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Der Darstellungswert der Farben
ОглавлениеPaul Gauguin – Eigenwert der Farbe
Paul Gauguin gilt in der Kunstwissenschaft neben van Gogh und Paul Cézanne als einer der wichtigsten Vorreiter der Moderne im späten 19. Jahrhundert. Zusammen mit Émile Bernard, Louis Anquetin und Paul Sérusier entwickelte er im bretonischen Künstlerdorf Pont-Aven einen extrem linien- und flächenbetonten Stil. Schwingende, kraftvoll farbige Konturen, die sich zu rhythmischem Eigenleben verselbstständigen, umrunden in die Fläche gepresste, intensiv farbige Motive. Auf illusionistische Bildräumlichkeit ist verzichtet, Licht- und Schattenmodellierung spielen kaum noch eine Rolle. Von Gauguin nun stammt die Formulierung, die Farbe, die ebenso Schwingung sei wie die Musik, solle die inneren Kräfte der Natur wiedergeben. Die Farbe, die sich von der Darstellung des Äußeren, des empirisch fassbaren Aussehens wegbewegt und stattdessen das ungreifbare Innere veranschaulichen will, kann das nur, wenn sie sich auf die ihr impliziten Eigenkräfte besinnt, auf ihre Eigenwertigkeit. Eine dahingehend orientierte Malerei, somit auch die Bilder Gauguins, wird die Farbe aus den Fesseln naturalistischer Dingbeschreibung lösen: Ein Pferd kann dann blaufarben sein – Blauer Reiter nannte sich bekanntlich die expressionistische Künstlervereinigung in München –, ein Gesicht Rot oder Gelb und so weiter.
Darstellungswert der Farbe
Geht man jedoch davon aus, dass ein Pferd im Bild weiß, braun oder schwarz zu sein hat, der Teint eines Gesichtes inkarnatfarben, die Lippen rot – dann geht man von naturalistischen bzw. illusionistischen Zielen der Malerei aus, mit denen sich Kapitel VIII ausführlicher beschäftigen wird. Man geht aus von Darstellungsaufgaben, denen sich die Farben ein- und unterordnen, indem sie ausschließlich darstellungswertig auftreten. Bereits 1913 hatte der deutsche Kunsthistoriker Hans Jantzen zwischen Eigenwert und Darstellungswert der Farbe unterschieden – bis heute gültige antithetische Begriffe. Darstellungswertigkeit bedeutet also, dass die Farbe dem Inhaltlichen, dem Gegenständlichen unterworfen wird und der raumkörperlichen Bezeichnung – etwa dem Licht-Schatten-Relief eines komplizierten Faltenwurfs – dient; im anderen Fall ist sie selbst Träger des Bildinhalts, wie ich bereits zu beschreiben suchte.
Seit der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts, dem Trecento, und vor allem seit der Renaissance wurden die Farben zunehmend gemischt, in ihrem Eigenwert gebrochen und abschattiert, erst verhalten, dann immer raffinierter, um die schier endlosen Nuancen von Licht und Schatten, Nähe und Ferne im Bild zu illusionieren. Und um durch Beimischung von Weiß bzw. das akzentuierende Aufsetzen von Weißhöhungen, den sogenannten Glanzlichtern, und andererseits durch das Mischen der Lokalfarbe mit Schwarz dort, wo es galt, bildräumlich tieferliegende und folglich verschattete Partien wiederzugeben, die Plastizität der Bildwelt täuschend echt zu modellieren. Diese Tiefen- und Körperillusion auf der zweidimensionalen Bildfläche kam schnell in Konflikt mit dem irrealen Goldgrund. Deshalb empfindet man Bilder, und die gab es im Spätmittelalter noch häufig, die den Goldgrund mit einer farblich abgestuften Landschaftsfolie kombinieren oder die Perspektivik eines von Licht und Schatten erfüllten Interieurs auf einen Goldgrund hin fluchten lassen, als zwiespältig, gar als paradox.