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II. Gastfreunde bei Homer

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In den Gedichten Homers wird zum ersten Mal in allen Einzelheiten die Gastfreundschaft (xenía) sichtbar als eine Institution, die in einem überörtlichen Netzsystem eine ganze Gesellschaftsschicht umfasst und verbindet. Gegenseitigkeit ist seine Grundlage. Homer hebt sie in der Odyssee (4,33 ff.) ausdrücklich hervor, als er die Ankunft des Nestor-Sohnes Peisistratos und des Odysseus-Sohnes Telemachos bei Menelaos, dem König von Lakedaimon, beschreibt. Der Diener meldet dem gerade das Hochzeitsmahl seiner zwei Kinder feiernden König die Ankunft eines Wagens mit zwei Fremden und fragt, ob er sie weiter schicken solle. Menelaos tadelt, wie er so etwas bloß fragen könne: Wir beide haben doch fürwahr ausgiebig die Gastlichkeit anderer Menschen genossen, bevor wir hierher gekommen sind; möge uns Zeus nur auch in Zukunft vor Not verschonen. Also spanne die Pferde der Fremden aus und führe sie sodann herein, dass sie mit uns bewirtet werden. Die Tiere werden in den Stall gebracht und gefüttert, die Gäste gebadet, danach gesalbt und festlich gekleidet. An der Tafel werden ihnen nach der Handwaschung die Speisen vorgesetzt, und Menelaos begrüßt sie (4,60–61): Greift zu, ihr beiden, und lasst es euch schmecken! Dann, wenn ihr euch am Mahle gesättigt habt, wollen wir euch fragen, wer ihr seid. Erst nach einer längeren Rede des Königs, als dieser und die Königin schon vermuten, der Gast sei Telemachos, ergreift der ältere der beiden Gäste das Wort und stellt sich und Telemachos vor. Das Schweigen des jüngeren erklärt er (4,158–160): Er ist verständig und empfindet es als unanständig, kaum angekommen sogleich vor dir mit Reden herauszuplatzen. In der ganzen Szene bleibt selbstverständliche Voraussetzung, dass die beiden Jünglinge Edelleute sind.

Die Verpflichtung der Gegenseitigkeit, wie sie der Inbegriff von xenía ist, kann nur von denen erfüllt werden, denen es ihr Reichtum gestattet. Zwar fällt man nach Verlust des Besitzes nicht sogleich aus dem Kreis der Berechtigten heraus. Doch man muss vorher geraume Zeit der Adelsgesellschaft angehört haben, innerhalb deren das Gebot der Gastfreundschaft gilt. Es sind Angehörige dieser Klasse, die auf Reisen gehen, denn Reisen sind beschwerlich und nicht ungefährlich. Dem einfachen Bauer oder Hirten fehlen die Mittel dazu, er bleibt ortsgebunden und verlässt kaum jemals aus freien Stücken seine engere Heimat. Um sich ihren Lebensunterhalt in der Fremde zu holen, ziehen nur Bettelleute umher und bei Homer die Rhapsoden, die an den Höfen der Adligen ihre Lieder und Epen vortragen. Als der Held Odysseus in der Gestalt eines Bettlers im Palast von Ithaka erscheint, denkt niemand daran, ihm mehr als einige Almosen, und selbst die nicht unbestritten, zu gönnen. Erst nachdem es ihm gelingt, indem er Nachrichten über den Verbleib des verschollen geglaubten Odysseus verspricht, ein Gespräch mit der Herrin Penelope zu erlangen und sich vor ihr als kretischer Königssohn ausgibt, ordnet Penelope an, ihm die Füße zu waschen (19,356ff.). Jetzt wird er als Gast behandelt.

