Читать книгу Der Stand der Dinge - Odd Klippenvåg - Страница 8

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Ich habe solche Angst davor, mein Gedächtnis zu verlieren. Im Grunde habe ich jetzt Angst vor allem. Dass die Wörter verschwinden. Wörter für ganz normale Dinge. Zutaten heißt das, woraus eine Mahlzeit besteht. Zwiebeln und Tomaten, in Streifen geschnittenes Schweinefleisch. Solche Alltagsdinge. Ein Regenschirm, zum Beispiel. Wann habe ich zuletzt einen Regenschirm benutzt? Wann habe ich eine Glühbirne berührt? Oder einen Schraubenzieher. Aber diese Alltagsworte vergesse ich. Die lieben alten Dinge dagegen sind in meiner Erinnerung festgenagelt. Ich kann sie wie auf Knopfdruck aufrufen: eine barocke Truhe, ein Schöpflöffel, ein Jugendstil-Zuckerstreuer, ein norwegisches Bierhuhn.

Am zweiten Weihnachtstag kam Inger mit dieser Freundin zu Besuch.

Wie hieß die Freundin noch gleich? War das nicht irgendein Name mit S?

Ich weiß noch, dass sie über die Hinrichtung Saddam Husseins im Irak diskutierten, als ich den Nachtisch servierte. «Das war nur richtig so», sagte Inger. «Der Mann hatte doch einen Völkermord begangen.» – «Genau», stimmte Annar zu. Da musste ich ihn ansehen, sein freundliches Gesicht, jetzt so verbissen und verkniffen, als er das sagte. «Egal», sagte die Freundin, «wir haben nicht das Recht, einen anderen Menschen zu töten.» Ihre Worte, so ruhig und entschieden, brachten die beiden anderen zur Besinnung. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich nun Vanilleeis und duftende flambierte Multebeeren servierte.

Anne, so hieß sie, die Freundin.

Und nach dem Essen, als wir alle vier vor dem Kamin saßen, fragte Anne mich, wie ich dazu gekommen sei, mich für Antiquitäten zu interessieren. «Ach, das ist eine lange Geschichte», antwortete ich. «Ich hatte einen Onkel in dieser Branche.» Dann musste ich mich korrigieren und erklären, dass Onkel Gustav eher einen Trödelladen hatte als ein Antiquitätengeschäft, ganz anders als Annar und ich. «Ich habe Onkel Gustav beerbt», erzählte ich.

Annar war mir zum ersten Mal wirklich aufgefallen, als ... Es war ein feuchtkalter Morgen gleich nach Ostern 1966, mit Regen und Wind in der Luft. Als ich aus dem Lieferwagen stieg, sah ich, dass Annars Mutter Wäsche auf die Leine hängte. Ich musste sie natürlich begrüßen, und ich ging zum Lattenzaun, um eine Runde zu plaudern. Als wir dort standen, mit dem Zaun zwischen uns, schaute ich zufällig an dem Mietshaus hoch, in dem sie wohnte. Dabei sah ich Annar in einem Fenster im ersten Stock. Weil ich den Eindruck hatte, Annar sei splitternackt, geriet ich in ziemliche Verwirrung. Natürlich konnte ich seinen Körper nur von den Hüften aufwärts sehen, oder eigentlich nicht einmal das. Ich glaube nicht, dass seine Mutter meine Verwirrung bemerkt hatte, denn ich ließ meinen Blick sofort zu ihr weiterwandern. Als sie sich über den Wäschekorb bückte, musste ich natürlich doch zu ihrem Fenster hochblicken und nachsehen, ob Annar noch dort stand. Und das tat er. Annar starrte auf uns herab, trotzig, fand ich, herausfordernd. Hätte der Junge jetzt nicht in der Schule sein müssen, überlegte ich und zog meine Taschenuhr heraus. An der Leine wehten Bettwäsche und Handtücher. Und Annars Unterhosen. Als ich zu Lieferwagen und Schuppen schlenderte, wusste ich, dass Annar mich im Auge behielt. Und das gab meinem Körper eine seltsame Unruhe.

Der Stand der Dinge

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