Читать книгу Afghanistan Dragon - Norbert F. Schaaf - Страница 6
Оглавление2
Versonnen, mit lächelnden Augen und Lippen, ritzte das Mädchen geschickt eine Mohnkapsel nach der anderen. Ab und zu streckte es sich und schaute nach der Sonne, die nur noch knapp über den Berggipfeln im Westen stand. In einer Stunde würde das Licht fahl werden. Das bedeutete jedoch nichts weiter, als dass die Sonne hinter den Felszacken entschwand, danach dauerte es noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit, und Sanaubar wollte zur Nacht ins Dorf zurück. Sie blieb nicht in einer der aus Zweigen und Lehm errichteten Hütten am Rand des Felsens, wie die meisten anderen Frauen, die sogar ihre Kinder mit hierher genommen hatten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Jalaluddin und Mir Khaibar heute noch zurückkehren würden, da wollte sie zu Hause sein.
Sie wunderte sich, als sie einen Mann aus der Schlucht herauskommen sah. Die Männer arbeiteten jenseits des Berges, auf einem Steilhang, an dem das Ernten noch schwerer war als auf dem leicht aufsteigenden Feld. Es war noch zu früh, dass die Männer sich einstellten, um gleich ihren Frauen den Abend zu Hause zu verbringen. Doch der Mann rief schon von weitem ihren Namen.
Sanaubar steckte das Messer weg und trat vorsichtig, so dass sie möglichst keine der Mohnpflanzen knickte, vom Feld auf den schmalen Pfad, der zur Schlucht führte, und lief dem Mann entgegen. Als sie vor ihm stand, sagte er ein wenig betreten: „Geh ins Dorf zurück, hamshira jo!“
„Dann ist die Karawane gekommen, ja?“
„Jalaluddin ist da.“ Er drehte sich um und ging.
Sanaubar wunderte sich zwar, dass er so bedrückt erschien, doch lief sie los, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Auf dem Weg summte sie eine alte Hazara-Weise über Tulpenfelder vor sich hin, eine afghanische Melodie, die immer dann in ihrem inneren Ohr aufklang, wenn sie an ihre Liebsten dachte – Khaled und Shanzai.
Drei Dutzend Häuser, an den Rändern eines kleinen Plateaus verteilt, bildeten das Dorf Karambar. Ein wenig niedriger Wald stand ringsum, ein paar Flächen waren mit Büschen und Gestrüpp bewachsen, und dazu gehörten die liebevoll angelegten kleinen Felder mit Trockenreis, Gemüse, Erdnüssen, Minze und Kartoffeln, auf deren Gedeih und Ernte so wenig Verlass war wie auf ausreichend Wasser. Die Häuser verdienten ihren Namen kaum, es waren meist recht primitive Hütten aus gebrannten Ziegeln, mit einem Lehm- und Strohgemenge beworfen. Die Lehmhütte, in der Sanaubar geboren war und ihr ganzes Leben gewohnt hatte, war spärlich eingerichtet, aber sauber, beleuchtet von zwei Petroleumlampen. Es gab ein unteres Stockwerk für die Männer, ein oberes für die Frauen. Matratzen oder Matten lagen an allen Seiten der Räume, dazwischen abgetretene Herati-Teppiche mit ausgefransten Rändern, in je zwei gegenüberliegenden Ecken standen dreibeinige Stühle und kleine Holztische. Die Wände waren nackt bis auf ein angenageltes Regalbrett und einen Wandteppich. Der im Frauenstockwerk hatte eingenähte Perlen, die die Worte Allah-u-akbar formten, ein saughat, ein Souvenir von einer Auslandsreise des Hausherrn. Ein paar Töpfe und Pfannen hingen oben an Pfosten, ein Bild des Präsidenten, es fanden sich gewebte Matten und allerlei selbstgefertigte Gebrauchsgegenstände. Sogar ein batteriebetriebener chinesischer Schwarzweißfernseher war vorhanden, noch aus der Zeit, als die Fremden brauchbare Dinge gebracht hatten, oder aus Cola-Büchsen gefertigte Trinkgefäße, und Salzbehälter, die ursprünglich Konservendosen gewesen waren. In dieser kleinen Hütte war Sanaubar an einem feuchtkalten Wintertag Ende der Neunzehnhundertachtziger Jahre zur Welt gekommen und ihre Mutter kurz nach der Geburt verblutet.