Was Voraussetzung ist für die Rolle des Gastes, gilt ebenso für die des Gastgebers. Den Sauhirten Eumaios, der den heimkehrenden Odysseus, ohne ihn zu erkennen, als einen mittellosen Flüchtling beherbergt, macht der Dichter Homer zu einem in seiner Kindheit von phönizischen Räubern entführten Königssohn (15,412–484), der nach Ithaka als Sklave verkauft wurde. Denn edle Art ist nach den Vorstellungen der frühgriechischen Adelsgesellschaft, wie sie noch Pindar lehrt, angeboren, nicht anerzogen. Homers Zuhörer, selbst alles Angehörige dieser Gesellschaft, würden einem Sauhirten edles Handeln nicht ohne weiteres zutrauen; es wird glaubhaft gemacht durch eine adelige Abstammung. Sogar unter Göttern wird xenía nur von gleich zu gleich geübt. Weil Hephaistos nach seinem Sturz aus dem Himmel von der Meeresgöttin Thetis aufgenommen worden ist, ist er ihr Gastfreund, empfängt sie in seinem Haus und erfüllt ihr ihre Wünsche (Ilias 18,387ff.).

Über die Stammes- und Ortsgrenzen hinweg sind die Adelsfamilien miteinander durch Heiraten verbunden und die xenía kommt hinzu, um zusätzlich die Bindung untereinander zu verstärken. Es ist darum nicht bloß wichtig, die Namen der eigenen Vorfahren und Verwandten zu kennen und imstande zu sein, sie dort, wo man gastliche Aufnahme finden will, aufzuzählen, sondern auch über die Gastfreunde gut Bescheid zu wissen. Die Gastgeschenke (xénia), die den Eltern und Vorfahren ins Haus gebracht wurden, sind in den Gemächern aufgestellt, und schon die Kinder merken sich die Namen der Geber. Mit einem solchen Wissen ausgestattet darf man auf Reisen damit rechnen, von Ort zu Ort gastliche Aufnahme zu finden. Bei größeren Gastgeschenken, die man nicht mitführen kann, genügt es, den Namen des berühmten Stifters zu nennen; je mehr Gaben von Helden ein Haus aufweisen kann, je weiter die Gastfreundbeziehungen in alle Welt reichen, desto angesehener ist das Geschlecht. Kleinere xénia, z. B. einen Ring, kann man bei sich tragen und sich damit ausweisen. Homer gebraucht nie das Wort Symbolon (siehe unten S. 43), Bezeichnung für das Vorzeigestück, mit dem sich Personen aus in Freundschaft verbundenen Geschlechtern beim ersten Treffen miteinander bekannt machen. Das Fehlen des Wortes will nicht besagen, es habe auch die Sache in der von Homer besungenen Vorzeit nicht gegeben, nämlich die Hälften eines auseinander gebrochenen Knochens oder Holzes, von denen jeder Beteiligte die eine mitbringt. Das genaue Nachprüfen, ob die Bruchflächen zweier kleiner Gegenstände exakt aufeinander passen, ist eine ganz und gar unheroische Handlung. Unter homerischen Helden muss das Wort genügen. Der Dichter hat gut daran getan, die Begegnung zweier großer Herren nicht mit solchen Kleinigkeiten zu belasten. Doch das Recht der Gastfreundschaft ist vererbbar und auf Freunde übertragbar, die man seinem Gastfreund anempfiehlt, indem man ihm bestätigende Zeichen mitgibt. Xeinos patroios (Gastfreund vom Vater her) ist ein Wort, das fällt, wenn sich Kämpfer bei Homer gegenübertreten und als Gastfreunde erkennen.

Es gibt Ausnahmesituationen. Die eine ist das Zusammentreffen mit Barbaren, die keine Regeln der Gastfreundschaft kennen. Wenn alle anderen Mittel versagen, versucht man unter Berufung auf die Götter, ob sie Angst vor deren Macht empfinden. So geht Odysseus vor, als er mit seinen Gefährten in die Höhle des wilden Kyklopen Polyphemos eingedrungen ist (Od. 9,269 ff.). Polyphem erweist sich sofort, als er die Fremden sieht, als einer, der keine Sittenregel kennt, indem er gleich fragt: Wer seid ihr? Odysseus stellt sich und seine Leute vor und unterstreicht seine Bitte mit den Worten: Doch scheue, bester Mann, die Götter. Schutzflehende sind wir, und Zeus xenios ist der rächende Beschützer der Schutzsuchenden und der Fremden, er, der den heilig zu achtenden Fremden beisteht. Der Menschenfresser erwidert darauf mit in griechischen Ohren lästerlichen Reden: Ein Narr bist du, Fremder, oder von weither bist du gekommen, dass du mich aufforderst, Götter zu fürchten oder zu achten. Wir Kyklopen kümmern uns um keinen Zeus und keine Götter, weil wir ja bei weitem die Stärkeren sind. Die Verachtung des heiligen Sittengebots (themis) charakterisiert den Unmenschen.

