulbeeren. Nun war sie neugierig, ob er das auch nicht vergessen hatte. Sanaubars Haar fiel weit über ihre Hüften herab, geflochten in einen dicken Zopf. Wer sie auf dem Mohnfeld sah, das Gesicht voll von verkrustetem Hühnerblut und von Erde, konnte dennoch feststellen, dass sie ein außerordentlich schönes Mädchen war. Sie hatte ein zierliches Kinn, hohe Wangenknochen, ausdrucksstarke rehbraune Augen, dichte, wunderschöne geschwungene Brauen, eine glatte Stirn und in der Mitte gescheiteltes Haar, das wie ein kostbarer Schal ihre Hüften umspielte. Sie bewegte sich mit einer fließenden Grazie, die Blicke auf sich zog. Als der ausländische Pilot der ersten Maschine, die bei Karambar gelandet war, sie angesehen hatte, war er überrascht gewesen. „Was machst du hier in den Bergen? Du gehörst nach Kabul! Dort könntest du mit deinem Aussehen eine Million machen!“
Sanaubar hatte nur lachen können. Der Pilot war von ihrem Lächeln auf den Lippen und von ihren großen dunklen Augäpfeln mit den sanft geschwungenen Lidern so beeindruckt gewesen, dass er ihr mehrmals Geschenke aus Kabul mitgebracht hatte, ein Kleid, ein Stück duftender Seife oder Schokolade. Er hatte lange um sie geworben, und das Mädchen war ihm ausgewichen. Warum hatte er sich so töricht angestellt? Hatte er nicht gemerkt, dass sie nicht mit ihm allein sein wollte? Es ihm offen zu sagen, wäre unhöflich gewesen. Also hatte sich ihr Onkel Jalaluddin eines Tages entschlossen, dem Amerikaner mitzuteilen, dass Sanaubar einem jungen Mann versprochen sei, der Vollwaise war und wie das Mädchen seit seiner Kindheit in Jalaluddins Haus lebte und nach seiner Rückkehr vom Studium in Kabul auch wieder leben würde. Jalaluddin hatte ihre Eltern gekannt. Sie waren kurz hintereinander gestorben am Berghusten, jener tückischen Krankheit, die es seit jeher in den Bergen gab.
Der allein stehende Jalaluddin hatte den Jungen wie einen Sohn aufgezogen. Als er entdeckt hatte, dass Khaled ein außergewöhnlich kluger, begabter Junge war, hatte er durch Vermittlung der Tante Sanaubars, die in Kabul lebte, einen Studienplatz für ihn gekauft. Damals war ihm das noch aus dem Ertrag des Opiumhandels möglich gewesen. Heute war er froh, wenn Khaled in diesem Sommer das Studium beendete, sein Examen machte und nach Karambar heimkehren würde.
Für jeden im Dorf war klar, dass Sanaubar und der Student dann heiraten würden. Und Khaled würde dem Dorf raten können, wie aus der Lage herauszukommen war, in die es die Fremden gebracht hatten.
Auch Sanaubar wartete mit Ungeduld darauf, dass Khaled kam. Sie befürchtete zwar nicht, dass er sich in Kabul ein anderes Mädchen gesucht hatte, denn sie wusste, dass er sich in der großen Stadt nicht wohl fühlte und über manche Lebensgewohnheiten der Leute dort den Kopf schüttelte. Er ging auch Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg, bei einer Demonstration war ihm das Nasenbein eingeschlagen worden. Und Sanaubar sah, dass in Karambar möglichst bald etwas verändert werden musste, wenn das Dorf nicht zugrundegehen sollte. Das Unternehmen, das Mir Khaibar und Jalaluddin begonnen hatte, der heimliche Verkauf von Opium in Faïzabad, würde ein wenig helfen, wenn auch nicht auf die Dauer.
Wie oft sagte Khaled zu ihr: „Dostet darum.“ Und sie bestätigte: „Ich liebe dich auch.“ Er nannte sie: „Meine malika, meine gul.“ Und sie fühlte sich wie eine Königin, wie eine Blume. Und er sagte: „Du bist maghbool wie der Mond.“ Khaled sah sie ehrlich als eine ausgesprochene Schönheit, sie selbst sich allenfalls als apart. Sie habe einen kleinen melancholischen Zug um die zart geschwungenen Lippen, sagte ihr Khaled, und ein heiteres Lächeln in den Augen. Dieser Ausdruck aber könne wechseln, dann sehe er Melancholie in ihren Augäpfeln und das Lächeln um ihren Mund und wieder umgekehrt – je nach ihrer Stimmung und ihrem Befinden. Selten einmal lächelten Augen und Lippen zugleich. Und stets nur, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.
Sanaubar schätzte freilich am meisten an Khaled, dass er sie teilhaben ließ an seinen wissenschaftlichen Forschungen und politischen Ansichten, an seinen Gedanken und Plänen, an seinen Befürchtungen und Hoffnungen. Khaled und Sanaubar gingen liebevoll miteinander um und voller Zärtlichkeit, doch nicht dies, sondern ihre Diskussionen ritzten das Bewusstsein.