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Ein Zusammenfluss verschiedener Strömungen
ОглавлениеGegen Ende eines zehntägigen Retreats saß ich, damals Mitte zwanzig, mit Dr. Marshall B. Rosenberg und seiner Frau beim Frühstück zusammen. Ich war Rosenberg, dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), einige Jahre zuvor begegnet und wollte ihm gegenüber meine Dankbarkeit über die tiefgreifenden Veränderungen zum Ausdruck bringen, die ich durch seinen Kommunikationsansatz in meinem Leben erfuhr. Als jemand, der seit langer Zeit meditierte, wollte ich zudem gern meine Gedanken darüber teilen, wie Meditation dem Prozess der GFK zugute kommen könnte.
Das war zu Beginn der 2000er-Jahre, noch bevor die Achtsamkeit ihren großen Boom erlebte. Ich erklärte, wie man durch Achtsamkeitspraxis inneres Gewahrsein entwickelte, eine Voraussetzung dafür, Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen und sich ihrer bewusst zu bleiben – das Herzstück der GFK –, und dass es sich daher um ein entscheidendes Puzzlestück handle, das im GFK-Modell bislang fehle. Ich war hocherfreut und ein wenig erstaunt, als er mir rundheraus zustimmte! Er erzählte etwas entmutigt, dass er seit einiger Zeit herauszufinden versuche, wie er den Leuten beibringen könne zu meditieren, unter anderem verwendete er dabei eine Kappe mit einem Giraffenbaby, eine Abwandlung der für seine Arbeit charakteristischen Handpuppen. Dann sah er mich über den Tisch hinweg mit einem verschmitzten Lächeln an und sagte: »Aber vielleicht ist das ja deine Aufgabe.«
Und so begann eine Reise von inzwischen fast zwei Jahrzehnten, während der ich daran arbeitete, mein Verständnis von buddhistischer Meditation und Gewaltfreier Kommunikation zu integrieren. Die Inhalte, die ich auf diesen Seiten mit Ihnen teile, sind eine Synthese aus drei verschiedenen Praxisströmen. Der erste grundlegende Strom ist die Achtsamkeitspraxis, so wie sie aus der buddhistischen Theravāda-Tradition hervorgegangen ist (insbesondere aus den Schriften und Praktiken des burmesischen Satipatthāna und der Thailändischen Waldtradition). Der zweite besteht in dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation, entwickelt von Dr. Rosenberg, dessen bahnbrechendes Buch Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens3 ein weltweiter Bestseller ist. Die GFK wird international zur Konfliktlösung und für gewaltfreie gesellschaftliche Veränderungsprozesse eingesetzt, sie wird für zwischenmenschliche Kommunikation und Mediation sowie auch für persönliches Wachstum und therapeutische Prozesse genutzt. Die dritte Methodologie, die dieses Buch prägt, beruht auf meiner Ausbildung in Somatic Experiencing, einer von Dr. Peter A. Levine entwickelten therapeutischen Technik, in der die Rolle der Regulation des Nervensystems bei der Verarbeitung von Traumata besonders betont wird.
Ich konnte feststellen, dass diese drei Ströme zusammen ein starkes Potenzial besitzen, unser Selbstverständnis zu vertiefen und unsere Kommunikationsgewohnheiten zu verändern. In den Anfangsjahren meiner Praxis entdeckte ich viele Synchronizitäten zwischen diesen Methoden und den ihnen zugrunde liegenden Theorien. In meiner Begeisterung vollführte ich einige geistige Verrenkungen in dem Versuch, die Methoden miteinander in Einklang zu bringen, auf der Suche nach einer kohärenten übergreifenden Systematik. Es dauerte seine Zeit, bis die verschiedenen Perspektiven sich in mir setzten und ich erkannte, dass es sich dabei schlicht um verschiedene Möglichkeiten handelte, menschliche Erfahrungen zu verstehen. Zwar überschneiden sie sich in einigen Bereichen, doch sie müssen nicht perfekt zusammenpassen, um nebeneinander zu funktionieren oder sich gegenseitig zu fördern.
Wenn mehrere Ströme zusammenfließen und einen Fluss bilden, lässt sich nicht mehr unterscheiden, woher das Wasser kommt. Und so können diese drei Ansätze und ihre jeweiligen Praktiken gewissermaßen als ein Fluss betrachtet werden, ein nahtloses Ganzes, in dem jeder Strom verschiedene Facetten der ganzheitlichen Erfahrung des Lebendigseins beschreibt und vertieft.
In diesem Sinne sind auch die Inhalte dieses Buches zu einem Ganzen zusammengefügt. Zwar spreche ich nicht explizit über die buddhistischen Lehren, aber jene Leser, die damit vertraut sind, werden ihre Weisheit durchscheinen sehen. Auch das Somatic Experiencing streife ich eher flüchtig (mit Ausnahme eines wichtigen Abschnitts zu herausfordernden Situationen in Kapitel 13). Statt zu versuchen, das Wasser des Flusses diesem oder jenem Strom zuzuordnen, konzentrierte ich mich darauf, ein möglichst verständliches Handbuch zu den Grundlagen der zwischenmenschlichen Kommunikation zu verfassen, das seinen Leser:innen dabei helfen soll, das eigene Leben ganz konkret in die Hand zu nehmen und positiv zu verändern.