In einer besonderen Situation befindet sich der Schutzflehende (hiketes) auch da, wo griechisches Gastrecht gilt. Denn ein einmal begründetes Gastfreundverhältnis geht für beide Seiten weit über den Anspruch auf Beherbergung hinaus. Es verpflichtet ganz allgemein zu freundschaftlichem Verhalten bei jeder Art von Begegnung. Sogar wenn sich Gastfreunde oder ihre Nachkommen im Krieg als Feinde gegenüber stehen, soll die Gastfreundschaft ihr Verhalten bestimmen. Leuchtendes Vorbild ist die Ilias-Szene (6,119 ff.), in der Homer den Griechen Diomedes und den Lykier Glaukos aufeinander treffen lässt. Diomedes fragt vor dem Kampf den ihm unbekannten Gegner, wer er sei, und Glaukos berichtet die Geschichte seiner edlen Vorfahren. Daraus erkennt Diomedes, dass ihre Großväter Gastfreunde waren. Er hat als Knabe das in der Familie gehütete Gastgeschenk des Bellerophontes, des Ahnherrn des Glaukos, mit eigenen Augen gesehen. Die beiden sind also Erbgastfreunde (xeinoi patroioi). Zum Zeichen der fortwährenden Freundschaft schlägt Diomedes vor, ihre Rüstungen zu tauschen. Sie steigen von den Streitwagen herab und reichen sich die Hände. Da wiederum nahm Zeus dem Glaukos die Besinnung, so dass er an den Tydeus-Sohn Diomedes seine Rüstung im Tausch hergab, die goldene gegen eine aus Bronze, hundert Rinder wert gegen eine im Wert von neunen. Es gehört zur Adelsethik, dass der ungleiche Wert der Gaben großzügig übersehen wird; nur der Dichter nimmt es aus der Sicht seiner anderen Gesellschaftschicht wahr.

Dem Schutzflehenden, der sich nicht auf ein bestehendes Gastrechtsverhältnis berufen kann, kommt keine derartige Rücksicht zugute. Wenn er auf dem Schlachtfeld mit der üblichen Geste die Knie des Siegers umfasst, erfährt er keine Gnade. Als Menelaos bereit ist, dem Adrastos das Leben zu schenken, ruft Agamemnon ihn zur Ordnung und verbietet ihm die unangebrachte Weichheit. Der Gefangene wird getötet (Ilias 6,45 ff.). In der Ilias wird keiner von all den schutzflehenden Kämpfern erhört. Nur unbewaffnete Feinde werden zuweilen am Leben gelassen und als Sklaven verkauft (21,100 ff.). In der Odyssee (14,276 ff.) berichtet zwar Odysseus, er sei als Anführer eines Beutezugs gegen Ägypten nach verlorenem Kampf vom König begnadigt und vor den rachedurstigen Ägyptern in Schutz genommen worden: Aber jener hielt sie davon ab; er scheute den Zorn des Zeus xenios, der böse Taten aufs Schwerste verübelt. Doch die ganze Geschichte ist von Odysseus bloß erlogen. In der Schlacht macht der Sieger von seinem Willkürrecht rücksichtslos Gebrauch.

