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EINE SCHLEICHENDE KRANKHEIT, THILO SARRAZIN

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THILO SARRAZIN

23.4.1982

EINE SCHLEICHENDE

KRANKHEIT

Auf der Suche nach den Wurzeln der Wirtschaftskrise

Wenn heute nach den Ursachen der Wirtschaftskrise und der hohen Arbeitslosigkeit gefragt wird, dann werden meist die OPEC, dann die demografische Entwicklung und schließlich – je nach Standort – unterschiedliche politische Schuldzuweisungen gemacht.

Bei näherem Nachdenken kann dies jedoch nicht befriedigen. Zu ähnlich sind bei aller Vielfältigkeit die Probleme, mit der die meisten Industriestaaten zu kämpfen haben, auch jene Länder, die selbst Öl exportieren. Die Ölkrise und die steigende Zahl von Erwerbspersonen haben die ökonomischen Folgen anderer Entwicklungstrends verschärft, aber sie haben sie nicht geschaffen. Zu diesen Faktoren gehören vor allem:

– die schon in den sechziger Jahren einsetzende fortschreitende Abnutzung der Globalsteuerung keynesianischer Prägung bei weltweiter Zunahme der Inflationstendenz (auch unabhängig von den Ölkrisen)

– zunehmende Sättigungsgrenzen in vielen Bereichen der Endnachfrage, kombiniert mit neuen Möglichkeiten arbeitssparenden technischen Fortschritts

– geringere Orientierung am materiellen Erfolg in meinungsbildenden sozialen Gruppen, eine veränderte Einstellung zur Arbeit, ein allmähliches Verblassen jener Erfolgs- und Leistungsethik, die der eigentliche Geist des Kapitalismus ist

– unbeabsichtigte Nebenwirkungen eines streng durchgeführten Sozialstaatsprinzips auf ökonomische Verhaltensweisen und allgemeine Lebenseinstellungen

– wachsendes Umweltbewusstsein, zunehmender Widerstand gegen unerwünschte Begleiterscheinungen wirtschaftlichen Wachstums

– höhere Genussorientierung, sinkendes Zukunftsvertrauen in allen sozialen Gruppen.

Es ist offenbar nicht so, dass die geringere Orientierung des eigenen Verhaltens am materiellen Erfolg eine entsprechend stärkere Bereitschaft zur materiellen Bescheidung mit sich bringt. Einkommensverbesserungen bleiben für alle ein erwünschtes Ziel, nur die damit verbundenen Anstrengungen werden weniger populär, was eine Verschärfung der Verteilungskämpfe und damit eine tendenzielle Verschärfung inflationären Drucks bedeutet (Tarifauseinandersetzungen sind mir ein kleiner und vielleicht nicht einmal der wichtigste Bestandteil dieses umfassenden gesellschaftlichen Prozesses). Gleichzeitig sinkt der Wille, die privaten oder sozialen Kosten einer Zunahme des Lebensstandards zu ertragen. Es sinkt der Wille, Ungerechtigkeiten und Härten hinzunehmen, es steigt das Gespür für das tatsächlich oder vermeintlich Unzumutbare.

Es ist nur schwer zu klären, inwieweit der so skizzierte Wert- und Bewusstseinswandel, der maßgeblich Ergebnis des wirtschaftlichen Aufschwungs der letzten drei Jahrzehnte ist, seinerseits wieder die gegenwärtigen Wirtschaftsprobleme mitverursacht beziehungsweise ihre Losung erschwert.

Die Ungewissheit hierüber, gleichzeitig aber das Gefühl, dass sich in den ökonomischen Einstellungen schwerwiegende Verhaltensänderungen vollziehen oder schon vollzogen haben und auch die Unsicherheit, ob politische Einflussnahme auf solche Entwicklungen überhaupt sinnvoll, möglich oder statthaft ist, gibt vielen bekannten Rezepturen zur dauerhaften Wiederherstellung von Vollbeschäftigung und Stabilität einen Beigeschmack des Ungenügens. Weniges nur ist schlichtweg falsch. Überall drängt sich aber doch der Eindruck der Unvollständigkeit der Erklärungsversuche auf:

Es ist zwar richtig, dass die zwei Ölpreisexplosionen für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der westlichen Industriestaaten maßgeblich verantwortlich sind. Aber woher kommt es dann, dass Großbritannien und Norwegen, die beide Nettoexporteure von Mineralöl sind, eine so besonders schlechte ökonomische Verfassung haben, während Japan, das dreimal so viel für seine Energieimporte ausgeben muss wie die Bundesrepublik und die Schweiz, die als eigene Energiequelle nur ein wenig Wasserkraft hat, Leistungsbilanzüberschüsse, niedrige Arbeitslosigkeit und auch sonst eine recht gesunde Wirtschaft haben?

