Читать книгу Afghanistan Dragon - Norbert F. Schaaf - Страница 8
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Beim steilen Landeanflug hinter dem eisbedeckten Hindukusch auf Kabul International Airport nahmen die Passagiere neugierig und skeptisch die weite Stadtlandschaft der afghanischen Kapitale in Augenschein. Nach den gefältelten Bergketten im Karakulmuster, eine steinerne Springflut eng rollender Felswellen, sahen sie nun in den Schutt geschrammte Strukturen, alle Ton in Ton mit Siedlungsumrissen in erstarrten, grundlegenden, naturnahen Formen: sandbraune Stadt in einer sandbraunen Ebene zwischen sandbraunen Bergen in einem sandbraunen Dunst aus Staub. Die Karrees der Gebäudeblöcke schienen unversehrt, wie über Meilen ausgerollter, grobtexturierter Filzteppichboden. Umfassungsmauern standen neben Bombenkratern, Einzelwände neben Schürfblessuren. Ein paar leuchtende Farbtupfer stachen hervor, die Karos der Grünflächen und Parks. Beim Näherkommen wirkte die Haut der Erde indes windelweich geprügelt, schwerverletzt und großflächig verschorft.
Den umkämpften Airport Kabuls flankierten Flugzeugwracks, demolierte Helikopter, baufällige Hangars, Autofriedhöfe und verlassene militärische Stellungen.
In den ersten Morgenstunden des neuen Tages landete die vierstrahlige Boeing problemlos. Sie kam nach stark klimaschädlichem, Zirruswolken bildendem Langstreckenflug über Hawaii und Bangkok aus den Vereinigten Staaten. Die schwere Maschine rollte langsam aus und blieb unweit der Abfertigungsgebäude stehen. Noch einmal heulten die Düsentriebwerke auf, bevor sie abgestellt wurden. Die kleinen Karren mit den Gangways fuhren heran, die Türen wurden geöffnet, ein Strom von Reisenden quoll heraus: Journalisten und Geschäftsleute, Soldaten und ausländische Zivilisten mit mürrischen Gesichtern. Begrüßt von Transparenten mit den Konterfeis von Präsident Karzai, Kriegsheld Massoud und Siemensvorstand Kleinfeld: Welcome to Kabul. Der Flug war ein wenig unruhig gewesen. Man schätzte dies nicht, in der Nacht wollte man in seinem Sessel zurückgelehnt schlafen. Doch nun schien alles vergessen zu sein.
Kabuls Flughafen war ein reiner Repräsentationsbau ohne intaktes Innenleben. Die Passagiere drängten sich durch dunkle Gänge, vorbei an abgeschälten Wänden mit offenliegenden Leitungs- und Rohrsystemen. Es gab provisorische Schalter und ein asthmatisches Förderband, das die Gepäckstücke durch ein Mauerloch in die völlig überfüllte Wartehalle spie. Schmale Neonröhren sprühten asymmetrisch-flatteriges, nervtötendes Licht gegen unverputzte Ytong-Blöcke und auf überreizte Passagiere.
Die Zivilisten fanden sich in Grüppchen zusammen, Ausländer, fast ausnahmslos. Sie würden in schlecht klimatisierten Zimmern unmoderner Hotels wohnen, und nach zwei, drei Wochen würden manche zurückfliegen, mit Kamerachips voller Schnappschüsse, mit ein oder zwei nachgemachten „echten“ Seidenteppichen oder Antiquitäten, mit einem Lapislazuli-Kästchen, einem Talisman gegen den bösen Blick, einige auch mit einer Erkrankung, die durch Penicillin zu heilen war. Das Land verdiente an den Besuchern. An den Soldaten verdiente es auf andere Weise. Meist waren es Angehörige der Einheiten, die auf den Stützpunkten stationiert waren, Piloten, Ranger, GIs. Der Krieg war scheinbar vorbei, doch die Regierung der Vereinigten Staaten betrachtete Afghanistan weiterhin als einen großen, unversenkbaren Flugzeugträger in Mittelasien, und besonders die US-Amerikaner blieben hier, solange das irgend möglich war. Sie zahlten einen hohen Preis dafür. Doch das Geschäft war auf ihrer Seite. Afghanistan nahm eine erhebliche Menge jener Konsumgüter auf, die US-Amerika in Massen erzeugte und die anderswo nur noch schwer abzusetzen waren. Wenn man dafür Stützpunkte erkaufen konnte, so war das ein guter Handel. Aber selbst das fiel schon nicht mehr so sehr ins Gewicht. Ein großer Teil der einheimischen Industrie befand sich ohnehin in den Händen US-amerikanischer Monopole, ganz gleich ob sie Waschpulver herstellten, Kattun oder Coca-Cola. Diese Stadt wirkte im Kern wie ein Anhängsel der Vereinigten Staaten. Die Herrschaften, die sie regierten, garantierten das. Was das Land betraf, so sah das ganz anders aus.