Eine glückliche Aussicht hat der Schutzflehende erst, wenn er das Haus des um Hilfe Angegangenen betreten hat. Damit ist er Gast geworden und kann von nun an nicht mehr ohne Verletzung von Sitte und Götterwille abgewiesen werden. Der Platz am Hausherd, dem heiligsten Ort im Hause, gibt ihm höchste Sicherheit. Homers Ilias beginnt mit dem Götterzorn, ausgelöst durch Agamemnons unfreundliche Behandlung des Priesters Chryses, der vor ihm bittend erscheint, um seine gefangene Tochter loszukaufen. Der Anspruch des Bittstellers wird noch verstärkt durch seine Priesterwürde. Doch gegen den Rat aller anderen Griechenfürsten weist Agamemnon ihn mit schnöden Drohungen ab. Der aus dem Haus gejagte Apollonpriester bittet seinen Gott, die Griechen für seine Tränen büßen zu lassen. Der Heilgott Apollon sendet eine Seuche, welche zwar Agamemnon zum Nachgeben zwingt, aber ihn in Streit mit Achilleus bringt, mit dem das tausendfache Leid beginnt, das der Dichter in den ersten Versen als das Thema seines Gedichts angekündigt hat. Er beendet das Epos mit einer versöhnlichen Szene als vorbildliches Gegenstück richtigen Verhaltens: Achilleus achtet und erhört den unter göttlichem Schutz in sein Zelt gelangten Troerkönig Priamos. Er hebt den Knieenden mit eigener Hand auf, nimmt die Gaben, die er als Lösegeschenk mitbringt, an und gibt ihm den toten Sohn Hektor heraus. Er ehrt ihn mit den symbolischen Zeichen der Gastfreundschaft, indem er seine Pferde und Maultiere versorgen lässt, ihm einen Sitz anbietet, gemeinsam mit ihm isst und ihm samt seinem Gefolge das Nachtlager herzurichten befiehlt. Damit erfüllt er die Gebote des Zeus xenios. Homer vergleicht das erste Auftreten des Priamos vor Achilleus ausdrücklich mit dem Erscheinen eines Schutzflehenden im Hause (Ilias 24,480 ff.): Wie wenn schwere Schuld einen Mann geschlagen hat, der in seiner Heimat einen Menschen getötet hat und zu einem fremden Stamm entkommen ist ins Haus eines reichen Mannes, und erschrecktes Staunen erfasst alle, die ihn erblicken. Das sakrale Recht macht keinen Unterschied zwischen dem ungewollten Verursacher eines Todes und dem Mörder; beide sind schuldbefleckt und Träger eines Fluches, der sich ansteckend auf ihre Umgebung überträgt. Deshalb werden sie aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen und als Flüchtige überall gemieden. Gelingt es dem Fluchbeladenen dennoch, unter das Dach eines Hauses zu kommen, wird der Hausherr ihn rituell von der Befleckung reinigen und ihn als Gast aufnehmen. So ist auch Phoinix, flüchtig vor der Versuchung, zum Mörder seines ihm zürnenden Vaters zu werden, Hausgenosse des Peleus und Erzieher von dessen Sohn Achilleus geworden (Ilias 9,447ff.).

Das Haus ist Schutzzone. Während des Zuges der Sieben gegen Theben kommt Tydeus als Gesandter in den thebanischen Königspalast (Ilias 4,384 ff.). Gesandten und Herolden steht das Gastrecht in besonderem Maße zu. So teilt Tydeus dort als Tischgenosse die Mahlzeiten und in Wettkämpfen mit den edlen Thebanern bleibt er stets Sieger. Das ärgert die Unterlegenen; aber erst als er das Haus verlassen hat und den Heimweg antritt, fallen sie ihrer fünfzig aus dem Hinterhalt über ihn her. Ihn im Hause zu töten wäre ein noch viel verabscheuenswürdigeres Verbrechen gewesen. Iphitos, dem Odysseus im Palast der Orsilochos begegnet war (Odyssee 21,15 ff.), als sie beide in Verfolgung von Viehdiebstählen unterwegs waren, bekam es mit Herakles zu tun, der ihn als einen Gast im Hause totschlug und die geraubten Pferde behielt. Herakles traute der Mythos schreckliche Gewalttaten zu; aber Homer hebt doch eigens hervor, er habe mit dem Mord am Gast im eigenen Haus eine unerhört grausame Freveltat begangen, weder das strafende Auge der Götter achtend noch den Tisch, den er selber ihm zum Mahl vorgesetzt hatte. Proitos (Ilias 6,167 ff.) ist vorsichtiger. Obwohl er den verleumdeten Gast Bellerophon des Ehebruchs mit seiner Frau für schuldig hält, tötet er ihn nicht im Hause. Er schickt ihn mit einem Brief zu seinem Gastfreund ins ferne Lykien. Der Brief fordert den Empfänger auf, den Überbringer zu töten. Doch der Lykier bewirtet den Gast erst neun Tage lang, bevor er ihn nach seinem Auftrag fragt, und als er den ausgehändigten Brief gelesen hat, scheut er vor dem Mord im Hause zurück. Er schickt den Gast auf gefährliche Abenteuer, die Bellerophon alle übersteht, worauf der König von Lykien ihn zu seinem Schwiegersohn macht.

