Читать книгу Tote Biber schlafen nicht - Olaf Müller - Страница 17
Die bitteren Tränen der
Marion Schnell
ОглавлениеDer Brunch nach dem Bäckerball war ihre Rettung. Die Nacht zu kurz, der Morgen verschattet. Ihr Chef irgendwann verschwunden. Sie tanzte bis um fünf Uhr. Die »Vier Amigos« rockten den Eurogress – wie jedes Jahr, wie immer. Die Hälfte des Lebens kam auf Marion Schnell zu. Im Sportstudio hielt sie sich topfit. Marion war immer dabei. Sie lachte gerne und laut. Sie tanzte die Konkurrentinnen an die Wand, und als Schatten von Dr. Wilfried Brauers, Karnevalsprinz a. D., gelangte sie manchmal auf die Einladungsliste für Feste und Feiern. Sie war mehr als seine Sekretärin, mehr als seine Büroleiterin. Damals war sie noch mehr. Bis in die Nacht im Büro, zum Abschluss Champagner aus dem Bürokühlschrank, die Freude über den Erfolg, all die Stunden, all die Tage, all die Wochen. Sie lebte den Job, sie liebte ihren Chef. Die coole Eleganz, Überblick, Kreativität, sein Gespür für Chancen, Entwicklungen. Wilfried wusste, wie die Welt funktioniert. In ihren Augen. Sie spürte, dass es nicht lange halten würde. Brauers war Trophäenjäger. Aber bei ihr war es anders. Hatte er ihr gesagt, der blonden Marion Schnell, mit den blauen Augen, der engen Jeans, den endlosen Beinen, nach denen sich trotz Me-Too-Debatte die Männer auf der Straße umschauten. Außerdem lächelte sie gerne, und das Wort »Flirt« stand nicht auf ihrem Index der verbotenen Wörter und Taten.
Der letzte Apérol war einer zu viel. Samstagsbrunch im Hause Paffenhoven. Ihr Chef wollte auch kommen. Das Tattoo am Fußgelenk juckte. Kaum zu sehen. Rouge, Designerjeans, Lederjacke. Wird schon. Ihr knatschgelber VW Beetle parkte in der Tiefgarage vom Eurogress. Sie bestellte ein Taxi für die Fahrt zum Brunch. Das Handy klingelte.
Verweint saß sie wenig später auf ihrem Sofa und hielt einen Teddy im Arm. Das Rouge war mit den Tränen auf die Lederjacke gelaufen. Von dort auf die hellblaue Jeans. Fett und Schmelzer trafen kurz nach ihrem Anruf ein und kondolierten zum Tod von Dr. Wilfried Brauers.
Schmelzer schaute sich um. Seilgraben, Innenstadtlage, Mietwohnung. Marion Schnell war Stammkundin der großen Möbelhäuser in der Region. Hier und da ein Accessoire aus einem Designerladen. Krimis von Martin Suter. BRIGITTE woman, »Landlust«, eine CD von »AnnenMayKantereit«, Einladung zum Bäckerball. Eine alleinstehende Frau, attraktiv, bei einem der Macher der Stadt beschäftigt.
»Wann haben Sie Ihren Chef zuletzt gesehen?« Fett sprach sie mit ruhiger Stimme an.
»Gestern. Auf dem Bäckerball. Er saß vorne. An der Bühne. Bei den wichtigen Leuten.«
»Wo saßen Sie?«
»Hinten. Mit meinen Freunden.«
»Haben Sie eine Uhrzeit für uns, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«
»Nach den ›Vier Amigos‹. Das war gegen 23 Uhr. Er ging raus, winkte mir zu. Ich blieb an meinem Tisch. Sie können ja meine Freunde fragen.«
»War er alleine?«
»Ja.« Sie wischte sich die Tränen ab. Fett reichte ihr ein neues Papiertaschentuch.
»Scheiße. Wie ist das passiert?« Marion Schnell pendelte zwischen Wut und Trauer.
