Читать книгу Einführung in die Wirtschaftsethik - Norbert Herold - Страница 12
1.4 Wirtschaftsethik als Angewandte Ethik: hohe Erwartungen – begrenzte Möglichkeiten
ОглавлениеWas kann Angewandte Ethik in der favorisierten Form des Kohärentismus leisten? Dass es keine eindeutigen Lösungen gibt, die außerdem machtvoll durchgesetzt werden können, weiß die politische Philosophie spätestens, seitdem Kant die platonische Behauptung zurückgewiesen hat, Gerechtigkeit werde erst dann im Staat einkehren, wenn die Philosophen die Herrscher oder die Herrscher Philosophen seien. Platon, der von dem autokratischen „Tyrannen“ Dionysios nach Syrakus gerufen worden war, scheiterte mit dem Versuch, seine Gerechtigkeitsvorstellungen in die Tat umzusetzen, wohl nicht nur an der politischen Realität und den menschlichen Defiziten des Tyrannen, sondern an einem Missverständnis des Wesens und der Aufgabe von Politik. Immanuel Kant betont zu Recht, dass die Trennung und Arbeitsteilung zwischen philosophischen bzw. wissenschaftlichen Denkern und den die Macht ausübenden Politikern beiden Parteien helfen würden, ihre unterschiedlichen Aufgaben zu erfüllen, was der Gesellschaft insgesamt zugutekomme (vgl. [I–9]). Politik betrifft, wie schon Aristoteles betont, das Verhältnis von Freien und Gleichen. Ihre Aufgabe besteht darin, zwischen diesen Freien und Gleichen eine gemeinsame Willensbildung zustande zu bringen. Das verträgt sich nicht mit der Vorstellung, die höhere Einsicht des Denkers, der über die Maßstäbe und Prinzipien der Gerechtigkeit nachgedacht habe, müsse nur noch mit politischen Mitteln in Realität verwandelt werden. Leider wird diese Vorstellung von der einfachen Umsetzung der moralischen Einsicht in Politik auch auf das Feld der Wirtschaft übertragen. Verbindet man damit den Gedanken, dass man die widerstrebende Wirtschaft dazu zwingen müsse, sich an moralische Regeln zu halten, fällt man noch hinter Platon zurück, der immerhin wusste, dass man niemanden gegen seinen Willen zur moralischen Einsicht und zu moralischem Verhalten bringen kann. Der Gedanke vom Rechtszwang steht Pate bei dem im Prinzip ja löblichen Versuch, das Geschehen in der Wirtschaft zu moralisieren. Das weckt Erinnerungen an die kantische Klage, dass unsere bürgerliche Gesellschaft zwar diszipliniert, zivilisiert und kultiviert, aber eben noch lange nicht moralisiert sei. Es ist die Frage, ob sie das je sein wird und ob das überhaupt wünschenswert sein kann.
Aufgaben der Wirtschaftsethik
Was folgt aus diesem Exkurs in die politische Philosophie? Was für die philosophische Ethik allgemein gilt, das gilt erst recht für die Angewandte Ethik und damit auch für die Wirtschaftsethik. Sie ist Teil eines moralischen Diskurses, der in modernen und demokratischen Gesellschaften stattfindet und in dessen Verlauf Wertfragen geklärt und für die jeweilige Situation und Gesellschaft entschieden werden müssen. Was ein gerechter Lohn ist, wo die Ausbeutung anfängt und an welchem Punkt überhöhte Personalkosten einen Betrieb in den Ruin treiben, das sind Fragen, die nicht unabhängig vom Umfeld, von den empirischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und von den moralischen Standards einer Gesellschaft beantwortet werden können. Wirtschaftsethik kann nur eine, wenn auch gewichtige Stimme in den Auseinandersetzungen und Klärungsprozessen der Gegenwart sein. Der Ethiker kann dazu beitragen, Normen und Werte zu analysieren und im öffentlichen Bewusstsein präsent zu halten und zu stärken. Er kann auch dafür sorgen, dass der ethische Diskurs fair abläuft. Das Instrument des Wirtschaftsethikers ist die Vernunft. Zwar kann seine Aufgabe durchaus darin bestehen, empfehlend und werbend auf die guten Gründe hinzuweisen, die etwa für moralisches Handeln im Wirtschaftskontext sprechen, aber es ist nicht sein Geschäft, Moral zu predigen. Er kann sicher auch nicht – was eine skandalgeschüttelte und geschockte Öffentlichkeit häufig zu wünschen scheint – als Garantie dafür dienen, dass moralisch gehandelt wird. Aber er kann Menschen, die ihre Vorstellung von Moral und von einem guten Leben realisieren wollen, argumentative Hilfestellung leisten und sie bei der Klärung und Bewältigung der auftauchenden Probleme und Konflikte unterstützen. Das gilt für individuelle Entscheidungen, aber auch für die Gestaltung und Reform der institutionellen Rahmenbedingungen, die moralisches Handeln erst ermöglichen und fördern.