Читать книгу Der Stand der Dinge - Odd Klippenvåg - Страница 7
ОглавлениеEr begreift, dass er ein wenig geschlafen hat, denn als er die Augen öffnet, ahnt er die Wand hinter dem Fußende des Bettes, und im Spiegel über dem Waschbecken sieht er das Fenster, obwohl die Vorhänge geschlossen sind.
Ich habe etwas geträumt, denkt er, etwas Weißes.
Er würde gern Wasser lassen, beschließt aber, bis zur Morgenwäsche durchzuhalten, oder bis die Nachtschwester noch einmal hereinschaut. Als er sich mühsam auf die Seite gedreht hat, weiß er, dass das nicht gehen wird, er kann es nicht schaffen, und deshalb muss er an der Leine ziehen.
Zum Glück ist an seinem Geruchssinn nichts auszusetzen, denn er kann den Duft der Chrysanthemen in der Vase auf dem Nachttisch riechen, als er nun wartet. Diese Blumen hat Annar bei seinem letzten Besuch mitgebracht, einen kleinen Strauß.
«Was ist los, Simon?», fragt die Nachtschwester.
«Ist heute Sonntag?», antwortet er.
«Ja», sagt sie. «Das weißt du doch.»
Dann kommt Annar, denkt er, weil Sonntag ist.
«Hast du deshalb geklingelt?», fragt die Nachtschwester und will schon wieder gehen.
«Nein», sagt er eilig, «du musst mir die Flasche geben.»
Sie knipst die Lampe über dem Bett an, und das Licht ist so grell, dass er die Augen zukneifen muss. Weil er das tut, kann er die Urinflasche nicht selbst entgegennehmen, und dann merkt er, wie die Schwester eilig die Decke hebt und sein Glied packt wie einen Wurm. Als er wieder hinschauen kann, kehrt sie ihm den Rücken zu.
«Fertig», sagt er und spürt, wie gut es tut, wenn die Blase leer ist.
«Jetzt musst du schlafen, Simon», sagt die Nachtschwester, als er ihr die Flasche reicht.
Er bittet sie, das Licht zu löschen, und als sie an der Tür steht, glaubt er, sie nicht auch noch um einen Schluck Wasser bitten zu dürfen, ehe sie verschwindet. Hermansen wimmert, das hört er jetzt.
Er hätte gern gewusst, was Hermansen träumt, wenn er im Schlaf so sehr stöhnt. Träumt er von einem Schäferstündchen mit seiner Frau oder von einer köstlichen Sahnetorte? Vielleicht gibt es da für ihn ja kaum einen Unterschied. Er hat nämlich gehört, dass Hermansen früher Konditor war, auch wenn es ihm schwerfällt, das zu glauben. Denn ab und zu, wenn sie ein seltenes Mal zum Nachmittagskaffee ein wirklich leckeres Stück Kuchen bekommen und nicht nur trockenen Sandkuchen, dann hat er versucht, Hermansen zu beobachten. Hat der eine andere Art zu essen, hat er sich gefragt, aber jedes Mal wird er enttäuscht, es ist nämlich unmöglich, irgendeinen Unterschied zwischen Hermansen und den anderen zu entdecken, und zu den anderen gehört auch er selbst. Hermansen bohrt den Teelöffel mit derselben Gier in das Kuchenstück und führt ihn ebenso zitternd zum Mund wie die anderen. Und er kaut und schmatzt hemmungslos. Er hätte geglaubt, er würde feststellen können, ob Hermansen wirklich die Qualität eines Kuchens bewertet, ob zum Beispiel ein deutliches Lächeln über sein Gesicht gleitet, wenn er auf dem Tisch eine köstliche Marzipantorte sieht, oder ob Hermansen sich vorbeugt, um sich in den Anblick der Verzierungen auf der Torte zu vertiefen, eine Sahneborte um den Rand, rote Marzipanrosen oder eine elegante Aufschrift in Karamell. Aber nein! Nie hat er gesehen, dass Hermansen zuerst die Füllung gekostet hätte, ehe er sich über den eigentlichen Kuchen hermachte. Hermansen müsste doch ganz andere Voraussetzungen haben, um eine reichhaltige Nusscreme zu bewerten ...
Dann fällt ihm ein, was er eben geträumt hat: Er stand in einem großen weißen Zimmer, ohne zu wissen, wo er war. Denn es waren weder seine eigenen Räumlichkeiten im alten Haus noch die seiner Eltern. Plötzlich fror er, und dann stand er in einer kalten Schneelandschaft. Kein Haus, keine Bäume. Kaum auch nur irgendwelche Umrisse. Nur die bläulichen Schatten des Schnees in dem vielen Weiß.
Ob Träume wirklich eine Bedeutung haben?, fragt er sich.