Der kleingewachsene, untersetzte Mann, der als einer der letzten aus der Boeing gestiegen war und sich ein wenig verloren vorkam, während er zur Abfertigung ging, fiel nicht auf. Er war in einen hellen Anzug gekleidet und trug einen leichten Borsalino-Reisehut, der seine Sean-Connery-Halbglatze verhüllte, nicht aber seinen Haarkranz aus silbergrauen Locken. Um den Hals trug er an einem dünnen schwarzen Lederband eine randlose Brille mit leicht getönten Gläsern, so dass sie seine Augen nicht verbargen, aber doch die Farbe der Augäpfel verschleierten. Weniger um seine Augen zu schützen, als vielmehr die seiner Mitmenschen. Seine Pupillen waren nämlich von zweierlei Farbe. Wenn er in den Spiegel blickte, kam er sich vor wie ein Husky; das rechte Auge war rehbraun sanft, das linke azurblau weichherzig. Er hatte indes schon des Öfteren erfahren, dass sich manch ein Zeitgenosse irritiert fühlte. In diesem Land der Dschinns und des Aberglaubens würde mancher sich wohl mehr als irritiert fühlen. Der Mann kratzte sich den graumeliert spießenden Dreitagebart, er nahm begierig die Szenerie auf, die sich ihm darbot. Er reiste offenbar einzeln, und er hatte wohl auch keine Reisebekanntschaft gemacht, denn er schlenderte für sich allein zur Abfertigung, wo er nach einigem Warten seinen Pass vorlegte.
Der Beamte las laut den Namen: „Professor Beat Hodler?“
Der kleine Mann nickte.
„Arzt?“
Wieder nickte er. Der Beamte blätterte in dem Pass, fand das Visum und stempelte es ab. Mit einem freundlichen Lächeln übergab er dem Mann das Dokument zurück und bedeutete ihm, sich zur Zollabfertigung zu bemühen, einem niedrigen Tisch, der viele Meter lang war und auf den die Fluggäste ihre Gepäckstücke wuchteten. Hodler hatte keine Eile. Er stellte sich neben seinen Rollkoffern auf und wartete. Er blickte einzelnen kleinen Grüppchen vermummter Frauen nach, die indes polychrome Armreifen und goldene Ringe trugen und phantasievoll gemusterte mit Borten versehene Burkas mit eingewebten Edelsteinen. Ob es der Versuch war, Individualität herzustellen, Harnisch zu beseelen, oder lediglich Zeichen für das Vordringen der globalen Märkte zu den Körpern auch der afghanischen Frauen, sogar den verschleierten? Ein US-Amerikaner mit einem Gerätekoffer schlenderte vorüber, auf seiner Brust der T-Shirt-Aufdruck TEARS DOWN GROUP. Ein Beamter erschien und blickte Hodler fragend an, worauf der Schweizer seinen Gepäckschein reichte und auf die beiden nicht gerade großen Koffer deutete. Der Beamte erbat nochmals den Pass, erkundigte sich wiederum, ob Hodler Arzt sei, und als ihm das bestätigt wurde, legte er eine Hand auf einen der Koffer und fragte: „Berufsgepäck?“
Hodler verneinte.
