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VORWORT, PATRIK SCHWARZ

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PATRIK SCHWARZ

VORWORT

Ist diese Debatte böse? Wer manchen Kritikern von Thilo Sarrazin und seinem Buch Deutschland schafft sich ab zuhört, könnte den Eindruck bekommen, schon seine Thesen und ihr Vortrag seien verwerflich. Während eine Gruppe von Kritikern dem Autor seine Ansichten verübelt, nimmt eine zweite Gruppe seine Analysen von der Kritik aus, verurteilt aber Sarrazins Ausdrucksweise oder seine Folgerungen. Und schließlich finden sich Medienkritiker, die in eben den Medien, die sie kritisieren, erklären, die Sarrazin-Debatte sei erst durch ein überzogenes Interesse von Sendern und Verlagen zu einem öffentlichen Ereignis des Jahres 2010 geworden. Sie alle eint der Grundverdacht, die Debatte sei böse und es wäre besser gewesen für Deutschland, dieses Buch wäre nie geschrieben worden.

Mir ist dieser Reflex nicht fremd. Auch ich verspürte am Beginn dieses Sommers 2010, als die Fahnen des Buches Deutschland schafft sich ab zu Rezensionszwecken an Journalisten verschickt worden waren, einen unbestimmten Widerwillen. Musste der Mann, der 2009 in einem Interview mit der kosmopolitischen Kulturzeitschrift Lettre International verächtlich von »Kopftuchmädchen« gesprochen hatte, seine Thesen wirklich zu einem Buch ausbauen? Und doch denke ich am Ende des Sommers 2010, die Debatte war gut.

Ob Unterstützer oder Gegner, wir sind durch die Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Thesen klüger geworden. Warum also dieses Buch mit den wesentlichsten Beiträgen aus der ZEIT? Hier sind alle Seiten der Debatte versammelt, beginnend mit Thilo Sarrazin über seine schärfsten intellektuellen Herausforderer bis zu entschiedenen Verteidigern, wie dem Historiker Hans-Ulrich Wehler. Darüber hinaus aber zeigt dieses Buch, wie Thilo Sarrazin Thilo Sarrazin wurde – mit umfänglichen Materialien aus dem ZEIT-Archiv der letzen 35 Jahre. Der frühere Berliner Finanzsenator und das spätere Vorstandsmitglied der Bundesbank hat in den Diskurs gezogen, was sonst meist unter dem Radar der Medien bleibt und zu oft auch unter dem Radar der Politik. Viele Menschen in Deutschland sehen in Migration und in Migranten zuvörderst ein Problem, so muss man es wohl konstatieren. Dieselben Menschen können aber auch ganz anders denken und fühlen, wie man es gerade erst in der Euphorie des Fußballsommers 2010 hat beobachten können, als eine migrantisch-bunte WM-Mannschaft das Land in Begeisterung versetzte. Wie passen die zwei Phänomene zusammen, der Zuspruch zu Thilo Sarrazin und der zu Mesut Özil?

Wenn man nicht von zwei Sorten Deutschen ausgeht, bleibt nur die Schlussfolgerung: Kaum etwas scheint die Deutschen in so widersprüchliche Stimmungslagen zu versetzen wie das kulturell Andere, und erst recht, wenn es im Gewand des Islams auftritt. Die Deutschen sind und bleiben kompliziert, ihre Migranten aber auch – das ist die erste Lektion aus den Reaktionen auf Sarrazins Werk.

Unser gegenwärtiges Nationalgefühl ist damit, so viel lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, nicht ganz so ungebrochen-entspannt, wie es 2006 das Sommermärchen der Fußball-WM im eigenen Land suggerierte. »Hier wir – da die«, diese Zweiteilung der Nation in echte und falsche Einheimische ist bis heute virulent, sosehr sich Deutschland seit den Jahren der ersten »Gastarbeiter« auch gewandelt hat. Migranten erfahren enormes Wohlwollen in unsrem Land, aber es existiert auch ein Ressentiment, das zunächst oft ungeformt ist, aber darum nicht ungerichtet, wie Bernd Ulrich und Matthias Geis in ihrem Beitrag »Alles, was rechts ist« schreiben: Es stellt sich allzu oft in den Dienst einer gesellschaftlichen Enthemmung. »Endlich sagt’s mal einer« – auch dieses Sentiment hat dem Buch Deutschland schafft sich ab atemberaubende Verkaufszahlen beschert.