»Darüber können wir noch nichts sagen.«
»Sie sind doch von der Mordkommission. Wie ist er ermordet worden? Wer tut so etwas?«
»Frau Schnell, auch Selbstmord kommt in Betracht. Sie kennen doch den Satz aus jedem ›Tatort‹: Wir stehen am Anfang der Ermittlungen.«
»Quatsch. Wilfried Brauers hätte nie Selbstmord begangen. Auch wenn er in letzter Zeit etwas nachdenklicher war, weil er so viele Bälle in der Luft hatte.« Marion Schnell blickte ernst und bestimmt. »Das Einkaufszentrum ›Karls-Quartier‹ ist doch gerade fertig. Die Kaufverträge für Objekte in Bonn, Neuwied, das neue Schwimmbad in Düren sind unterschriftsreif. Bei Heimbach an der Rur der Ferienpark für die Niederländer. Sogar irgendwo in Polen bei Salino oder Solina plante er ein riesiges Objekt. Nächstes Jahr sollte er den Vorsitz des Lions Club Salvator übernehmen. Wilfried hat sich nicht umgebracht.«
»Hatte er Feinde? Ist Ihnen etwas aufgefallen?« Schmelzer schaltete sich ein.
»Neid, Konkurrenz. Die großen Macher können Sie an einer Hand abzählen. Wilfried war einer von ihnen. Immer im Wettbewerb. Das war Alltag.«
»Geht es etwas konkreter?«
»Nein. Wilfried war korrekt. Konkurrenz ja, keine Drohungen.«
»Seine Frau?«
»Kein Kontakt. Seit der Trennung vor 15 Jahren. Sie bekommt sein Geld. Macht sich ein schönes Leben in New York.«
»Hatte er keine Freundin?«
»Dr. Wilfried Brauers war mit seinem Job liiert. Ansonsten Affären. Nichts Bedeutendes.«
»Und aktuell?«
»Keine Ahnung. Irgendwas lief immer. Wir haben das Thema ausgeklammert.«
»Warum?«
»Weil wir selbst mal kurz zusammen waren. Damit kamen wir klar. War alles erledigt. Trauerarbeit. Wenn Sie verstehen. Sie erfahren es ja sowieso.«
»Trauerarbeit? Dann können Sie ja jetzt weitermachen.«
»Find ich geschmacklos von Ihnen.«
»Frau Schnell, wir ermitteln. Ihr Chef hing heute Morgen an einer Brücke in der Eifel. Alles sehr unangenehm. Vor allem für ihn. Wir ziehen Ihnen alles aus der Nase.«
»Hören Sie! Vor wenigen Stunden habe ich Wilfried noch lebendig gesehen. Jetzt kommen Sie rein, quatschen von Mord oder Selbstmord und wollen von mir wissen, wer ihn umgebracht haben könnte. Meine Existenz ist am Arsch! Seine Alte in Hoboken erbt alles. Ich steh auf der Straße und kann bei irgendeinem Bürofuzzi Exceldateien für Mindestlohn tippen. Soll ich jetzt Hurra rufen und Ihnen eine Mörderliste geben?«
»Frau Schnell, so haben wir das nicht gemeint. Je mehr Sie uns sagen, umso schneller können wir den Fall aufklären.«
»Dann klären Sie mal auf. Und lassen Sie mich in Ruhe. Man verliert nicht einen Menschen wie ein altes Portemonnaie. Wir kannten uns über 20 Jahre.«
»Rufen Sie uns bitte an, wenn Ihnen etwas einfällt. Sie erreichen uns immer.«
»Den Terminkalender von Dr. Brauers. Wo finden wir den?«
»War in seinem Handy und die geschäftlichen Termine auf meinem PC im Büro. Passwort ›Wilfried2003‹.«
Fett betrachtete ihre lackierten Fingernägel, die verweinten Augen, die blonden Strähnen. Wenigstens kein Nagelstudio, dachte er. Ob sie viele Tattoos hat? Er sah nur am linken Fußgelenk einen Buchstaben. Sah nach einem W aus. Für Wilfried? Die einsamen Abende im Büro konnte er sich gut vorstellen. Von ihr ging eine durchdringende erotische Ausstrahlung aus. Es knisterte. Ob Schmelzer das auch spürte? Der Kollege schaute interessiert die Inneneinrichtung an. Wahrscheinlich holte er sich Ideen für sein Fertighaus am Steppenberg. Er reichte Marion Schnell die Hand. Selbst da noch spürte er das Kribbeln, die Ausstrahlung einer lebensfrohen und verdammt attraktiven Frau Ende 30, Anfang 40.