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MARX IM NEUEN GEWANDE

Flucht in eine alte Metaphysik

Felix von Cube, 14.11.1975

Sofern die SPD sich bisher einer marxistischen und damit pseudowissenschaftlichen Legitimation bediente, hat sich in den letzten Monaten ein beachtlicher Legitimationswandel vollzogen. Unter dem Titel »Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie« wird – mit Zustimmung des Bundeskanzlers – die Politik der SPD auf eine neue Basis gestellt.

Die Autoren erkennen (ich möchte sagen: endlich), dass es keinen wissenschaftlichen Sozialismus geben kann, dass es sich beim Marxismus vielmehr um Prophezeiungen handelt, die wissenschaftlich nicht überprüfbar sind. Sie erkennen mit Popper, dass »die letzten Ziele politischen Handelns« überhaupt nicht »durch wissenschaftliche Methoden« zu bestimmen sind. Helmut Schmidt setzt die »Wissenschaftlichkeit« der Marxisten in Anführungszeichen; er spricht von einem »Chiliasmus im Gewande von Wissenschaftlichkeit«.

»Totale Utopien können zur totalen Gewaltanwendung verleiten«, sagt Schmidt, und die Herausgeber schreiben: »Die Auffassung der Utopisten, erst der Plan von der vollkommenen Gesellschaft mache rationale Reformpolitik möglich, ist nicht nur falsch, sie ist politisch gefährlich und, zur Maxime politischen Handelns gemacht, eine Quelle der Gewalt und Unterdrückung.«

So weit, so gut. Wer jedoch glaubt, dass diese Erkenntnisse – die Popper schon vor vierzig Jahren veröffentlichte – nunmehr auf fruchtbaren Boden gefallen sind, sieht sich getäuscht: Die Abkehr von der pseudowissenschaftlichen Legitimation des Marxismus bedeutet nicht etwa die Einsicht, dass es keine allgemeingültigen und -verbindlichen Legitimationsinstanzen gibt. Die Abkehr vom »wissenschaftlichen Sozialismus« führt vielmehr zurück in die Arme einer metaphysischen Rechtfertigung, eines »ethischen Sozialismus«. Häufig (allzu häufig!) spricht Schmidt von »moralischer Legitimation«, von »ethisch begründeten eigenen Werturteilen« (sind die Werturteile nun eigen oder sind sie »ethisch begründet«?), von der »sittlichen Begründung«, von den »sittlichen Zwecken« politischen Handelns und Ähnlichem. Sittlichkeit als Legitimation eines ethischen Sozialismus? Entscheidet nur die SPD sittlich oder auch die Opposition? Ist die paritätische Mitbestimmung sittlich, das Eigenturn an Produktionsmitteln? Ist die Gesamtschule sittlich, die Fristenlösung, die Steuerreform?

Auch die Herausgeber sprechen von der »ethischen Grundlegung des Sozialismus«, von der »Ethik des Argumentierens«; sie proklamieren gegen den orthodoxen Marxismus, »dass sich der Sozialismus nur noch ethisch, nicht aber wissenschaftlich begründen lässt«. Also: Der Sozialismus bleibt. Er bleibt mit sämtlichen Zielen, Reformen und Maßnahmen – nur die Begründung hat sich geändert: Der wissenschaftliche Sozialismus ist tot, es lebe der ethische Sozialismus! Nein – bei allem Fortschritt von Marx zu Popper: Die Konsequenz wird nicht gezogen, die Konsequenz, dass die Ziele der Politik und der Erziehung nichts anderes sind als eigene Bekenntnisse und Entscheidungen. Stattdessen flüchten sich die »neuen« Sozialisten in die alte Metaphysik der Sittlichkeit! Das steht eindeutig im Widerspruch zum Godesberger Programm, wonach die SPD keine letzten Wahrheiten verkünden möchte.

An der Vorstellung einer objektiven Legitimation des Sozialismus ändern auch die Äußerungen Schmidts und der Herausgeber nichts, dass man bei den entsprechenden Reformen in kleinen Schritten vorgehen müsse. Schmidt bezeichnet »die schrittweise Reform der Gesellschaft« als die der Demokratie angemessene Reform. Gewiss: Nur kleine Schritte sind überschaubar und revidierbar. Letztlich geht es dem Sozialismus jedoch nicht um kleine Reformen. Da werden die Herausgeber schon deutlicher: »Mit dieser Technik (des schrittweisen Erklimmens) werden auch die höchsten Berge bestiegen.«

Ich behaupte, dass jeder denkende Mensch – sofern er sich nicht selber Illusionen macht oder anderen solche vormachen will – zu dem Schluss kommen muss, dass die Setzung von Zielen auf persönlicher Entscheidung und Verantwortung beruht. Gewiss lassen sich einzelne Entscheidungen und Maßnahmen oft auf tieferliegende Zielvorstellungen zurückführen. So folgt etwa aus dem Bekenntnis zu einer möglichst weitgehenden Selbstbestimmung die Forderung nach Pluralität der Meinungen und Wertungen, nach Toleranz und freier Kommunikation, nach Absage an die Gewalt und vieles andere.

Es geht hier jedoch nicht um die Ableitbarkeit von Forderungen aus tieferliegenden Zielen und Wertvorstellungen – es geht um die Frage der Legitimation dieser Ziele und Werte. Und hier gilt Folgendes: Wer seine Entscheidung in eigener Instanz legitimieren und verantworten muss, der wird auf dem erreichten Zustand unserer Freiheit und Demokratie zwar nicht beharren, er wird aber vorsichtiger Politik treiben als jemand, der sich auf »wissenschaftliche« oder metaphysische Instanzen beruft.

Die Sarrazin-Debatte

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