Verfolgte man die Geschichte Karambars bis zu ihrem Anfang zurück, fand man den Namen dieser Ortschaft schon um jene Zeit erwähnt, da es weit im Norden, in den Tälern jenseits des Oxus, den Mongolenheeren des Dschingis Khan gelang, neue Reiche zu erobern. Das war an die achthundert Jahre her. Von da an waren die Völker aus den von den Mongolen eroberten Gebieten südwestwärts geströmt, und sie zogen auch über die Berge durch das Gebiet um Karambar. Viele von denen, die heute in den großen Städten des Landes wohnten, die Staat und Wirtschaft verwalteten, waren Abkömmlinge dieser Zugewanderten.
Jene, die immer in den Bergen gewohnt hatten, waren dort geblieben. Die Gründung des Reiches der Paschtunen hatten sie aus der Entfernung verfolgt. Gewiss, sie begrüßten es, dass Afghanistan, das „Land der Tartaren“, erstarkte und dass es sich seiner Nachbarn erwehren konnte. Doch im Grunde veränderte das nicht ihr Leben. Zuweilen gab es Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, die ebenfalls in den Bergen angesiedelt waren, den Shinwari etwa. Doch man einigte sich immer wieder. Es gab Zeiten, da leistete man sich sogar Beistand, wenn die Steuereintreiber aus dem Süden in die Berge kamen und allzuviel badraga, den erpressten Binnenzoll, forderten oder auch bei den Einmärschen fremder Truppen, gleich ob aus Großbritannien, Russland, den USA oder der EU.
Für die Bewohner der großen Städte im Süden und Westen war die Hochgebirgsbevölkerung immer eine unbekannte Größe gewesen. Man war daran gewöhnt, dass aus ihrem Gebiet das Opium kam, jene aus dem Mohn gewonnene Droge, die in der Geschichte Asiens schon oft eine Rolle gespielt hatte. Die Bergbewohner selbst genossen sie bislang nur sparsam, sie kannten ihre Wirkung. Meist nahmen sie sie gegen Schmerzen, oder sie kauten die zähe, braune Masse gegen den Hunger. Die modernen Dealer, die Drogenbarone, hatten sich gemäß der ihnen eigenen Geschäftstüchtigkeit nach und nach in den Tälern der Berge angesiedelt und traten als Zwischenhändler auf. Hin und wieder gab es Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den lokalen Machthabern, den Großgrundbesitzern und den Kriegsherren oder War Lords, die selbst das Geschäft machen wollten. Der Mohn blühte dessen ungeachtet weiterhin in den Bergregionen, und der kalte Wind wog die Blumen wie sanfte Ozeane, während in den Kapseln der weiße Saft heranreifte, bis die farbigen Blütenblätter schließlich abfielen und die Dorfleute mit ihren kleinen Messern kamen. Es gab in Afghanistan Millionäre, die ihren Reichtum einzig dem Opium verdankten. Von den Bergbewohnern indes wurde niemand reich. Selbst ein bescheidener Wohlstand blieb aus. Man fristete sein Leben, das war alles.
Nun hatten die Fremden, voran die US-Amerikaner, die Kabuls Marionettenregierung ins Land gerufen hatten, den Drogengeschäften freien Lauf gelassen. Uniformierte, die mit Flugzeugen kamen, verdrängten die afghanischen Aufkäufer auf die Balkan- und die Russlandroute, teils mit Gewalt, teils mit besseren Preisen. Sie wollten nicht nur ein bisschen von der braunen Substanz kaufen, die durch komplizierte Destillationsprozesse in Heroin verwandelt werden konnte – sie wollten möglichst ganze Ernten. Und sie wandteen seltsame Mittel an, um ans Ziel zu gelangen. Sie bestachen, sie täuschten, sie überredeten, sie zwangen. Afghanistans Regierung, die auf ihrem Territorium ein halbes Dutzend Luftstützpunkte der Vereinigten Staaten hatte errichten lassen, duldete sie stillschweigend. In vielen Fällen machte sie sich zum Helfer der US-Amerikaner. Der Unmut darüber wuchs. Doch Amerikas Abgesandte verfügten in diesem Lande über so viel Macht, dass sie den Unmut nicht zu fürchten brauchten, jedenfalls nicht im Augenblick.