Es ist zwar richtig, dass der Anstieg der direkten Abgabenbelastung in vielen Staaten die Grenzen des Erträglichen erreicht oder überschritten hat. Aber ist denn die Wirtschaftslage in Frankreich oder in Italien – Länder mit traditionell niedriger direkter Abgabenbelastung – in irgendeiner Form aussichtsreicher als in Skandinavien?

Es ist zwar richtig, dass die Dynamik der Sozialausgaben weltweit in besonderem Maße für die Ausdehnung des Staatsanteils verantwortlich ist und die Rückkehr zu stabilen finanziellen Verhältnissen erschwert. Aber woher kommt dann die unkontrollierte Entwicklung der Staatsverschuldung in den USA und Italien, zwei, bei aller Verschiedenheit, sozialpolitisch gleichermaßen rückständigen Ländern?

Es ist zwar richtig, dass ein erträgliches Zinsniveau notwendige Bedingung für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung ist. Aber woher kommt es dann, dass die Zinsen heute in jenen Staaten am höchsten sind, die immer eher einer Politik des leichten Geldes zugeneigt haben?

Es ist zwar richtig, dass in jeder Kreislaufbetrachtung staatliches Sparen oder der Verzicht auf antizyklisches Gegensteuern in der Rezession krisenverschärfend wirkt. Aber woher kommt es dann, dass jene Volkswirtschaften in einer besonders schlechten Verfassung sind, in denen keynesianisches Gedankengut besonders früh und intensiv praktiziert wurde, während die deutsche Volkswirtschaft in den fünfziger Jahren bei einer Diät ständiger staatlicher Überschüsse gedieh?

Es ist zwar richtig, dass die Begrenzung der staatlichen Nettokreditaufnahme notwendige Bedingung für sinkende Zinsen und eine dauerhaft wirtschaftliche Wiederbelebung ist. Aber wo bleibt der Erfolg staatlicher Austerity-Politik, wo immer sie in den letzten Jahren angewandt wurde und wird?

Es ist zwar richtig, dass die demografische Entwicklung schwierige Arbeitsmarktprobleme aufwirft. Aber ist dies als Erklärung für Arbeitslosigkeit intellektuell akzeptabel, wenn man sich vor Augen führt, dass in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik die Zahl der Arbeitsplatze um fünf Millionen, also um 500 000 im Jahresdurchschnitt gestiegen ist?

Es ist zwar richtig, dass Sättigungserscheinungen auf vielen Märkten wirtschaftliches Wachstum schwieriger machen. Aber wie vertragen sich hierauf aufbauende Stagnationshypothesen mit der Tatsache, dass die in der Bundesrepublik (und anderswo) relativ konstanten Sparquoten auf einen ungebrochenen Konsumwillen der Bevölkerung hindeuten?

Es ist zwar richtig, dass ungelöste Umweltprobleme und scharfe Umweltschutzbestimmungen zu »Investitionshemmnissen« werden können. Aber wie erklärt sich dann der ökonomische Erfolg Japans mit seinen besonders scharfen Umweltbestimmungen? Viele Staaten mit gegenwärtig besonders großen Wirtschaftsproblemen sind in dieser Beziehung dagegen eher lässig.

Es ist zwar richtig, dass die Zahl der Arbeitslosen beängstigend gestiegen, die der offenen Stellen beängstigend gesunken ist. Aber dies macht es umso bemerkenswerter, wie erfolgreich viele Ausländer bei der Suche nach Beschäftigung – sei es auch in der underground economy – und wie erfolglos viele Bundesbürger bei der Suche nach Handwerkern sind.

Sicher, für all dies lässt sich nach einigem Suchen eine plausible Erklärung finden. Und all diese Erklärungen mögen sich nach einigem Bemühen sogar zu einem passablen Theoriegebäude zusammenfügen lassen. Aber das ist dann keine griffige Faustformel mehr, und es bleibt ein erklärungsbedürftiger Rest, der in die Soziologie, die Psychologie, die Geschichte verweist: Das die ökonomischen Verhaltensweisen bestimmende gesellschaftliche Klima und die individuellen Motivationsstrukturen sind im Zeitablauf keineswegs stabil, und sie weisen auch nationale Unterschiede auf.

