Читать книгу Einführung in die Wirtschaftsethik - Norbert Herold - Страница 19
3.2 US-amerikanische Ansichten im Unterschied zu kontinentaleuropäischen
ОглавлениеDie Entstehung der neuen akademischen Disziplin ist eng verflochten mit Auswüchsen und öffentlichen Skandalen in den USA der 1970er Jahre, welche den Ruf nach Business Ethics auslösten. Drastisch ausgedrückt könnte man von der Geburt der Business Ethics aus dem Sumpf der Skandale sprechen; denn neben der Ratlosigkeit, welche den Ruf nach Ethik fördert, ist es vor allem die Empörung, die ethische Initiativen hervorbringt. Das Besondere lag in diesen Fällen nicht nur im Ausmaß oder in der besonderen Dreistigkeit der offenbar gewordenen Korruption, sondern auch in der Heftigkeit und Nachhaltigkeit der Reaktion der US-amerikanischen Öffentlichkeit, die im Zuge des Vietnamkrieges, der Watergate-Affäre und der ökonomischen Krisen (wie der Ölkrise 1972) das Vertrauen in die politischen und wirtschaftlichen Eliten verloren hatte. Diese Skandale hatten nicht nur Folgen für die Ausbildung und Forschung an den Universitäten, sondern führten zu öffentlichen Debatten, in deren Gefolge politische Kampagnen gestartet und strengere gesetzliche Auflagen durchgesetzt wurden.
Besonders folgenreich für die Wirtschaft war z.B. eine Korruptionsaffäre, in welche die Firma Lockheed verwickelt war. Um die japanische Regierung zur Bestellung von Flugzeugen zu bewegen, waren führende Mitglieder der japanischen Regierung bestochen worden. Um seinerzeit den Auftrag über 430 Millionen Dollar zu bekommen, waren 12,5 Millionen Dollar an Bestechungsgeldern und zweifelhaften Kommissionszahlungen geflossen. Als das bekannt wurde, musste die japanische Regierung zurücktreten. Schon damals führte – wie schon bei dem zuvor erwähnten späteren Sarbanes-Oxley Act (SOA) im Gefolge des Enron-Skandals 2002 – der öffentliche Druck in den USA zu einer Gesetzesinitiative, welche in der Folgezeit einen grundlegenden Wandel in der Einstellung und in den Geschäftspraktiken der großen Firmen erzwang. Mit dem Foreign-Corrupt-Practice Act (FCPA) von 1977 wurde die Bestechung ausländischer Regierungen ausdrücklich zum Straftatbestand gemacht, und Verstöße gegen das neue Gesetz wurden mit empfindlich hohen Strafen geahndet.
Die neue Verhaltensweise der Unternehmen ist also zunächst einmal dem Druck der Öffentlichkeit und der neuen Gesetzeslage geschuldet. Diese führten dazu, dass die Unternehmen gezwungen waren, ihrerseits intern ein Umdenken herbeizuführen und extern auf die eigene Regierung Druck auszuüben, damit durch Abkommen und Regierungsvereinbarungen auch die internationalen Konkurrenten gezwungen wurden, sich an dem Antikorruptionsprojekt zu beteiligen. Parallel dazu setzten auf der akademischen Ebene umfangreiche Bemühungen ein, die Rolle der Moral im Wirtschaftsleben zu thematisieren und ihre Bedeutung zu stärken. Für die Eigenart der seit den 70er Jahren als eigene akademische Disziplin entstehenden Business Ethics ist es kennzeichnend, dass der Fokus auf die Praktiken der Unternehmen und auf das individuelle Verhalten bzw. Fehlverhalten von Managern gelegt wird. Es gibt feste Kurse im Ausbildungsprogramm der Business Schools und entsprechend eine Reihe von Lehrbüchern, die versuchen, angehende Geschäftsleute und Wirtschaftsmanager auf die Konflikte vorzubereiten, mit denen sie in der Praxis zu rechnen und die sie zu bewältigen haben (vgl. [I–14]; [I–25]; [I–26]). Die Vertreter der US-amerikanischen Business Ethics konzentrieren sich daher im Allgemeinen auf Entscheidungen, die im Rahmen der vorgegebenen Bedingungen eines marktwirtschaftlichen Kapitalismus zu treffen sind. Dabei werden – im Unterschied zur kontinentaleuropäischen Zugangsweise – die Zwänge, die mit den Rahmenbedingungen selbst verbunden sind, nur wenig thematisiert. Dafür dominiert ein ausgeprägter Praxisbezug, der mit Besonderheiten des US-amerikanischen Denkens und des US-amerikanischen Ways of Life zusammenhängt. Darauf soll zumindest kurz eingegangen werden, um die Unterschiede zu den europäischen Versionen von Wirtschaftsethik zu erfassen, die ein Jahrzehnt später, seit den 1980er Jahren, entwickelt wurden. Selbst wenn diese Unterschiede im Zuge der fortschreitenden Globalisierung und einer zunehmenden Vereinheitlichung der