Читать книгу Der Stand der Dinge - Odd Klippenvåg - Страница 6
ОглавлениеVor zwei Wochen hat Annar mir süße blaue Pflaumen mitgebracht. Jetzt ist die richtige Zeit dafür. September. «Siehst du, womit die Ähnlichkeit haben?», fragte ich und hielt mir eine Pflaume vor den Mund. Und Annar wurde wirklich rot!
Ich bin ein unverbesserliches altes Schwein.
Es fing ausgerechnet am Heiligen Abend an. Beim Essen. Wir hatten die Vorspeise verzehrt, den Graved Lachs, die Schweinerippen, und nun waren wir beim Dessert angekommen. Ich wollte gerade aufstehen, um die Puddingschüsselchen zu holen und die Multebeercreme aus dem Kühlschrank zu nehmen, als ich in der Brust einen schmerzhaften Druck verspürte, deshalb blieb ich sitzen. Annars Gesicht strahlte mir im Licht der Kerzenleuchter entgegen, die wir auf beide Seiten des Tisches gestellt hatten. Er sieht ja so elegant aus mit weißem Hemd und Fliege, dachte ich, als Annar sein Glas hob, um mir ein weiteres Mal zuzuprosten. «Was ist los?», fragte er und ließ das Glas sinken. «Bist du krank?» Ich musste mich vorbeugen, so weh tat es. Annar sprang auf und lief um den Tisch herum, um mich wieder aufzurichten. «Warte einen Moment», konnte ich hervorbringen. So saß ich dann da, vornübergebeugt und die Augen geschlossen, für vielleicht zwei Minuten. Ich spürte Annars Hände auf meiner Schulter, wie sie mich massierten. «Wo tut es weh, Simon», hörte ich ihn fragen, «soll ich einen Arzt holen?» Ich hatte auch im linken Arm Schmerzen, und im Nacken merkte ich eine seltsame Wärme, als ob sich dort alles zusammenzog, aber weil Annar den Arzt erwähnt hatte, riss ich mich zusammen und setzte mich gerade hin. «Du schwitzt», sagte Annar, nahm meine Serviette und wischte mir die Wange ab. Ich legte den Kopf in den Nacken und lächelte, glücklich, weil Annar da war, weil Weihnachten war. «Binde dir den Schlips auf», sagte Annar und tat es für mich. Ich schaffte es, das Jackett abzustreifen und über die Stuhllehne zu hängen. «Es geht schon besser», sagte ich, «das war nur ein plötzlicher Schmerz in der Brust.» – «Im Herzen?», fragte Annar. «Vielleicht», antwortete ich und schaute weg, zum Weihnachtsbaum vor dem Fenster im Kaminzimmer. «Ich soll also keinen Arzt für dich holen?», fragte Annar, bereits erleichtert. Ich schüttelte den Kopf, und weil mein Hals sich zusammenzuschnüren schien und weil ich deshalb nur mit Mühe atmen konnte, streckte ich die Hand nach dem Aquavitglas aus und leerte es. Als Annar sich gesetzt hatte, konnte ich einen Scherz machen. «Da hast du sicher gedacht, jetzt wärst du mich endlich los!» Annar gab keine Antwort, er packte nur mein rechtes Handgelenk. So saßen wir eine Weile da und hielten einander fest, die Hände auf der weißen Tischdecke, neben meinem fettigen Teller. «Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt», sagte Annar, «du musst doch an dein Alter denken.» Und ich schwieg. So war es immer, wenn er mich an mein Alter erinnerte, an die siebzehn Jahre, die uns trennten. Statt aufzustehen, wie ich es vorgehabt hatte, bat ich Annar darum. «Nimm die olivgrünen Murano-Schälchen», sagte ich und spürte, wie wichtig es mir vorkam, alles so zu machen, wie wir es immer gemacht hatten, den Heiligabendritualen zu folgen und das Dessert nicht zu überspringen. Ich hörte die Sängerknaben, die hellen Knabensoprane, auf einer CD, die wir immer einlegen, wenn wir uns zu Tisch setzen, schon seit vielen Jahren. Ich nahm die Düfte im Haus wahr, Räucherstäbchen und Weihnachtsessen, Tannennadeln und die Dekoration auf dem Tisch mit den silbernen Hyazinthenzwiebeln, sogar den Geruch des brennenden Birkenholzes im Kamin. Wenn ich jetzt sterben müsste, dachte ich, und dann wusste ich, dass ich mich davor gefürchtet hatte, als plötzlich der Schmerz gekommen war, davor, das alles hier verlassen zu müssen.