Der Beamte wollte wissen: „Führen Sie Medikamente mit?“
„Kopfschmerztabletten.“
„Alkohol, Drogen?“
„Nein.“
Der Beamte setzte ein Lächeln auf, während er Pass und Gepäckschein aushändigte. Mit einem Stückchen Kreide machte er kleine Kreuze auf die Koffer, bevor er Hodler höflich einen angenehmen Aufenthalt wünschte. Hodler bedankte sich ebenso freundlich. Seine Koffer waren nicht schwer. Er rollte sie mühelos aus der Halle. Auf dem Vorplatz mit seinem breiten Sicherheitsabstand zu allen, die hier auf Heimkehrer warteten, blickte er sich suchend um. Unter den Werbebannern für Handys und neue Suppen sah er ausgemergelte Gestalten, die Gesichter von Entbehrung gezeichnet, die jedoch nach innen zu glühen schienen, mit hungrigen, stechenden Augen. Menschen mit solchen Augäpfeln vermochten ihr Leben in die Haut anderer einzubrennen. Die Männer schauten mit geschlossenen Mündern. Sie hatten allen Grund zu Misstrauen gegenüber den Ankömmlingen, die alle etwas wollten: ihren Profit, ihren Einfluss militärischer und politischer Art, ihr Land, ihre Frauen, ihre Würde. War je etwas Gutes gekommen von draußen, seit sie auf diese Welt gekommen waren?
Hodler entdeckte die Reihe Taxis, japanische und nordamerikanische Autos. Einer der Fahrer lief herbei und verstaute die Koffer, während Hodler einstieg.
„Man hat mir das Hotel Oriental empfohlen“, sagte der Professor, als der Fahrer sich hinter das Lenkrad klemmte. „Ist es ein vernünftiges Hotel?“
Der Fahrer war ein noch junger Afghane, der sehr kurz geschnittenes Haar trug und überhaupt den Eindruck eines Soldaten machte, der gerade ausgemustert worden war und in einem neuen Beruf zu arbeiten begann. Er wiegte den Kopf und antwortete: „Oriental ist ein gutes Hotel, Mister. Nicht eins von den teuersten, aber sauber und modern.“
„Klimatisiert?“
„Natürlich! Liegt in der Pul-e-Mahmood Khan. Geschäftsreisende wohnen meist dort.“
„Dann ist es richtig für mich. Fahren Sie mich bitte dorthin.“ Hodler blickte den Fahrer verwundert an, da dieser den Motor noch nicht anließ, sondern ihn fragend ansah. „Ist noch etwas?“
Der Fahrer hatte längst begriffen, dass dieser kleine Mann zum ersten Mal in Kabul war. Er würde ihn trotzdem nur in vertretbarem Ausmaß betrügen. Nachdenklich sagte er jetzt: „Pul-e-Mahmood Khan, das wären dann sechzig Afghani, Mister...“
„Aah“, machte Hodler. Es war offenbar üblich, sich vor der Fahrt über den Preis zu einigen. Er rechnete schnell, ehe er anbot: „Ich habe noch kein afghanisches Geld eingewechselt. Würden Sie mit drei Euro zufrieden sein?“ Immerhin lag der Flughafen nur etwa drei Kilometer nordöstlich der Hauptstadtperipherie.
Der Fahrer startete sogleich. „Damit bin ich sehr zufrieden, Mister.“ Ein Fahrgast, der nicht kleinlich war. Eigentlich wären zwei Euro für die Fahrt in dem nicht mehr ganz neuen und auch nicht gerade modernen Wagen genug. Während Hodler sich zurücklehnte, empfahl ihm der Fahrer: „Mister, wenn Sie einen bestimmten Tipp wollen, sagen Sie es bitte. Einen guten Stadtführer? Wir haben hier sehr gute Badehäuser mit Massage.“
Hodler lächelte. Er kannte das aus den Reiseführern, die er gelesen hatte. Doch er war nicht gekommen, um in einem hamam zu schwitzen und sich massieren zu lassen. Ein Restaurant, das war schon wichtiger.