Hier setzt eine zusätzliche (nicht alternative) Erklärung der Wirtschaftsprobleme an. Weil – legitimerweise – die Ansprüche an die Lebensqualität und Selbstverwirklichung auch in der Arbeit gestiegen sind, weil sich der Begriff des Unzumutbaren verschärft hat, weil die Selbstverwirklichung neben und außerhalb des Broterwerbs wichtiger geworden, weil das gestiegene Einkommen, die gewachsenen Vermögensbestände und das Niveau der sozialen Absicherung unabhängiger machen, weil das berufliche Prestige vielen nicht mehr so viel bedeutet, finden heute Mensch und Arbeit schwerer zueinander als noch in den fünfziger und sechziger Jahren.

Dies hat nur in Extremfällen etwas mit Faulenzertum und Drückebergerei zu tun. Typischer ist hierfür wohl, dass die Wirtschaft zunehmende Schwierigkeiten hat, auch attraktive Auslandsposten mit fähigen Kandidaten zu besetzen. Typisch ist, dass eine arbeitslose Kinderkrankenschwester in die Erwachsenenpflege nicht vermittelt werden kann, sondern erst einmal Arbeitslosengeld bezieht. Typisch ist, dass in den letzten Jahren immer noch Hunderttausende von Abiturienten Studienfächer gewählt haben und wählen, die zum Lehramt führen, obwohl seit spätestens 1974 die Auswirkungen der sinkenden Geburten auf die Schülerzahlen der achtziger und neunziger Jahre sehr exakt bekannt waren. Ökonomen umschreiben die Summe solcher Faktoren häufig mit dem schönen Wort »Verkrustungserscheinungen«. Dies ist nun allerdings keine Erklärung, sondern eine vornehm ausgedrückte Missbilligung.

Die Fülle dieser Erscheinungen, die nicht nur das Verhalten der Arbeitnehmer, sondern aller Erwerbstätigen mitbestimmen, führt in einem schleichenden Prozess dazu, dass mögliche Innovationen nicht stattfinden, vorhandene Möglichkeiten zur Angebotsausweitung nicht genutzt werden, die Kapitalproduktivität und damit die Rendite auf Sachinvestitionen sinkt, die Investitionen nicht in erwünschtem Maße steigen, das Produktionspotenzial langsamer wächst. Gleichzeitig verschärft sich die Konkurrenz zwischen Arbeit und Sachkapital. Der Anreiz zu arbeitssparenden Investitionen nimmt zu und bedroht stärker als früher Arbeitsplätze, weil er nicht mehr regelmäßig, wie in den fünfziger Jahren, durch eine gesamtwirtschaftliche Angebotsausweitung überkompensiert wird.

Diese Faktoren in ihrer Gesamtheit ergeben dann einen Sockel der natürlichen Arbeitslosigkeit, der höher liegt als in den fünfziger Jahren (wenngleich weit niedriger als auf dem gegenwärtigen Niveau), und sie bewirken ein trägeres Reagieren der Volkswirtschaft auf externe Schocks und unabweisbar notwendige Strukturanpassungen.

Dies soll keine eigenständige Erklärung der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit sein, die in Konkurrenz zu den vielen anderen Erklärungsmodellen tritt, eher eine zur Skepsis anhaltende Ergänzung. Schnelle Abhilfe ist hier nicht in Sicht. Es wäre vermessen und wohl auch wirkungslos, durch radikale Änderung der Rahmenbedingungen (sprich: Rückkehr zur Wettbewerbsgesellschaft mit möglichst weitmaschigem sozialem Netz) nun geschwind den homo oeconomicus wieder zum dominierenden Leitbild zu erheben. Entsprechende Verhaltensänderungen vollziehen sich auch bei radikalen staatlichen Maßnahmen nur allmählich. »Reagonomics« und »Thatcherismus« dürften vor allem hieran scheitern.

Im Übrigen ist in einer Demokratie wenig dagegen zu sagen, wenn die Mehrheit der Bürger es vorzieht, in einem weniger effektiven, weniger wohlhabenden, weniger innovativen, dafür aber bequemeren Staatswesen zu leben. Der hierin liegende Verzicht auf einen Teil möglichen Wachstums erfordert allerdings die Bereitschaft zu mehr Selbstbescheidung. Die hohen Inflationsraten zeigen, dass sich die meisten westlichen Volkswirtschaften noch auf dem Wege kostspieligen Selbstbetrugs befinden.

