Читать книгу Der Stand der Dinge - Odd Klippenvåg - Страница 12
ОглавлениеDie ersten maskulinen Gerüche. Rasierschaum und Rasierwasser.
Ich habe immer Onkel Gustav beim Rasieren zugesehen, nicht Vater. Denn an den Wochenenden oder wenn wir nicht in Ferien waren, durfte ich manchmal den Onkel in der Stadt besuchen. Was mein Vater allerdings nicht gern sah. In der Regel holte der Onkel mich mit seinem alten Lastwagen ab. Er betrat nur selten das Haus meiner Eltern, er hielt am Tor, hupte und wartete, bis ich angerannt kam. Wenn ich losstürzte, kam ab und zu meine Mutter hinterher und plauderte ein wenig mit dem Onkel, nie kam Vater, manchmal blieb Mutter auch auf der Treppe stehen und winkte, bis wir losfuhren. Das Trittbrett zum Führerhaus war zu hoch für mich, aber weil Onkel Gustav die Tür bereits geöffnet hatte, konnte ich Anlauf nehmen und fast im Sprung auf dem schwarzen, gesprungenen Ledersitz landen.
Die kleinen Figuren, die an einer Schnur an der Windschutzscheibe baumelten. Eine rote Papierrose und drei blanke Schlüssel, die zu nichts mehr passten, sagte mein Onkel, und ein Zentaur aus patinagrünem Metall. Normalerweise lebten Zentauren tief in den griechischen Wäldern, hatte mein Onkel mir erzählt, diesen hier aber hatte er zu seiner Zeit als Seemann gekauft, in einem Hafen namens Piräus.
In dem dunklen Treppenhaus in Onkel Gustavs Wohnblock roch es anders als zu Hause, feucht und schimmelig. Oft roch es auch nach Essen. Nach gebratenem Fisch und gekochtem Kohl. Die Dunkelheit lag an den Fenstern mit getöntem Glas. Eigentlich war es auch schön, wenn sich die Augen erst daran gewöhnt hatten. Kleine Fenster in allen möglichen Farben. Ich konnte mit der Hand über das glatte Holz des Geländers fahren, während ich die Treppe hochging. Darunter gab es ein Muster aus schwarzem Schmiedeeisen. Einige Male nahm ich zwei Stufen auf einmal, nur um schneller oben zu sein als der Onkel. Vor den Türen in jedem Stockwerk standen Schuhe und Stiefel und viele andere Dinge. Leere Margarinekisten und Jutesäcke voll Kohle oder Holz. Manchmal waren hinter den Türen Stimmen zu hören. Erwachsene, die sich stritten, Kinder, die schrien. Radiomusik. Onkel Gustav wohnte im fünften Stock. Über ihm gab es nur den unheimlichen Dachboden, wo ein Gespenst umging, ein Mann, der unter den Wäscheleinen zwischen den Verschlägen hin und her lief.
Als Erstes kniete ich mich auf einen Holzstuhl vor dem Fenster in der engen Küche. Um zu sehen, ob die Straßenbahn durch die Thorvald Meyers gate fuhr, aufwärts oder abwärts. «Siehst du was?», fragte Onkel Gustav und trat manchmal hinter mich und hielt ebenfalls Ausschau.
War es ein Kuss, wenn Onkel Gustav dabei die Lippen auf meine Haare drückte? Für einen Moment spürte ich eine warme feuchte Stelle mitten auf dem Kopf.
Onkel Gustav kannte einen Mann. Damals redete man nicht darüber. Auch nicht in den fünfziger Jahren. Im Krieg ...
Die beiden Lebensmittelhändler in Telemark, jeder auf seiner Seite des Heddalsvei. Immer sah ich sie, wenn wir Tante Aste und Onkel Jarmund besuchten.
Meine Tante und mein Onkel hatten auf Nesøya ein Krähenschloss, dort, wo der Tinnå ins Heddalsvann mündet. Auf dem anderen Flussufer lag das Eisenwerk Tinfoss, wo Onkel Jarmund als Kranführer und Mann für alles tätig war. In Nesøya gab es zudem unbebaute Gebiete, voll von Kohlenstaub. Hier hatten die Deutschen ein Exerziergelände, und wenn wir einkaufen gingen, konnten wir den rhythmischen Gesang hören, wenn die Soldaten zu ihrem Lager weiter oben in der Stadt marschierten. «Die Fahne hoch», sangen die Soldaten, oder «Alte Kameraden».
Weshalb machte ich mir Gedanken über die beiden Lebensmittelhändler? Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwer mir erzählt hätte, dass sie Junggesellen waren. Dass sie zusammen ein Ferienhaus gebaut hatten. Wusste ich es einfach so? Samstags fuhren sie immer gemeinsam mit dem Bus. Jeder mit seinem Rucksack und einer am Rucksack hängenden Milchkanne. Immer hatte jeder einen Liter frisch geseihte Milch gekauft. Sie waren damals so um die vierzig. Scheinbar Konkurrenten. In Wirklichkeit Freunde.