Der Fahrer riet ihm: „Marco Polo oder Haji Baba, das sind die Restaurants mit der besten einheimischen Küche. Wenn Sie chinesisch essen wollen, empfehle ich Ihnen den Golden Dragon oder das Great Shanghai. Beide in der Kocheh-Morgha, der Chicken Street, wo Sie auch Teppiche und Antiquitäten erwerben können – alles sehr billig und bestimmt echt. Ein Taxi fährt Sie von Ihrem Hotel in ein paar Minuten dorthin. Bezahlen Sie nicht mehr als hundert Afghani, das ist reichlich!“
„Danke“, sagte Hodler. Hühnerstraße, dachte er, das klingt fast schon abgeschmackt. Der Chauffeur sprach ein einigermaßen gutes Englisch, doch das war wohl in dieser Stadt nichts Außergewöhnliches. Hodler blickte aus dem Fenster. Seine Augen klaubten automatisch all die Merkmale auf, die stützten, was vorab bekannt war: Ruinen, Kreuze, Grabhügel mit wehenden Flaggenfähnchen, Waffen, Einschusslöcher, Brandspuren, ausgebrannte Panzer, gestrandetes schweres Gerät und am Straßenrand einbeinige Kinder, einarmige junge Männer, minderjährige Witwen.
Die Stadt begann mit niedrigen Behausungen, doch dahinter türmten sich hohe Betonklötze in den Sandfarben von Schmirgelpapieren der neuen Bauten auf. Der Gegensatz konnte nicht größer sein: Eine riesige, neuerrichtete Moschee mit integrierten Schulgebäuden neben Glaspalästen für Banken, Hotels und Hochzeitshallen sowie einem gerade aufgebauten überdimensionierten Shopping-Center mit westlichem Interieur und der entsprechend modisch gestylten, vielfach weiblichen Kundschaft. Manchmal hatten die Architekten diesen modernen Bauwerken ein paar Arabesken verliehen, die daran erinnern sollten, dass dies ein orientalisches Land war. Ein Anblick, der Hodler nur bedingt beeindruckte.
Spürfahrzeuge donnerten vorbei, Panzer, Jeeps, Geländewagen der Schutztruppen und Kleinbusse der Nicht-Regierungsorganisationen. Ab und zu passierten sie knallbunte einzelne Zapfsäulen, die Tabernakel der Epoche des Klimawandels. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sich so oder so ähnlich der Autor Roger Willemsen in dem Bericht seiner afghanischen Reise ausgedrückt.
Vor dem Hotel half der Fahrer ihm, die Koffer zu tragen. Hodler bedankte sich freundlich, doch der Mann wehrte den Dank ab. Er wünschte einen guten Aufenthalt und entfernte sich, zufrieden mit sich und dem unerfahrenen Fahrgast, dem er trotzdem nicht so viel Geld abgenommen hatte, wie es vielleicht möglich gewesen wäre.
Hodler schrieb sich in das Gästebuch ein und erstand die Kopie eines Stadtplans, während ein Hoteldiener in burgunderroter Polyesterlivree, weißem Hemd mit Ansteckkrawatte und steifer Schirmmütze bereits mit seinem Gepäck im Treppenaufgang verschwand, vorbei an einem mit einer Kalaschnikow bewaffneten Guard. Der Fahrstuhl war wohl wegen Stromausfall außer Betrieb. Der junge Mann, der Hodler abfertigte, nickte höflich, als der Gast sich erkundigte, ob er ihm auf der Karte eine paar Wege zeigen könne.
„Ja, sehr freundlich. Das Büro für industrielle Kooperation?“ fragte Hodler. „Es soll in der Straße fünfzig, der Sarak-e-Mehmana liegen.“
„Straße fünfzehn“, korrigierte der junge Mann lächelnd. Er kannte nicht nur die Straße, sondern auch dieses Büro, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. „Hier, nicht weit vom Kriegsopfer-Hospital, Sir.“
Unvermittelt fiel der Strom aus. Kommentarlos klappte der Portier sein Handy auf und orientierte sich am kalt-blauen Licht der Displays. Das Gespräch ging weiter.
„Und dann“, sagte Hodler, „suche ich noch einen Herrn, der hier eine Fabrik für Seidenfasern besitzt. Leider weiß ich die Straße nicht, nur seinen Namen. Mister Spencer Wright.”
„Oh, Mister Wright!“ Der junge Mann machte mit seinem Bleistift ein Kreuz auf die Karte. „Natürlich ein bekannter Name. Große Fabrik für echte Seide, ja Sir. Hier finden Sie ihn. Darulaman-Boulevard, nicht weit vom Hafis Park. Möchten Sie seine Telefonnummer, Sir?“
„Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden“, gestand Hodler erleichtert.
