Читать книгу Einführung in die Wirtschaftsethik - Norbert Herold - Страница 11
1.3 Drei Modelle: Deduktionismus, Kontextualismus, Kohärentismus
ОглавлениеBedenkt man die aufgeführten Charakteristika, so zeigt sich, dass der Name Angewandte Ethik zumindest irreführend ist. Wie schon erwähnt, funktioniert es nicht so, dass wir feststehende allgemeine Regeln oder Gesetze haben, die lediglich auf konkrete Fälle angewendet werden müssten. Dennoch hat sich der Begriff eingebürgert und wird auch hier beibehalten. Man kann allerdings drei Typen oder Modelle für die Verfahrensweise von Angewandter Ethik unterscheiden, die mehr oder weniger ausgeprägt die Lehrbücher und die öffentliche Wahrnehmung bestimmen (vgl. [I–5]).
Deduktionismus
Das erste Modell, das gerade schon als unzulänglich zurückgewiesen wurde, bezeichnet man als Deduktionismus. Angewandte Ethik wird dann als notwendiges Korrektiv einer auf Prinzipienwissen fokussierten allgemeinen Ethik verstanden. Die Hauptaufgabe wird darin gesehen, den Durchgriff und die Gültigkeit der Normen auch im konkreten Einzelfall zu sichern und abzuleiten. Das deduktive Verfahren der Argumentation orientiert sich an der Logik eines Richters, der den jeweiligen Fall mithilfe seiner Urteilskraft einer allgemeinen Regel unterordnen kann.
Kontextualismus
Ein zweites Modell angewandter Ethik, der Kontextualismus, konzentriert sich von vorneherein auf einschlägige Fallbeispiele. Nach dem Vorbild des angelsächsischen Rechts, das von Präzedenzfällen ausgeht und diese weiterentwickelt, oder auch in Anlehnung an die kasuistische Ethik, die Einzelfälle in ihrer jeweiligen Besonderheit betrachten will und es ablehnt, sie über den einfachen Kamm einer niemals ganz zutreffenden allgemeinen Regel zu scheren, wird besonderer Wert auf den jeweiligen Kontext gelegt. Dabei läuft die Ethik allerdings Gefahr, sich so weit in Einzel- und Sonderfälle zu verlieren, dass sich jeder für seine jeweils besondere Situation sein eigenes Gesetz machen kann. Wenn der Blick ausschließlich auf die Situation gerichtet wird, lassen sich nahezu immer Gründe dafür finden, dass in diesem besonderen Fall die gewünschte Handlungsweise moralisch gerechtfertigt ist. Das ändert allerdings nichts daran, dass es gerade in moralischen Fragen durchaus gute Gründe dafür gibt, die Besonderheit der Person und der Situation zu berücksichtigen. Als Vorbild für dieses Modell kann die Gestalt des umsichtigen Arztes dienen, der seinen Patienten kennt, seine Konstitution und momentane Verfassung einzuschätzen weiß und von daher die Zumutbarkeit und die Erfolgsaussichten einer bestimmten Therapie beurteilt. Ein Studium der Wirtschaftsethik nach diesem Modell orientiert sich weitgehend an Fallstudien. So haben z.B. MBA-Studenten in Harvard etwa 400 Case Studies durchgearbeitet, bevor sie sich „Master of Business Administration“ nennen dürfen. Das kontextualistische Modell unterstellt, dass eine erfahrene Person, die intuitiv die jeweilige Situation oder den Charakter der beteiligten Personen erfasst, Vertrauen verdient und dass ihr daher das Recht zugestanden werden muss, nach Gutdünken und von Fall zu Fall zu entscheiden. Das ist unter modernen Voraussetzungen kaum noch zu vermitteln, weil die Gleichbehandlung nach dem Gesetz verlangt wird. Dass allerdings gleichzeitig die Klagen über Gesetze zunehmen, die nach der Rasenmähermethode alle Besonderheiten nivellieren, dem einzelnen Fall nicht gerecht werden und daher Ungerechtigkeit produzieren, ist nicht nur der Grund für eine zunehmende Gesetzesflut, die dem Phantom Einzelfallgerechtigkeit nachjagt, sondern auch ein Indiz für die Widersprüche einer Gesellschaft, die sich individuelle Freiheit und allgemeine Gleichheit, persönliches Vertrauen und gesellschaftliche Kontrolle gleichzeitig auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Köhärentismus
Das dritte Modell versucht jeweils die Schwächen der beiden anderen, des deduktionistischen und des kontextualistischen Modells, auszugleichen. In der philosophischen Fachsprache wird von Kohärentismus gesprochen. Das kohärentistische Modell geht davon aus, dass wir sowohl über die Kenntnis allgemeiner moralischer Prinzipien und Regeln wie auch über durch Erfahrung geschultes Urteilsvermögen im Hinblick auf konkrete Einzelfälle verfügen. Die Schwierigkeiten entstehen in der Regel dadurch, dass Widersprüche und Unstimmigkeiten auftreten, die unser übliches Urteil in Frage stellen, weil der Widerspruch zu allgemein hochgehaltenen Prinzipien allzu eklatant wird. Wenn wir zum Beispiel bisher bestimmte Geschäftsgepflogenheiten nach dem Motto „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ oder „Eine Hand wäscht die andere“ als harmlos und üblich eingestuft haben, so zwingen uns öffentliche Skandale und Änderungen der Gesetzeslage, dem Phänomen Korruption nachzugehen und Korrekturen bei der Beurteilung von Vorteilsgewährung oder Vorteilsnahme vorzunehmen. Anpassungen können auch auf der Ebene unserer Normen und Prinzipien erforderlich sein. Im Kontext Angewandter Ethik wird versucht, ein stimmiges Netz von Argumenten, Überlegungen und Beispielen zu knüpfen – daher Kohärentismus. Dieses Konzept hat zwar nicht die Faszinationskraft großer philosophischer Systeme, welche das Denken um eine einzige tragende Idee zentrieren oder geltende Normen aus einem einzigen Prinzip ableiten können, aber dafür besitzt es außerordentliche Integrationskraft. Ganz unterschiedliche Gründe können zur Unterstützung einer Norm herangezogen werden und auch empirische Überlegungen finden gebührende Beachtung. Da Angewandte Ethik nach Lösungen für reale und gesellschaftlich relevante normative Probleme sucht, müssen diese so beschaffen sein, dass sie möglichst den Status quo berücksichtigen und an die geltenden rechtlichen, moralischen oder professionellen Standards anknüpfen. Kriterien wie Angemessenheit, Machbarkeit, Nachhaltigkeit oder Anschlussfähigkeit entscheiden über die Qualität der Lösungsvorschläge.