Die Grundregel, die dem Fremden einen Gastrechtsanspruch von drei Tagen gewährt, wird bei Homer ständig überschritten. Seine Gastgeber rechnen es sich zur Ehre an, einen Gast über längere Zeit bei sich zu halten. Darin zeigt sich ebenso wie in der Zahl der im Haus aufbewahrten Gastgeschenke der Reichtum und das Ansehen des Gastherrn. Oineus hält Bellerophon zwanzig Tage bei sich zurück (Ilias 6,217), Menelaos bittet Telemachos, bis zum elften oder zwölften Tag zu bleiben (Odyssee 4,588), Aiolos bewirtet Odysseus einen ganzen Monat, um sich alles, was er wissen will, berichten zu lassen (Odyssee 10,14). Der Gastgeber darf nämlich vom weit gereisten Gast eine ausführliche Erzählung interessanter Begebenheiten als Gegenleistung erwarten.

Eine Verlegenheit bereitet es, wenn sich ein Mittelloser einstellt. Zwar schützt Zeus xenios Fremde und Bettler (xeinoi te ptochoi te) in gleicher Weise (Odyssee 6,207 f.; 14,57 f.), doch unter Menschen wird mit unterschiedlichem Maß gemessen. Wie aber erkennt man, ob der Fremde ein durch widrige Umstände in Not geratener Edelmann ist oder bloß ein ganz gewöhnlicher Bettler? Es gehört dazu eine Unterscheidungsgabe, die auf innerer Wesensverwandtschaft beruht: Der Edle erkennt den Edlen. Der nackte Schiffbrüchige Odysseus (6,135 ff.) versetzt bei seinem Auftritt zwar die Mägde in Schrecken, die Königstochter Nausikaa jedoch erkennt seinen Rang (6,187): Fremder, weil du weder einem gemeinen noch einem geistesverwirrten Manne gleichst … Odysseus tut deshalb keine Fehlbitte, wird gekleidet und in den Palast geleitet. Auch der Sauhirt Eumaios (Homer nennt ihn göttergleich [dios], mit demselben Prädikat versehen wie Odysseus selbst) vermutet in Odysseus, als dieser sich in Lumpen gekleidet seiner Hütte nähert, einen Unglücklichen, den er nach der Bewirtung bittet, ihm zu sagen, woher er komme und welche Kümmernisse er erlitten habe (14,47). Als Gegenstück zu dem edelgesinnten armen Gastgeber Eumaios zeichnet Homer den vornehmen Junker Antinoos, einen überheblichen Verächter guter Sitte, der im Hause des Odysseus schmarotzt (17,414 ff.). Der durchschaut zwar, anders als der lautere Eumaios, die Lügengeschichte von dem gescheiterten Beutezug gegen Ägypten, der nach Vorgabe des Erzählers Odysseus mit der Versklavung des jetzt hier als Bettler dastehenden Anführers geendet habe. Er verkennt aber die wahre Situation, beschimpft Odysseus und wirft ihm einen Schemel an den Kopf. Als der so Beleidigte den Antinoos auf die Rache der die Fremden beschützenden Götter hinzuweisen wagt und einen Fluch ausspricht, werden sogar die Genossen des Antinoos bestürzt und tadeln den Bruch der Sitte (17,481 ff.): Antinoos, das war nicht gut, auf den armen Herumstreicher zu werfen! Unseliger, wie, wenn er vielleicht gar ein Überirdischer ist? Auch Götter wandern, von fernher kommenden Fremden gleichend, in vielerlei Gestalt durch die Städte um Aufsicht zu führen über Frevelmut und Wohlverhalten der Menschen.