Der junge Mann schrieb eine Nummer aus dem Telefonverzeichnis ab und gab Hodler den Zettel. „Sie können von Ihrem Zimmer aus telefonieren, Sir.“
Auf seinem Zimmer öffnete Hodler sogleich die Koffer und entnahm einen neuen, hellen Anzug. An der Wand hing ein eingeschweißter DIN-A4-Computerausdruck mit Touristen auf Liegestühlen vor Bambushütten darauf. Unten aufgedruckt stand: AFGHANISTAN. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke aus mit fetten roten Rosen bedrucktem Velours. Durch das aus Europa oder China importierte Plastikfenster blies der stetige Kabuler Wind sandfarbenen Staub herein, die Sommersonne warf sandgefärbte Strahlen hindurch. Nach dem Duschen bestellte Hodler einen Imbiss aus Sandwiches und Früchten. Danach hatte er das Bedürfnis, ein Stündchen zu schlafen, und er schob den Besuch im Büro für industrielle Kooperation auf bis zum frühen Nachmittag. Den in der Mitte des Zimmers an der Decke befestigten Ventilator, der den Zusatz „vollklimatisiert“ im Hotelprospekt rechtfertigen sollte, stellte er ab. Er schlief kaum eine Stunde, doch als er aufwachte, fühlte er sich ausgeruht.
Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er noch Zeit hatte. Er las Mitschriften aus TV-Gesprächsrunden, die er sich aus dem Internet ausgedruckt hatte, von Aussagen des langjährig orienterfahrenen Deutsch-Franzosen Pierre Scholl-Latour, der sagte, es gehe den großen amerikanischen Konsortien nicht nur darum, die Erdölförderrechte in Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan zu erwerben, weswegen sie sich überhaupt erst wieder für Afghanistan interessierten, sondern auch darum, den Transport des „schwarzen Goldes“ sicher und kostengünstig unter eigene Kontrolle zu bringen. Den US-amerikanischen Prospekteuren sei daran gelegen, die russischen Leitungen und die iranische Route zu umgehen. Stattdessen hätten sich die texanischen Investoren für den Bau einer eigenen Pipeline durch Afghanistan entschieden. Nun gelte es, diese Trasse politisch und militärisch zu stabilisieren. Nicht aus Dankbarkeit für ihren heldenhaften Kampf gegen den Sowjet-Giganten nehme man sich der Afghanen wieder an, sondern „aus schnödem Kalkül und merkantiler Habgier“.
Ein Leichnam herrsche über die menschenwimmelnde, hässliche Metropole Kabul, die vom Krieg so grausam verstümmelt worden sei. Gerade weil die Machtverhältnisse an der Spitze Afghanistans extrem verworren seien, gewinne der tote Massoud eine so überdimensionale Bedeutung. Gewiss gebe es da den Interimspräsidenten Hamid Karzai, einen Paschtunen aus vornehmem Geschlecht, der der Königsfamilie aus Kandahar nahestehe. Karzai sei in der Stunde des großen Gedenkens an den Tadschiken Massoud in die USA abgereist. „Dort gehört er auch hin“, sagten die Afghanen; denn längst sei dieser ehemalige Pfründenempfänger der texanischen Öl-Firma Unocal in den Augen des Volkes zur US-amerikanischen Marionette geworden, der verlängerte Arm der USA. In Washington habe man den extravagant gekleideten Feudalherrn, dessen Anhang weggeschmolzen sei wie das Gletschereis im Klimawandel, nachsichtig als „Gucci-Mudschahid“ belächelt. In Kabul sei man weniger tolerant. Dort wisse man, dass die absurde Versammlung auf dem Petersberg bei Bonn in Deutschland, die ihn im Herbst 2001 zur tragenden Figur des Post-Taliban-Regimes proklamiert habe, eine fremdgesteuerte Farce gewesen sei, bei der die CIA die Strippen gezogen habe. Der afghanische US-Bürger und Businessman Zalmav Khalilzad habe von Anfang an als Graue Eminenz und als Vertrauensperson des US-Präsidenten über entscheidenden Einfluss verfügt und seinen Freund Karzai ins Spiel gebracht. Die sogenannte Wiederwahl Karsais sei eine neuerliche Farce, die vor brutalen Repressalien zum Leidwesen des Wahlvolkes und massivem, dummdreisten Wahlbetrug nicht zurückschrecke.
