Читать книгу Tote Biber schlafen nicht - Olaf Müller - Страница 9
Tödliche Abzweigungen
ОглавлениеHaberstock hatte Flugangst, besaß kein Auto, und mit dem Zug würde die Reise zwei Tage dauern. Er stieg in den Fernbus Richtung Krakau und überquerte bei leichtem Schneefall in Görlitz die Grenze. Dann ging es auf der A 4 an Wrocław, also Breslau, entlang in Richtung Kattowitz. Von da aus war es ein Katzensprung zur ehemaligen Hauptstadt Polens, dem schönen Krakau. Wäre da nicht der Autobahnabzweig nach Oświęcim: Auschwitz. Nachdenklich hing er in seinem Fenstersitzplatz. Was war sein Vater im Zweiten Weltkrieg? Schweigen. Das große Schweigen. Nie hatte er mit ihm darüber gesprochen. Erst nach dem Tod seiner Mutter entdeckte er Unterlagen über seinen Vater Egon, an den er sich nicht erinnern konnte, weil er so früh aus seinem Leben verschwunden war. Unterlagen über dessen Zeit als Soldat. Ein Foto in schwarzer Uniform. Der Name Stroop schoss ihm durch den Kopf. SS-Panzergrenadier- und Ausbildungsbataillon 3 in Warschau. Dann muss sein Vater um Versetzung gebeten haben. Ein Foto von ihm. Auf dem Kragenspiegel links SS-Runen, rechts ein Totenkopf. Ihm grauste. Er wollte es nicht wissen. Als er klein war, da kamen Herren zu Besuch. Sie zogen sich mit Mutter zurück. Manchmal horchte er an der Tür: Warschau, Ghetto-Aufstand, Versetzung, Kamerad Haberstock, Führer, Vaterland, Argentinien, Mengele, Höß, Rudel, Eichmann. Seine Mutter hatte leise und still gelitten. Vater wurde vermisst. Wie so viele. Haberstock wuchs ohne ihn auf. Nun passierte er die Ausfahrt nach Auschwitz. Die Historiker und Politologen der Philosophischen Fakultät sprachen immer wieder über Auschwitz und das kollektive Gedächtnis, über den Holocaust, die Shoa. Haberstock wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Sein Zuhause war die Biologie, genauer gesagt, die Familie der Biber. Bereits als kleiner Junge war er an den Bächen und Flüssen der Eifel auf der Suche nach Biberspuren gewesen. Er war damals die Rur entlang geradelt, warf seinen Blick auf die Bäume am Ufer und krachte oft mit anderen Radlern zusammen. Sein Blick galt den Bibern. Diese Nager, diese possierlichen Tierchen, wie Loriot einst sagte, sie wurden der Kern seiner Forschung. Er, Haberstock, war die Biberkoryphäe in Europa. Wäre doch gelacht, wenn er den Polen nicht helfen könnte. Vortrag und Ortsbesichtigung in Lesko und Cisna am Fluss Solinka; er würde rasch die geeigneten Maßnahmen und Methoden vorschlagen und darüber dann einen Aufsatz schreiben.
Kurze Zeit später tauchte die Abfahrt Krakau-Zentrum auf. Seine Nachbarin im Bus, die erzählfreudige Doktorandin Agnieszka Globus aus Krakau mit ihren langen schwarzen Haaren, empfahl ihm die Sehenswürdigkeiten. Sie stammte, wie sie mit einem leicht polnischen Akzent sagte, aus der Stadt an der Weichsel, promovierte in Göttingen an der Fakultät für Agrarwissenschaften und sollte eines Tages den Kleinbauernhof ihrer Großeltern in der Nähe von Krosno zu einem Musterbetrieb für biologische Landwirtschaft entwickeln. Das erzählte sie dem liebenswerten alten Herrn Professor, der seine väterlichen Augen nicht von ihr wenden konnte, auch nicht von ihrem knappsitzenden T-Shirt unter dem wärmenden Mantel und der hautengen Lederhose. Sie schwärmte mit Begeisterung und Freude von den Tuchhallen, dem Wawel, den Planty, der Universität und dem jüdischen Stadtviertel Kazimierz. Dort habe Steven Spielberg einst Szenen für »Schindlers Liste« gedreht. Dort finde jedes Jahr im Sommer ein jüdisches Kulturfestival statt. Haberstock müsse einfach im Sommer wiederkommen und nicht im Februar. Im Sommer, vor der Marienkirche, da sei es fast so wie in Italien, nur anders, aber auch wieder nicht sehr viel anders. Ach, dem Turmbläser, dem müsse er zuhören. Er spiele zu jeder vollen Stunde und verstumme plötzlich. Zur Erinnerung an den Bläser, der vor dem Angriff der Tataren mit einem Signal warnte und mitten im Ton von einem Pfeil im Hals getroffen wurde. Haberstock schauderte ein wenig. Doch das Lächeln der vollen Lippen von Agnieszka lenkte ab. Er dachte an Napoleon. Da war doch was mit einer polnischen Liebe. Die Aussichten bei der Fahrt durch Krakau vertrieben die Gedanken an den kleinen Korsen. Die Straßen waren belebt, die Straßenbahn brummte um die Innenstadt, der Turm der Marienkirche strahlte, der Wawel war leicht mit Schnee bedeckt. Haberstock reichte Agnieszka seine Visitenkarte und näherte sich ihr mit dem Restduft seines After Shaves bedrohlich, nahm erstaunt und dann erfreut die Apfelsaft-Minz-Flasche von ihr als Geschenk, die sie ihm so gerade vor die Nase hielt, damit er ihr nicht die Wange küssen konnte.
»Dzienkuje, danke, danke, liebe Pani Agnieszka. Sie haben einem alten Professor die Fahrt verkürzt und meine Vorfreude auf Krakau enorm gesteigert. Sie sind eine wundervolle Botschafterin Ihres Landes. Danke, danke. Viel Erfolg für Ihre Doktorarbeit. Wenn Sie nach Aachen kommen, bitte melden Sie sich. Ich habe auch ein Gästezimmer. Leben Sie wohl.« Das Gästezimmer war leicht geflunkert, eher ein Klappsofa im Arbeitszimmer. Er dankte nochmals für die Einladung, dann nahm er ein Taxi zur Ulica Garbarska, sein Zimmer war reserviert. Morgen würde er vortragen, übermorgen eine Exkursion nach Lesko machen. Die Luft im Bus war trocken, er trank stets zu wenig, wie so viele alte Menschen.