Das wechselseitige Verhalten von Gastfreunden außerhalb des häuslichen Bereichs unterliegt keinen festen Regeln, es ist die Nachwirkung des in einem Hause geschlossenen Bundes. Doch man erweist einander hilfreiche Dienste und Gefälligkeiten jeder Art. Glaukos macht es Hektor zum Vorwurf, dass er die Leiche des Gastfreundes Sarpedon nicht aus dem Schlachtgetümmel geborgen habe (Ilias 17,150 f.). Der Gastfreund Eetion kauft den in Sklaverei geratenen Priamos-Sohn Lykaon frei (Ilias 21,42ff.).

Das mit der Gastfreundschaft bei Homer verbundene Zeremoniell schildert der Dichter am ausführlichsten anlässlich der Ankunft des Odysseus am Hofe des Phaiakenkönigs Alkinoos. Der Schutzflehende naht sich dem thronenden Königspaar, umschlingt bittend die Knie der Königin, spricht Segenswünsche für den König, dessen Haus und Volk, und lässt sich dann am Herd, der geheiligten Stätte, nieder. Da Alkinoos kein absoluter Monarch und das Aufnahmegesuch eine Angelegenheit ist, die das Volk betrifft, ergreift nicht er, sondern der älteste seiner Ritter das Wort und tritt für die Aufnahme des Gastes ein. Daraufhin begrüßt Alkinoos den Gast, indem er ihn bei der Hand fasst und ihn zu einem silbernen Sessel hinführt. Es wird ihm das Wasser zum Waschen der Hände gereicht, dann wird er mit Speise und Trank bewirtet. Gemeinsam bringen alle dem Zeus xenios ein Trankopfer dar. An sich wäre jetzt die Erkundigung nach Namen und Herkunft des Fremden zu erwarten. Anders als der Barbar Polyphem, der als Erstes sofort mit dieser Frage unhöflich vorprescht, wahrt der Phaiakenkönig ein Übermaß an taktvoller Zurückhaltung bis zum andern Tag. Nur die Königin, die sieht, dass der Fremde Kleider trägt, die ihm ihre Tochter Nausikaa geschenkt hatte, stellt die Frage, wer er sei, woher er komme und wer ihm die Kleider gegeben habe. Die beiden letzten Fragen beantwortet der Fremde, und es beginnt ein langes Gespräch, so dass die erste Frage, als man müde zum Schlafen geht, noch offen bleibt. Am folgenden Tag wird zu Ehren des Gastes ein großes Fest gefeiert mit Opfern, sportlichen Wettkämpfen und als Höhepunkt den Vorträgen des Sängers Demodokos, der auch die griechischen Helden vor Troia besingt. Beim Anhören der schweren Leiden, an denen er selbst mit teilhatte, kann Odysseus seine Tränen nicht zurückhalten, und jetzt ist es das Mitleid, das den König Alkinoos bewegt, zartfühlend die Frage zu stellen. Er gebietet dem Sänger, einzuhalten (8,542): damit wir alle in gleicher Weise uns freuen, nicht allein der Gastgeber, sondern auch der Gast. So entsteht der schönere Einklang. Denn des Gastes, des zu ehrenden, wegen ist all das aufgeboten, das Geleit in die Heimat und die Freundesgaben, die wir ihm gerne schenken. Wert wie ein Bruder ist der Gast und der Schutzflehende für einen Menschen, wenn er auch nur im Geringsten ein fühlendes Herz hat. Darum verhehle mir auch du nicht länger mit vorsichtiger Schlauheit, was ich dich frage. Ein Missklang käme in unser Fest, wenn du nicht redest. Sag, mit welchem Namen nannten dich in der Heimat Vater und Mutter und die Bewohner deiner Stadt und des Landes ringsum? Jetzt gibt der Fremde sein Geheimnis preis: Er ist Odysseus. Es folgt, vom Dichter durch das Hinausschieben der Enthüllung bewusst aufgespart, die mit Spannung erwartete Erzählung des Gastes von seinen Irrfahrten. Das ist sein Beitrag, den die Gastgeber erwarten, und sein Dank. Am Tag des Abschieds wird dem Zeus xenios geopfert, ein Mahl gefeiert mit Segenswünschen des Odysseus für die Gastgeber, die ihn mit reichen Gastgeschenken zu Schiff nach Ithaka bringen.

Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum

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