Читать книгу Einführung in die Wirtschaftsethik - Norbert Herold - Страница 10
1.2 Angewandte Ethik – Konkrete Ethik
ОглавлениеBevor wir auf den besonderen Bezug der philosophischen Ethik zum Bereich der Wirtschaft eingehen, muss zuvor noch die Eigenart von Bereichsethiken wie z.B. der Medizin-, der Bio-, der Tier-, der Wissenschafts- oder eben auch der Wirtschaftsethik zur Sprache kommen. Zunächst einmal kann man feststellen, dass es sich bei diesen sogenannten Bindestrich-Ethiken um sehr junge Disziplinen handelt, die unter dem Oberbegriff Angewandte Ethik oder auch Konkrete Ethik zusammengefasst werden (vgl. [I–3]; [I–4]; [I–5]; [I–6]).
Allgemeine Ethik versus Angewandte Ethik
Von der allgemeinen philosophischen Ethik unterscheidet sich Angewandte Ethik insofern, als es bei ihr weniger um die Begründung und Systematisierung von moralischen Urteilen, Normen und Prinzipien geht, sondern eher um deren Anwendung und Umsetzung im konkreten Handlungskontext. Gleichwohl führt das Attribut „angewandt“ in die Irre. Es ist nicht mit der bloßen Anwendung im Prinzip feststehender allgemeiner moralischer Normen getan. Daher bevorzugen andere Autoren z.B. die Bezeichnung: Konkrete Ethik (vgl. [I–7]; [I–8]).
Neue Herausforderungen der Angewandten Ethik
Im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts eröffnen sich erstens ständig neue Handlungsmöglichkeiten, für deren Bewertung die herkömmliche Ethik keine ausreichenden Kriterien zur Verfügung stellt. Im Bereich der Medizinethik etwa werfen Phänomene wie In-vitro-Fertilisation, künstliche Befruchtung, Klonierung oder Organtransplantation neue Fragen nach dem Beginn, dem Ende oder dem individuellen Wert des Lebens auf. Im Bereich der Wirtschaftsethik entstehen im Zuge der Globalisierung neue Fragen nach der Zurechenbarkeit von Verantwortung und der Zumutbarkeit von moralischen Ansprüchen. Die Komplexität der weltweiten ökonomischen Zusammenarbeit lässt Wertschöpfungsketten entstehen, die sich über mehrere Kontinente erstrecken und Kulturkreise mit sehr unterschiedlichen Wertvorstellungen umfassen. Multinationale Konzerne haben intern mit Kommunikationsproblemen zu kämpfen, wenn sie z.B. versuchen, ihre Vorstellung vom selbständig agierenden, kritischen und dennoch loyalen Mitarbeiter in den verschiedenen kulturellen Umfeldern zu etablieren. Sie stehen vor Herausforderungen, die frühere Generationen nicht kannten. Die neue Art der Probleme, mit denen sich die Angewandte Ethik beschäftigt, resultiert dabei nicht ausschließlich aus der technischen Entwicklung, sondern auch aus dem Wertewandel und den Bewusstseinsveränderungen, die mit den neuen Möglichkeiten verbunden sind. Vieles, was frühere Generationen als naturgegeben, als schicksalhaft oder als Werk eines göttlichen Willens hinnahmen, stellt sich heute als ein von Menschen gemachtes Risiko dar und wird damit Gegenstand moralischer Bewertungs- und Entscheidungsprozesse. Zweitens ist wichtig: Die neuen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die als Probleme wahrgenommen werden, betreffen nicht nur einzelne Personen in ihrem Privatleben und in ihrem persönlichen Denken. Weil die ganze Gesellschaft betroffen ist, handelt es sich um öffentliche Probleme. Das bedeutet drittens: Die Probleme können nicht mehr autoritär entschieden werden; eine Lösung ist nur noch unter Berücksichtigung der öffentlichen Meinung und als Ergebnis einer argumentativen Auseinandersetzung denkbar. Das Bestehen einer institutionalisierten Öffentlichkeit in modernen demokratischen Gesellschaften zwingt dazu, moralische Probleme in einer öffentlichen Diskussion zu behandeln. Die Legitimierung von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ist dabei auch auf moralische Argumentation, die mit einem permanenten Prozess der Selbstreflexion verbunden ist, angewiesen.