Unternehmenskulturen in international aufgestellten Unternehmen an Bedeutung verlieren, so sind sich doch die Experten weitgehend darin einig, dass es solche Unterschiede gibt und dass sie weiterhin wirksam sind (vgl. [I–27], S. 27ff.; [I–28]). Zunächst einmal bietet sich dem Beobachter der US-amerikanischen Szene ein verwirrendes Bild. Das liegt an der Vielzahl der erschienenen Veröffentlichungen, auch an der unterschiedlichen methodischen Zugangsweise der Wissenschaftler, die sich mit Business Ethics befassen und die aus den Geisteswissenschaften, der Theologie oder den Wirtschaftswissenschaften stammen. Am meisten trägt aber zu diesem verwirrenden Eindruck bei, dass es immer um Einzelfälle zu gehen scheint, die gerade aktuell sind und moralische Herausforderungen unterschiedlicher Art darstellen: Korruption, Bilanzfälschungen, Insider-Handel, unlauteres Marketing, Diskriminierung von Personen oder Personengruppen oder die Gefährdung von Personen durch die Vernachlässigung von Sicherheitsbestimmungen und Sorgfaltspflichten – die Liste der Verfehlungen ist umfangreich und erscheint beliebig erweiterbar. Die Praxisnähe und die Aktualität der Beispiele werden erkauft mit einer geringen Systematik der theoretischen Auseinandersetzung und einer hohen Abhängigkeit vom Common Sense. Sofern klassische philosophische Ethikansätze vorgestellt werden, was in der Regel auch geschieht, dominieren drei Ansätze, welche in der Argumentation miteinander kombiniert werden: der Utilitarismus, der lehrt, auf den Gesamtnutzen zu sehen, die Vertragstheorie, welche einen fairen Interessenausgleich nahelegt, sowie die Tugendethik, welche die Integrität des Handelnden zum zentralen Punkt macht. Auffällig ist auch die Fülle empirischer Untersuchungen, welche dem konkreten Verhalten wirtschaftlicher Akteure gewidmet werden. Was interessiert, sind weniger die normativen Begründungen der moralischen Grundsätze, sondern die Stufen im Prozess der konkreten Entscheidungsfindung sowie die Einflüsse, welche von der Situation und der Verfasstheit der Handelnden ausgehen (vgl. [I–14], S. 5ff.).
3 Ebenen: Basiswerte, konkrete Verhaltensmuster, vermittelnde Background Beliefs
Die pragmatische Ausrichtung bedingt, dass die moralischen Grundwerte selbst nicht in Frage gestellt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Damit sie freilich in konkretes moralisches Verhalten übersetzt werden können, bedarf es der Vermittlung mit den Background Beliefs, welche die historischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen bilden. George G. Brenkert von der Georgetown University in Washington D. C. hat in einer Studie aus dem Jahr 2006 [I–29] nahegelegt, diese drei Ebenen sorgfältig zu unterscheiden. Zu den US-amerikanischen Basiswerten zählt er als Erstes die individuelle Freiheit, die vor allem auch Freiheit von staatlichen Zwängen meint. Darunter fallen Schutz der Privatsphäre, Wettbewerb und die Freiheit, Verträge einzugehen bzw. auch zu kündigen, was z.B. das Recht auf schnelle Kündigungen beinhaltet. Als Zweites nennt er das Recht auf individuelles Eigentum, was auch den Schutz geistigen Eigentums einschließt, sowie das Recht, frei über sein Eigentum bestimmen zu können. Ein dritter Grundwert ist das Prinzip der Gerechtigkeit, verstanden als Chancengleichheit und als ein Recht auf fairen Anteil am Gewinn entsprechend der eingebrachten Arbeit, der spezifischen Leistung oder gemäß dem geleisteten Beitrag. Als Viertes steht der Grundwert individueller Verantwortung für die eigene Lebenssituation sehr hoch im Kurs, allerdings gepaart mit der Verantwortung für die gesellschaftlichen Gruppen, zu denen man gehört, und für die Kommunen, in denen man lebt. Das drückt sich z.B. darin aus, dass das Unternehmertum sehr hoch geschätzt wird und dass in der Wirtschaft der Gedanke des ehrenamtlichen Einsatzes (volunteerism) und die Bereitschaft, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben, eine große Rolle spielen. Als fünften und letzten Grundwert nennt Brenkert die allgemeine Überzeugung, dass ein gutes Leben ein aktives Leben sei, zu dem wesentlich materieller Erfolg und individuelle Erfüllung gehören. Die Wertschätzung, die ein Individuum erfährt, beruht wesentlich auf Charaktereigenschaften wie Mut, Loyalität, Vertrauen, Stärke und Ehrlichkeit.
