Читать книгу Einführung in die Wirtschaftsethik - Norbert Herold - Страница 18
3.1 Was denken Praktiker?
ОглавлениеDie Wirtschaftsethik, die als akademische Disziplin an der Ausbildung zukünftiger Manager beteiligt ist und beratend in die Öffentlichkeit, in Politik und Wirtschaft hineinwirkt, muss in ihren Fragestellungen von der Praxis ausgehen; ihre Antworten müssen für diejenigen plausibel und hilfreich sein, die sich mit konkreten Schwierigkeiten konfrontiert sehen. Selbst wenn der expandierende Büchermarkt und die öffentlichen Anstrengungen der Firmenleitungen und deren Marketing-Abteilungen einen anderen Eindruck suggerieren, zeigen Konflikte wie die schon erwähnte Auseinandersetzung um die Schließung des Nokiawerkes in Bochum im Jahre 2008, dass die Denkweise der Wirtschaft und die einer überwiegend kritischen Öffentlichkeit weit auseinanderklaffen. Die Wirtschaftsmanager berufen sich auf ökonomische Zwänge; in der Öffentlichkeit und bei der betroffenen Belegschaft dagegen zählen politische und soziale Aspekte, verstärkt durch moralische Vorwürfe gegenüber den Managern. Handelt das Management der großen Konzerne also unmoralisch?
Moral in der Wirtschaft? Umfrage 1992
Es gibt zu der Frage der Vereinbarkeit von Markt und Moral eine ältere Befragung aus dem Jahr 1992 von Peter Ulrich und Ulrich Thielemann ([I–18]; [I–19]; [I–20]), aber auch eine neuere Umfrage des Soziologen Eugen Buß ([I–21]; [I–22]). Sie lassen nicht erkennen, dass die theoretischen Bemühungen der Wirtschaftsethiker im Alltag des Wirtschaftsleben durchgehend akzeptiert wären, zeigen aber, dass sich die Einstellung der führenden Manager und Unternehmer in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren durchaus geändert hat.
Managerumfrage 1992 (Ulrich/Thielemann), zusammengestellt nach [I–23]:
Für die Studie von 1992 (veröffentlicht 1993) ergab die empirische Umfrage, dass die Relevanz dieser Fragestellung von den Praktikern nur sehr begrenzt gesehen wurde. Nahezu 9 von 10 Managern empfinden ihr Handeln als moralverträglich, nur 12 % sehen sich überhaupt mit einem Konflikt zwischen Markt und Moral konfrontiert. Von der großen Mehrheit derer, welche die Harmonie-These vertreten, sieht der kleinere Teil die Sachzwänge der Ökonomie, wie z.B. die Entlassung von Personal, als moralisch völlig unproblematisch an; der größere TeiI ist immerhin der Auffassung, dass die gültigen Normen der Moral nicht im Konflikt mit der Systemlogik des Marktes stehen. Was sie sehen, ist aber, dass die Pflicht sie zwingt, Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer Neigung widersprechen. Auch sie würden persönlich lieber Personal halten, sehen sich aber der Firma insgesamt verpflichtet und weisen auf die Folgen hin, die eine Untätigkeit des Managements nach sich ziehen würde. Von den Wenigen, welche einen Konflikt zwischen Markt und Moral sehen (12 %), geben 2 % dem Werteverfall und einem wachsenden Egoismus die Schuld; 10 % sehen und akzeptieren die ökonomischen Zwänge, plädieren aber für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, damit die Ethik zur Basis einer erfolgreichen Unternehmensführung werden könne. Die Umfrage von 1992 lässt erkennen, dass ökonomisches Denken dominiert und dass die Marktakzeptanz als das wesentliche Kriterium erfolgreichen Handelns angesehen wird. Da aber der Sanktionsmechanismus des Marktes immer an den direkten, unmittelbaren Handlungsfolgen ausgerichtet ist, bedeutet das im Klartext, dass der Erfolg die Mittel heiligt. Erst im Nachhinein steht fest, ob erfolgreich und damit richtig und „gut“ gehandelt wurde. Nachhaltiges Handeln kann in dieser Sicht zu einer Gefahr für den Manager und sein Unternehmen werden, wenn kein Geld oder zu wenig Geld verdient wird. Es kann allerdings auch das Standvermögen eines Vorstandsvorsitzenden bestätigt werden, der gegen die Ratschläge der Analysten an einer breiten Diversifikation in seinem Konzern festhält. So hat z.B. der Siemensvorstand in den 1990er Jahren eine ausschließliche Konzentration auf die Kommunikationstechnik, die damals höhere Renditen aufwies, abgelehnt und stattdessen damals notleidende, aber heute das Geld verdienende Sparten wie die Medizintechnik aufrechterhalten und gefördert. Da derartige Geschäftsentscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen verbunden sind, die – wie im Fall Siemens – tausende Mitarbeiter betreffen können, haben sie immer auch eine moralische Dimension. Die hohe Kunst besteht darin, Geschäft und Moral miteinander in Einklang zu bringen, und es ist die Frage, ob die 88 % der Manager recht hatten, die 1992 jedenfalls keinen Konflikt erkennen konnten.