Was kann man nun tun in einer solchen Situation? Wahrscheinlich erfolglos (und in ihrer Legitimation fragwürdig) wären alle politischen Versuche, jenes Leistungsbewusstsein, jene Dominanz ökonomischer Erfolgskriterien, die für die fünfziger und frühen sechziger Jahre typisch waren, künstlich wiederzubeleben. Es fehlen dazu fast alle Voraussetzungen: der Mangel, das Gefühl des Neubeginns, die großen Gewinnchancen, die weit ausstrahlende Faszination des technischen und ökonomischen Fortschritts. Verhaltensbestimmende Werthaltungen und Weltbilder können nicht einmal in Diktaturen einseitig technokratisch manipuliert werden. Sie entwickeln sich aus einer Fülle von Einflussfaktoren. Auch die politisch Handelnden sind in diesem Zusammenhang eher Objekt als Subjekt.

Wichtig ist vielmehr die Rückbesinnung auf die grundlegenden ökonomischen Regelmechanismen. Es gilt, dem einzelnen einerseits alle Freiheit bei den Entscheidungen über sein Arbeitsverhalten und seine Lebensgestaltung zu überlassen, andererseits ihm die ökonomischen Folgen dieser Entscheidungen, ob positiv, ob negativ, wieder konsequent und für ihn selbst durchschaubar zuzurechnen.

Dies erfordert zunächst neues Nachdenken über den Inhalt sozialer Gerechtigkeit und die unbeabsichtigten Rückwirkungen zahlreicher sozialstaatlicher Regelungen auf ökonomische Regelmechanismen, zum Beispiel:

– Einfluss der Abgabenbelastung auf Leistungsmotivation und Schwarzarbeit

– Einfluss der Lohnstruktur auf die Struktur des Arbeitsplatzangebots

– Einfluss vieler sozialer Absicherungsformeln auf das Besitzstandsdenken und damit auf die regionale und berufliche Mobilität.

Schleichend hat sich eine Mentalität herausgebildet, die immer gedankenloser die Sorge für wachsende Teile des Lebensunterhalts als staatliche Aufgabe betrachtet, während das Bewusstsein schwindet, dass die Verantwortung für die materielle Gestaltung der eigenen Lebensumstände zuallererst eine individuelle Herausforderung ist.

Im Einzelnen erscheinen alle sozialpolitischen Normen human und wohlbegründet, in ihrer Gesamtheit können sie aber auch zur moralischen Korruption beitragen und eine Wohlstandsgesellschaft schleichend immer funktionsunfähiger machen: Den Krankenversicherten ist nicht zuzumuten, sich an den Kosten ihrer Medikamente zu beteiligen; den Eltern ist nicht zuzumuten, die Kosten ihrer Kinder voll zu tragen; den Asylbewerbern ist nicht zuzumuten, städtische Parkanlagen zu pflegen; der arbeitslosen Lehrerin ist eine Tätigkeit als Sekretärin nicht zuzumuten; dem Benutzer der Bundesbahn ist nicht zuzumuten, die Kosten dieses Transportmittels voll zu tragen; dem Fehlbeleger im sozialen Wohnungsbau ist nicht zuzumuten, die Kosten seiner Wohnung voll zu tragen.

Jeder soll sein Leben führen, mit jener Mischung aus Arbeit, Freizeit und materiellem Lebensstandard, die seinen Neigungen und seinem wirtschaftlichen Erfolg entspricht. Aber die schleichende Auflösung des Zusammenhangs zwischen produktiver Leistung und ökonomischem Erfolg, die in fast allen Industriegesellschaften zu beobachten ist, muss zum Stillstand kommen. Überstarke unerwünschte Auswirkungen ökonomischer Regelmechanismen bedürfen zwar immer einer sozialen Glättung, aber es gilt, den Punkt zu vermeiden, wo der Mechanismus selber leidet.

Unterdrückte und ausgebeutete Völker, die ständig um die Früchte ihrer Arbeit betrogen werden, werden damit fast immer auch zur ökonomischen Untüchtigkeit erzogen. Das gleiche Ergebnis könnte sich dort einstellen, wo ökonomische Regelmechanismen aus sozialpolitischem Wohlwollen im Übermaß beeinträchtigt werden.

Dr. Thilo Sarrazin ist Leiter des Ministerbüros im Bonner Finanzministerium.

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