Um zu sehen, dass dieser Kern von fünf Grundüberzeugungen und Grundwerten die Basis des moralischen Verhaltens im US-amerikanischen Wirtschaftsleben ausmacht und den konkreten Verhaltensweisen zugrunde liegt, muss man sich klarmachen, dass es eine Schicht von Hintergrundüberzeugungen und Werten (Background Beliefs and Values) gibt, welche die Umsetzung dieser Grundwerte vermitteln. Es handelt sich um stillschweigende Überzeugungen, institutionelle Regelungen und selbstverständliche Annahmen der US-amerikanischen Wirtschaft über die eigene Rolle, über die Natur, den Staat und die Gesellschaft. Zu dieser Ebene von Background Beliefs, die selbst nicht notwendig moralischer Natur sind, aber die Umsetzung moralischer Werte entscheidend bestimmen, gehören religiöse, metaphysische und auch ökonomische Vorstellungen. Ohne den Anspruch auf systematische Vollständigkeit nennt Brenkert vier derartige Hintergrundüberzeugungen der US-amerikanischen Gesellschaft. US-Amerikaner neigen erstens zu der Auffassung, dass es universale, in der menschlichen Natur verankerte absolute Werte gibt. Sie gehen zweitens von metaphysischen Paradigmen aus, welche die wirtschaftliche Tätigkeit beflügeln und als sinnvoll legitimieren. Ein solches Axiom ist etwa die Annahme, dass Individuen autonom über sich selbst bestimmen können. Auch wenn sie dabei ein gesundes Selbstinteresse bedienen, sind sie nicht nur von Selbstinteresse bestimmt. In der Konsequenz folgt daraus die Überzeugung, dass Geschäftssinn und Moral sich nicht nur nicht ausschließen, sondern miteinander harmonieren. Das kann sogar so aussehen, dass zunächst sehr raue, mit der Alltagsmoral kaum vertretbare Geschäftspraktiken im Nachhinein den Segen der Moral bekommen, weil die Gewinne in Form von Stiftungen und Schenkungen wieder an die Gesellschaft zurückfließen. In eine ähnliche Richtung wirkt die Grundüberzeugung, dass Fortschritt möglich ist und dass speziell durch technologische Entwicklungen individuelle und gesellschaftliche Probleme gelöst werden können. Dieser spezifisch US-amerikanische Optimismus glaubt an die Möglichkeit, Menschen besser zu machen, und sieht sich selbst in der Verantwortung, an dieser Verbesserung der Menschheit mitzuwirken. Eine dritte derartige Selbstverständlichkeit ist eine pragmatische Sicht von Wissen und Wahrheit. Wissen ist nicht Selbstzweck, sondern soll zu etwas nütze sein. Insofern erfolgen Wissenserwerb und Forschung sehr gezielt, und entsprechend ist auch die Wirtschaftsethik sehr stark ergebnisorientiert. Zu den Hintergrundannahmen gehört viertens auch die Ansicht, dass Wettbewerb wünschenswert ist. Er führt nach dieser Auffassung nicht nur dazu, dass das Individuum sein Bestes gibt und sich selbst optimal entfalten kann, sondern lässt auch die Gesellschaft insgesamt am besten fahren. Das Eingreifen der Regierung wird daher häufig mit Argwohn und Misstrauen gesehen, getreu der immer wieder zitierten Ansicht von Thomas Jefferson, nach der „the government that governs best, governs least“ (Thomas Jefferson, zit. nach [I–29], S. 21).
Es kommt hier nicht auf die Vollständigkeit der Grundwerte und gesellschaftlichen Hintergrundannahmen an. Es geht darum, die konkreten Maßnahmen und Praktiken, welche die Eigenart der US-amerikanischen Auffassung von Moral in der Wirtschaft sichern sollen, besser zu verstehen und als besondere Ausprägung einer moralischen Absicht und moralischer Überzeugungen zu erfassen. Brenkert versucht das an drei Beispielen deutlich zu machen, die in ihrer Eigenart typisch US-amerikanisch sind: 1. die Ethikprogramme und Ethikkodizes, über welche fast alle Firmen verfügen, 2. Whistleblowing als eine spezifische Form moralischen Heldentums und 3. die zahlreichen Programme zur Unterstützung ehrenamtlicher Tätigkeit (volunteering) durch US-amerikanische Firmen.