«Wie fühlst du dich jetzt?», fragte Annar, als er sich setzte. «Fast normal», sagte ich. Mein linker Arm tat nicht mehr weh, und der Schmerz in der Brust war nicht schlimmer als die Nachwehen eines heftigen Sodbrennens. Nur mein Nacken fühlte sich seltsam an, noch immer steif, bis in den Hinterkopf hinein. «Greif zu», sagte ich und schob ihm die Schüssel mit der Multecreme hin. «Nein, du zuerst», widersprach Annar, «du hast die Beeren gepflückt.» Ich bediente mich und dachte an den wunderschönen Herbsttag, ich war barfuß durch das Moor unterhalb der Hütte gegangen, zusammen mit dem Hund, und hatte Beeren gepflückt. Solche Tage im Gebirge, mit Sonne und klarer Herbstluft, sind ein Geschenk, dachte ich, mit Multebeeren in einem blanken Aluminiumeimer, so reif, dass ich mir gleich die Finger ablecken musste. Ich konnte mich an alles so deutlich erinnern, an den Hund, der mit flatternden Ohren loslief, wann immer ich mich aufrichtete und mich umschaute, deshalb fragte ich: «Wo ist Caro?» – «Caro?», wiederholte Annar, überrascht von meiner Frage. Weil der Hund seinen Namen gehört hatte, stand er plötzlich in der Wohnzimmertür und sah uns an. Der sieht so schön aus, dachte ich, ein prachtvoller irischer Setter. Ich winkte Caro zu mir, und er stellte sich neben meinen Stuhl, legte mir die Schnauze auf den Oberschenkel und schaute aus warmen braunen Hundeaugen zu mir hoch. Später, als wir die Mahlzeit beendet hatten und vor dem Kamin saßen, verspürte ich plötzlich ein leichtes Unbehagen. Ich dachte, es liege daran, dass ich zu viel gegessen hatte, und deshalb nickte ich, als Annar Kaffee kochen wollte, und dachte, der könnte doch belebend wirken. «Auch einen Cognac?», fragte Annar. «Ja, danke», sagte ich, aber als Annar in der Küche verschwunden war, bereute ich das und wusste, ich hätte den Branntwein ablehnen sollen. Trotzdem rief ich nicht hinter Annar her, dass ich mir die Sache anders überlegt hätte. Ich tat es nicht, weil ich wollte, dass alles so wäre wie immer am Heiligen Abend, auch Kaffee und Cognac gleich nach dem Essen. Ich stand auf und legte ein Holzscheit in den Kamin, dann zog ich eine neue CD aus dem Regal, Händels Klaviersuiten. Als ich an der Stereoanlage stand, fühlte ich mich für einen Moment schwindlig, deshalb ging ich sicherheitshalber zu meinem Sessel zurück. Der Schweiß trat mir wieder auf die Stirn, und weil ich glaubte, das werde helfen, öffnete ich noch einen Knopf an meinem Hemd. In diesem Moment brachte Annar die Kaffeetassen und die Schale mit dem Mandelkranz. «Ist dir heiß?», fragte Annar. «Sollen wir ein wenig lüften?» – «Gern», antwortete ich, obwohl ich wusste, dass nicht die Wärme im Haus an meinem Schweiß schuld war.
Und als ich ein Stück Mandelkranz aus der Schale nahm, glitt es mir aus der Hand, ehe ich hineinbeißen konnte. Verwirrt sah ich zu, wie es auf dem Boden zerbrach, ich begriff nicht, wie ich es hatte verlieren können, und gleich war der Hund da und verschlang die Brocken. Annar starrte mich fragend an, und ich brachte es nicht über mich, mir noch ein Stück Gebäck zu nehmen, ich erhob mich und sagte: «Caro, wollen wir ein wenig frische Luft schnappen?» Der Hund wedelte mit dem Schwanz und lief vor mir her in die Diele, und als ich hinterherging, hatte ich das Gefühl, mich in einem Traum zu bewegen. Ich musste einige Sekunden warten, ehe ich mich bücken und Caros Halsband fassen konnte. Dann öffnete ich die Tür und spürte die kühle Luft im Gesicht. Ich befestigte die Leine am Halsband, und als der Hund vor mir hersprang, blieb ich stehen und schaute hinter ihm her. In der Luft wirbelten einige leichte Schneeflocken. Über der Stadt lag ein gelblicher Lichtschein. Plötzlich verspürte ich eine Art Wehmut, ohne zu begreifen, warum, denn alles war mir so vertraut: die Aussicht von der Treppe, auf das Neonlicht der Tankstelle, den geschlossenen Imbiss und die Autowerkstatt. Von der Autobahn her hörte ich ein gleichmäßiges Rauschen, wenn auch nicht so deutlich wie an anderen Abenden.