Hat sich diese Sicht der Dinge in den letzten zwei Jahrzehnten, d.h. mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Siegeszug der Marktwirtschaft und des Kapitalismus und der zunehmenden Globalisierung der Weltwirtschaft wesentlich verändert?
Moral in der Wirtschaft? Umfrage 2007
Die Erhebung von 2007, in der eine repräsentative Anzahl von Vorstandsmitgliedern der hundert größten Unternehmen in Deutschland befragt wurde, zeigt insofern eine Verschiebung, als jetzt immerhin ein Drittel die Auffassung vertritt, dass die Moral in der Wirtschaft eine große Rolle spiele und dass sie ein um ihrer selbst willen erstrebenswertes Gut sei. Ein weiteres Drittel betrachtet den Stellenwert der Moral als ambivalent. Sie sehen also die Bedeutung der Moral, fühlen sich aber durch ökonomische Zwänge gedrängt, in bestimmten Situationen Moral als Ermessensfrage zu behandeln. Es bleibe nichts anderes übrig, als sich z.B. in bestimmten Ländern auf „unmoralische Selbstverständlichkeitsriten“ einzulassen oder Dinge zu tun, die gemessen an strengen moralischen Maßstäben nicht richtig seien. Das letzte Drittel schließlich spricht den moralischen Fragen in der Praxis eine nur geringe Bedeutung zu. Man werde am Erfolg gemessen, daher sei Moral letztlich nicht durchsetzbar und die Diskussionen über Moral hätten eher eine Feigenblattfunktion. 12 % von ihnen gehen sogar so weit zu behaupten, dass die erfolgreiche Tätigkeit in der Wirtschaft geradezu Amoralität erfordere. Immerhin sind aber der Mehrzahl der Spitzenmanager die ethischen Rahmenbedingungen nicht gleichgültig. Die Hochschätzung ökonomischer Kriterien bedeutet nicht automatisch die Geringschätzung ethischer Fragestellungen, auch wenn die Erfolgsaussichten einer Ausbalancierung von ökonomischen Notwendigkeiten und moralischen Grundsätzen unterschiedlich eingeschätzt werden. Immerhin ein Drittel steht zu der Überzeugung, dass nur der, welcher moralisch sauber ist, auf lange Sicht Geschäfte machen kann; denn wer sich erst einmal auf eine unmoralische Aktion einlasse, korrumpiere damit sich selbst und sein Unternehmen.
Managerumfrage 2007 (Buß):
Lässt sich dieses Bild von der Auffassung der Spitzenmanager vereinbaren mit der zuvor behaupteten Bedeutungszunahme der Moral für die Wirtschaft? Immerhin scheint die Sensibilität für die Problematik gewachsen zu sein, wozu vermutlich die Krisen und öffentlichen Skandale der letzten zwei Jahrzehnte mitsamt den verhängten Strafen erheblich beigetragen haben. Kann unter diesen Umständen auch von einer wachsenden Verantwortung der Unternehmen die Rede sein? Es bleibt dabei, dass die Chance, moralisch zu agieren, für die gutwilligen Unternehmen dann steigt, wenn sie sich ihre Bedingungen selber schaffen können. Das ist freilich nur bedingt möglich. Der skeptische Realismus der Manager ist in diesem Punkt nachvollziehbar. Dabei hängt die Zukunft der Menschheit mehr denn je davon ab, dass es gelingt, nachhaltiges Wirtschaften in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht zu erreichen. Sich auf moralische Regeln festzulegen, kann und sollte ein Wettbewerbsvorteil sein. Das gemischte Bild, welches die Meinungsumfragen geliefert haben, spiegelt aber die Ambivalenz einer Situation wider, in der alle um die schädlichen Nebenfolgen des eigenen Tuns und der eigenen Lebensweise wissen, aber längst nicht alle davon überzeugt sind, dass der eigene Verzicht oder Beitrag zum Umsteuern notwendig ist oder hinreichend wirkungsvoll sein wird. Die einen glauben, dass der eigene Beitrag nicht so gravierend ist, dass ausgerechnet daran der Erfolg des Ganzen hängt. Warum also sich selbst schaden und Opfer bringen? Die anderen zögern mit ihrem Beitrag, weil sie sehen oder befürchten, dass viele doch nicht mitmachen, sie also mit erheblichen Nachteilen rechnen müssen. Es stellt sich die Frage, ob sich der Unternehmer oder Kaufmann Moral überhaupt leisten kann. Die sarkastische Feststellung, dass Wirtschaftsethiker gut reden haben, ist dann nicht mehr weit, und der Satiriker kann mit Beifall rechnen, wenn er feststellt: „Streng nach ethischen Kriterien können nur Menschen außerhalb der ökonomischen Zwänge leben: Sehr junge, sehr alte, sehr reiche, sehr arme, Außenseiter und Verrückte. Und Philosophen, die mit Ethik Geld verdienen“ (Gabriel Laub, zit. nach [I–24], S. 30). Wer allerdings den Schluss zieht, dass sich die Wirtschaft oder die Unternehmen Moral schlichtweg nicht leisten können und daher auf die Moral verzichten dürfen, muss sich die Gegenfrage gefallen lassen: Können sie bzw. können wir uns denn eine Wirtschaft ohne Moral leisten?