Von außen betrachtet ist es nicht immer leicht, den moralischen Kern in diesen US-amerikanischen Verhaltensmustern zu sehen oder angemessen zu würdigen, zumal wenn man sieht, dass sie gleichzeitig mit der Wirklichkeit eines wenig rücksichtsvollen Geschäftsalltags gepaart sind – daher die Skepsis europäischer Stimmen: Der Kampf einzelner moralischer Helden gegen ungerechte Machenschaften von Konzernen nötigt zwar Respekt und Bewunderung ab, ändert aber nichts daran, dass der Einzelne auf verlorenem Posten steht und David nur im Ausnahmefall gegen Goliath gewinnt. Wenn man ein Held sein muss, um das moralisch Richtige zu tun, dann erhebt sich der Verdacht, dass es sich bei den aufgedeckten unmoralischen Praktiken nicht nur um Einzelfälle handelt, sondern dass die Verhältnisse insgesamt nicht in Ordnung sein können. Ähnlich skeptisch denkt ein Großteil der Bundesdeutschen über die Arbeit und den Einsatz von Freiwilligen. Wo der US-Amerikaner sich selbstverständlich aufgerufen fühlt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und auf diese Weise dem Gemeinwesen etwas von dem zurückgeben will, was er selbst einmal erhalten hat, da können Skeptiker nur die Kompensation oder Kaschierung eines Versagens des Staates sehen, der eigentlich die Dinge zu richten habe. Die Gespaltenheit lässt sich z.B. in der Bundesrepublik an der öffentlichen Reaktion auf den Erfolg der Tafeln ablesen, die mit viel freiwilligem Einsatz kostenlose oder spottbillige Mahlzeiten für Bedürftige zur Verfügung stellen, dafür gespendete Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum zu Ende geht, in den Supermärkten einsammeln, Mahlzeiten davon zubereiten und den Rest der Lebensmittel auch verteilen. Zumindest in Teilen der öffentlichen Reaktion wird nicht etwa der gewachsene Bürgersinn gelobt, der sich solidarisch gegen die Armut und Ausgrenzung derer wendet, die von Not betroffen sind. Stattdessen wertet man den Erfolg und die wachsende Beanspruchung der Tafeln als Indiz für das Versagen des Staates und die ehrenamtliche Arbeit entsprechend als Vertuschung dieses Versagens und als Entmündigung derer, die versorgt werden. Charity, als moralisch hoch angesehene freiwillige Leistung von Einzelpersonen und Firmen, wird aus dieser Sicht zum Indiz für das Versagen des Staates und der Gesellschaft insgesamt. Man vergleiche damit die amerikanische Mentalität, die eine Zeitungsnotiz der Westfälischen Nachrichten über die Gestaltung des Thanksgiving-Days in New Yorker Manhattan (am 26.11.2009) erkennen lässt: Eine Catering-Firma bereitet unter Leitung eines Starkochs 10.000 kostenlose Mahlzeiten für die Armen vor. Die Heilsarmee, die das traditionelle Truthahnessen organisiert, hat im Krisenjahr 2009 zehnmal mehr Mahlzeiten als im Vorjahr angefordert. Dreihundert Freiwillige des Finanzinstituts Goldman Sachs sorgen für Service und Sauberkeit und räumen die Tische ab. Der Mentalitätsunterschied, der sich bei der unterschiedlichen Bewertung des Ehrenamtes bzw. von volunteering zeigt, ist auch symptomatisch für die unterschiedlichen Zugangsweisen zu wirtschaftsethischen Fragen. Charakteristisch sind eine ausgeprägte Praxisorientierung, ein weitgehender Verzicht auf Normenbegründung und die Vernachlässigung der institutionell-ethischen Dimension (vgl. [I–30], S. 183). Hinter der theoretischen Profillosigkeit und der Unübersichtlichkeit der Phänomene steht positiv gesehen aber die Bereitschaft, möglichst viele Auffassungen zu integrieren und von konkreten praktischen Phänomenen auszugehen, bevor man sich prinzipiellen Problemen der Unternehmensethik zuwendet. Hinter allem steht ein ausgeprägtes Vertrauen auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Individuen, sich selbst und die eigene Moral zu verbessern. Wo wir Kontinentaleuropäer eher Angst davor haben, dass der Einzelne moralisch überfordert werden könnte, und daher nach institutionellen Lösungen rufen, wird in den USA eher auf ein persönliches Umdenken der Bürger gesetzt. Aber auch wenn Kapitalismus und Individualismus weitgehend unbestritten sind, bedeutet das nicht, dass von den Unternehmen nicht erwartet würde, ethisch aktiv zu werden. Dieser Erwartung wird im Zweifelsfall auch mit drastischen gesetzlichen Strafandrohungen nachgeholfen, wie z.B. die 1997 erlassenen Sentencing Guidelines belegen.