Trotzdem, so wenig es manchen seiner Opponenten über die Lippen kommen mag, so sehr besteht Thilo Sarrazins Verdienst darin, das Anliegen der Migrationskritiker in ihre stärkste Form gebracht zu haben.

Als ich Thilo Sarrazin im Frühjahr 2010 in seinem Büro im zwölften Stock des Bundesbank-Hochhauses in Frankfurt besuchte, war sein Buch gerade am Entstehen. Ich traf auf einen Mann mit beträchtlicher Gabe zur Provokation, vor allem aber einer fast kühlen Kalkulation für die öffentliche Wirkung seiner Worte. Er war überzeugt von der Richtigkeit eines Anliegens, das ich für falsch hielt und halte. Was er jedoch nicht war, war ein Heißsporn, ein Hallodri oder Egomane. Was er tat und wen er provozierte, war Ergebnis sorgfältiger Überlegungen. Er provoziert aus der Überzeugung, die richtige Antwort zu kennen und ihr mit größtmöglicher Präzision zu größtmöglicher Aufmerksamkeit verhelfen zu wollen. Es ist diese Kälte des Zielens, das Gegner mitunter verstört und Sympathisanten schnell zu Bewunderern werden lässt. Endlich sagt’s mal einer? Aber wie! Einen »weißen Mephisto« hat ihn mein Kollege Wolfgang Büscher darum einmal genannt.

Thilo Sarrazin hat die Perspektive der Migrationsskeptiker in ihre stärkste Form gebracht. Er hat Aversionen durchdacht, er hat Argumente geformt, er hat recherchiert, Studien ausgewertet, Statistiken abgeklopft, Zahlen beigebracht und weitverbreitete Vorhaltungen gegen Migranten mit einer Fülle von Material abgeglichen. Am Ende wurde daraus ein Argument mit denkbar großer Wucht, Dramatik und auch Polemik: »Deutschland schafft sich ab.« Stärker kann der Angriff nicht ausfallen – und umgekehrt gilt: Was jetzt als Schwäche dieses Arguments zutage tritt, das ist die Schwäche eines ganzen Gedankengebäudes. Wer G sagt wie Genetik, zum Beispiel, landet schnell bei J wie Juden, auch diese Erfahrung musste Sarrazin machen, selbst wenn er sich rasch um die Richtigstellung einer womöglich missglückten Interview-Äußerung bemühte.

Die Sarrazin-Kritiker konnten zeigen, dass die Zahlen, die Statistiken das eine sind, der Geist hinter ihrer Auslegung aber das andere. Erst beides zusammen genommen entscheidet über die Überzeugungskraft seines Arguments. Umgekehrt konnten Sarrazins Verteidiger darauf verweisen, wie viel Mut eben auch dazugehört, seine Standpunkte öffentlich so durchzufechten, wie Thilo Sarrazin es tat und tut.

Die Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Anliegen ist für viele politisch Denkende wesentlich, für die ZEIT aber ist sie unerlässlich. Denn der Beamte, dann Politiker, schließlich Banker und nun erst mal Privatier Sarrazin ist von dieser Zeitung seit bald 40 Jahren begleitet worden, punktuell am Anfang, mit wachsender Bedeutung seiner Aufgaben und Ämter zunehmend enger – und kritischer.

Die erste Erwähnung Sarrazins in der ZEIT umfasste 4 Zeilen. Am 20. September 1974 nannte der Wirtschaftsteil auf Seite 47 in der Rubrik Neuerscheinungen kommentarlos sein Buch Ökonomie und Logik der historischen Erklärung – zur Wissenschaftslogik der New Economic History, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg, 168 Seiten, 25 DM. Ein Jahr später, am 14. November 1975, war ein Titel, bei dem Sarrazin als Mitherausgeber wirkte, der Rubrik Politisches Buch bereits eine Kontroverse wert: »Zum SPD-Parteitag: Ein Buch, zwei Ansichten« überschrieb die Redaktion die Beiträge. Den Angriff führte eine Frau, die über drei Jahrzehnte das linke Lager in der Sozialdemokratie prägen sollte, Heidemarie Wieczorek-Zeul: »Denunzierungen in der einschmeichelnden Sprache konservativer Ideologie«.