Hodler überflog einen Artikel, herauskopiert aus dem deutschen Polit-Magazin „Spiegel“, worin der US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld – noch einer, dachte Hodler, der sein Land am Hindukusch verteidigt – Afghanistan „eine ziemliche Erfolgsgeschichte“, nannte, die jedoch „leider weitgehend unbemerkt bliebe“. Auch von mir, dachte Hodler mit Blick aus dem Fenster. In den nächsten Kreisverkehr fuhren US-Panzer mit gekreuzten Sternenbannern und ließen das Geschützrohr in alle Richtungen kreisen.
Eine weitere Kopie enthielt Äußerungen Hekmatyars: Der Kommandeur des Hezb-e-Islami verglich die Aktion der USA mit dem Fehlschlag des sowjetischen Expansionsstrebens und sogar mit der gescheiterten Eroberungspolitik Hitlers. „Ich bin davon überzeugt“, so erklärte er wörtlich, „dass der begonnene Widerstand gegen die US-Truppen von Tag zu Tag intensiver wird. Die Bush-Administration war bemüht, Informationen über die ablehnende Haltung der Afghanen gegenüber der amerikanischen Präsenz, über den Zustand des Krieges, über die Höhe der eigenen Verluste und über die ständige Zunahme der Angriffe auf ihre militärischen Basen der eigenen Öffentlichkeit vorzuenthalten. Auf Dauer konnte diese Täuschung jedoch nicht von Erfolg sein. Der Druck der amerikanischen Bevölkerung auf die Bush-Administration wird zunehmen und sie zwingen, ihre Soldaten aus Afghanistan abzuziehen.“
Über die Taliban äußerte sich Hekmatyar nuanciert. Die „Koranschüler“ hätten selbst in abgelegenen Regionen für eine Sicherheit gesorgt, die heute nicht einmal im Zentrum der Hauptstadt Kabul vorhanden sei. Sie seien auch – im Gegensatz zu den heutigen Behörden – energisch gegen die Opiumproduktion vorgegangen. Aber diese Bewegung habe eine völlig unzureichende Kenntnis des Islam besessen und sich durch ihr rücksichtsloses, grobes Auftreten unbeliebt gemacht.
Das Hochkommen von al-Qaida betrachtete er als eine zwangsläufige Folge der US-amerikanischen Bevormundung der arabischen Länder und der verfehlten Palästinapolitik Washingtons. „Die Auflehnung gegen die US-Hegemonie“, so führte Hekmatyar aus, „benötigte eine Führung, um sich in eine lebendige Organisation umzuwandeln.“
Für die in Kabul stationierten deutschen Soldaten der ISAF-Brigade war folgende Aussage von Bedeutung: „Während die Truppen der USA und ihre Verbündeten gegen das afghanische Volk einen ungerechten Krieg führen und täglich Dutzende wehrloser Afghanen ihr Leben verlieren, spielt die sogenannte `International Security Assistance Force´ die Rolle einer schmerzlindernden Tablette. ISAF legitimiert die verbrecherischen Ziele amerikanischer Kriegführung. Die amerikanischen Einheiten bezeichnen sich ebenfalls als Friedenstruppe. Die Afghanen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Präsenz ausländischer Soldaten in ihrem Land keinerlei Garantie für Frieden und Sicherheit bietet, sondern dass sie Unfrieden und Unsicherheit stiftet. Die Funktion von ISAF dient der Konsolidierung einer verräterischen Räuberbande, die ihre Willkürherrschaft über das afghanische Volk ausübt.“ Erst nach Ausschaltung sämtlicher ausländischer Einflüsse, so meinte der Verantwortliche der zur Zeit stärksten Widerstandsbewegung am Hindukusch, seien die Probleme Afghanistans auf dem Wege dauerhafter Verständigung und Versöhnung zu lösen.