Wesentliche Punkte haben sich damit gegenüber der herkömmlichen, allgemeinen Ethik verändert (vgl. [I–5], S. 167ff.). Im Mittelpunkt stehen nicht mehr der Einzelne und die Einsicht, zu der er durch einsame Reflexion gelangt ist. In der Regel ist das Subjekt eine Kommission oder Arbeitsgruppe, die eine bestimmte Aufgabe erfüllt, z.B. die Erarbeitung von Richtlinien für die angemessene Besoldung von Managern oder Empfehlungen für deren Verhalten. Als Ergebnis oder Produkt ihrer Arbeit wird ein Gutachten oder die Formulierung von Richtlinien erwartet, die danach beurteilt werden, ob sie brauchbare Antworten auf die zu lösenden Fragen enthalten. Entscheidend dafür ist nicht so sehr die wissenschaftliche Form, sondern Kriterien wie Machbarkeit, Akzeptanz durch die Betroffenen oder Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht. So wie die Fragestellungen entweder durch öffentlich gewordene Missstände, die als skandalös empfunden werden, oder auch durch Auftraggeber aus Politik und Gesellschaft vorgegeben werden, so sind Politik, gesellschaftliche Akteure und eine interessierte Öffentlichkeit auch wieder die Adressaten. Der Reflexions- und Arbeitsprozess, in dem bei Fragen der Angewandten Ethik um Ergebnisse gerungen und schließlich abgestimmt wird, unterliegt also vom Anfang und Ende her sehr stark politischen Gesichtspunkten. Der Philosoph ist bei der Problemlösung bestenfalls einer unter vielen. Jeder der Beteiligten muss seine spezifischen Kompetenzen einbringen. Die genaue Kenntnis der Situation, der empirischen Bedingungen und der Möglichkeiten, die sich dem Handelnden bieten, ist unverzichtbar und verlangt nicht nur die Einbeziehung von Praktikern, Betroffenen und Experten unterschiedlicher Art bei der Urteils- und Entscheidungsfindung, sondern auch neue Formen der Zusammenarbeit und die Bereitschaft, sich auf pragmatische und praktikable Lösungen einzulassen.
Halten wir also als Unterschiede zur allgemeinen Ethik fest: Subjekt der Angewandten Ethik ist in der Regel eine Kommission, das Ziel ihrer Arbeit sind Empfehlungen an einen Auftraggeber. Diese, also das Produkt oder die Ergebnisse der Arbeit, sind praktischen Maßstäben der Machbarkeit und Akzeptanz unterworfen. Daher ist diese Arbeit auch als Prozess arbeitsteilig organisiert und selbst schon das Ergebnis von Abstimmungen und Kompromissen. Der Auftraggeber, der zugleich der Adressat des Gutachtens ist, ist darauf angewiesen, das Ergebnis der Kommissionsarbeit praktisch verwerten zu können.
Die genannten fünf Unterschiede zur allgemeinen Ethik in Bezug auf das Subjekt, das Ziel, das Ergebnis, den Prozesscharakter und den Adressaten der Arbeit verweisen auf eine einschneidende Veränderung im Status der Ethik: Angewandte Ethik kommt in zweierlei Gestalt daher. Zum einen haben wir es – wie auch bei der herkömmlichen Ethik – weiterhin mit einem akademischen Unterfangen zu tun, zum anderen handelt es sich aber um ein außerakademisches Unternehmen, das anderen Gesetzen unterliegt. So stellt sich beispielsweise Wirtschafts- und Unternehmensethik als Teil einer Unternehmenskultur dar. Im Idealfall entwickeln Unternehmen in Zusammenarbeit mit der Belegschaft Codes of conduct, die als Selbstverpflichtung nach innen wirken und als Basis für die öffentliche Erwartung und für öffentlich erhobene Ansprüche dienen. Ein Beispiel: Die nach ihrem ersten Vorsitzenden benannte Cromme-Kommission, die als Regierungskommission für gute Unternehmensführung z.B. Richtlinien für das Verhalten von Managern formuliert hat und Mitte 2003 wichtige Beschlüsse zur Fortentwicklung des Deutschen Corporate Governance Kodex gefasst hat, arbeitet ebenfalls auf freiwilliger Basis im Auftrag der deutschen Wirtschaft, die aber mit dieser Beauftragung öffentlichem Druck nachgibt und einer rechtlichen Festlegung durch die Bundesregierung zuvorkommen will.