Dieses Motiv der Anklage dürfte Sarrazin mit den Jahrzehnten vertraut geworden sein. Umgekehrt fand er immer auch ähnlich überzeugte Verteidiger seines Standpunktes. Seinen rigiden Sparkurs als Berliner Finanzsenator hießen eine ganze Reihe maßgeblicher ZEIT-Autoren gut, seine Freude an der Provokation, schon damals eingeübt und geschärft, fand mehrheitlich die Billigung der Redakteure, die über ihn schrieben. Erst mit dem genannten Interview in Lettre wandelte sich das Verhältnis, obwohl auch hier verteidigende Stimmen zu hören waren. Vor allem aber tat sich eine Kluft auf zwischen Leser- und Autorenmeinung. Nach einem Sarrazin-kritischen Leitartikel in der Lettre-Frage schlug dem Autor Jörg Lau, dessen Integrität und Sachkunde außer Zweifel stehen, eine derart derbe Welle der Kritik von Lesern entgegen, oft in den Online-Foren der ZEIT geäußert, dass die Redaktion ihm in einer der folgenden Ausgaben eine Seite 3 zur Auseinandersetzung mit den Leserkommentaren zur Verfügung stellte. Helmut Schmidt, in einem seiner Interviews mit Giovanni di Lorenzo, erklärte dagegen zu Sarrazins Lettre-Äußerungen: »Wenn er sich ein bisschen tischfeiner ausgedrückt hätte, hätte ich ihm in weiten Teilen seines Interviews zustimmen können.«

Als knapp ein Jahr später Thilo Sarrazins Buch auf den Markt kommt, druckt die ZEIT nicht ab, sondern fordert Thilo Sarrazin zum Interview heraus. Bernd Ulrich und Özlem Topçu führen ein langes, kontroverses Gespräch, das schließlich auf einer Doppelseite im Blatt erscheint. Es wird der Beginn einer Wochen dauernden Auseinandersetzung, in der Befürworter und Gegner von Autor, Buch und Thesen zu Wort kommen. Bemerkenswert ist dabei die Präsenz von neuen Stimmen wie Özlem Topçu, Hilal Szegin und Khuê Pham, alle drei feste ZEIT-Autorinnen bzw -Redakteurinnen, die Sarrazins Thesen mit ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit kontrastieren. Helmut Schmidt erklärt, wieder im Interview mit Giovanni di Lorenzo: »Ich hätte ihm, wenn er mich gefragt hätte, zur Mäßigung geraten.« Vor allem kritisiert der ZEIT-Herausgeber: »Die Vermischung von Vererbung – einem genetischen Vorgang – mit kulturellen Traditionen, die er vornimmt, diese Vermischung halte ich für einen Irrtum.«

Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel begründet auf einer ganzen ZEIT-Seite, warum er für Thilo Sarrazin keinen Platz mehr in ihrer gemeinsamen Partei sieht. Der Kanzler a. D. Helmut Schmidt dagegen antwortet auf die Frage von Giovanni di Lorenzo, ob jemand mit der Meinung von Sarrazin in der SPD bleiben könne: »Ja. Das wird sich wohl auch so herausstellen.«

Ich habe Sarrazin, damals bei unseren Stunden mit Saft und Kaffee im zwölften Stock nicht nach dem christlichen Menschenbild gefragt. Ich habe nicht gefragt, wie man Kinder, welche die eigenen Töchter oder Enkelinnen sein könnten, als »Kopftuchmädchen« bezeichnen kann. Wahrscheinlich schien es mir ein zu schwaches Argument gegen all seine Zahlen und Statistiken, gegen seine Warnungen und Forderungen. Das christliche Menschenbild, was soll das für ein Argument sein für eine politische Konfrontation? Ist der Begriff nicht nur Floskel und Fassade? Und überdies ist Sarrazin Sozialdemokrat, denen braucht man so eh nicht zu kommen. Rückblickend kommt mir nicht das Argument, sondern mein Verzicht darauf schwach vor.

Mein Dissens mit Thilo Sarrazin ist letztlich keiner über Genetik oder Hartz-IV-Leistungen oder Fördern und Fordern. Ich stimme Thilo Sarrazin in vielem zu. Mein Dissens ist einfach: Ich finde nicht, dass man so über andere Menschen reden sollte, wie er es tut. Aber selbst das hätte ich nicht begriffen, wenn Thilo Sarrazin geschwiegen hätte diesen Sommer. Mindestens darum und dafür fand ich diese Debatte gut.

Patrik Schwarz, Hamburg, im Oktober 2010


Die Sarrazin-Debatte

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