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ZUM SPD-PARTEITAG 1975, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Felix von Cube

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ZUM SPD-PARTEITAG 1975

EIN ABC FÜR SOZIALDEMOKRATEN

Denunzierungen in der einschmeichelnden Sprache konservativer Ideologie

Heidemarie Wieczorek-Zeul, 14.11.1975

Der Titel dieses Sammelbandes (siehe vorherige Seite, Anmk. d. Red.)führt in die Irre. Außer dem Vorwort, dem thematisch bezogenen Aufsatz der Herausgeber (mit Ausnahme von Tietzel, alle langjährige Mitarbeiter des Forschungsinstituts der SPD-eigenen Friedrich-Ebert-Stiftung) und einer Abhandlung Peter Clevers (Kritischer Rationalismus und die Komplexität sozialer Systeme) keine Beiträge, die etwas zum Verhältnis Sozialdemokratie/Kritischer Rationalismus zu sagen haben. Die zusammengestellten Texte datieren, mit Ausnahme der bis in die dreißiger Jahre zurückreichenden Beiträge Poppers und des klassischen Max-Weber-Aufsatzes zur »Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« von 1904, aus den vergangenen acht Jahren und wurden als Gelegenheitsarbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften, Sammelbänden oder Festschriften bereits veröffentlicht. Die vorliegende Textzusammenstellung scheint somit im Wesentlichen die Aufgabe eines Readers zu erfüllen, wie sie heute für die verschiedensten Wissenschaftsgebiete vorgelegt werden.

Die Intention der Herausgeber deckt sich allerdings nicht mit der bei der Edition eines Readers sonst maßgeblichen Absicht, über ein Gebiet anhand zentraler Arbeiten möglichst breit zu informieren. Vielmehr geht es um den Versuch, ein theoretisches Abc für den »braven« Sozialdemokraten zu buchstabieren und ihm eine schmackhafte Medizin gegen wachsende »Verunsicherung« angesichts wachsender wirtschaftlicher Krisen zu verabfolgen.

Dieser Versuch erscheint mir aus vier Gründen misslungen:

1. Wer sich die im vorliegenden Band ausgebreiteten Glaubenssätze (es folgen noch einige Belege) zu eigen macht, wird kaum noch geneigt sein, sozialdemokratisch zu wählen oder gar der Sozialdemokratischen Partei als Mitglied anzugehören – es sei denn, er will aus ihr eine ganz normale konservative Partei machen.

2. Wer die Beteuerungen, dass Demokratie und Kritik zusammengehören, ernst nimmt und somit nicht nur die etablierten Autoren, die in dem Sammelband zu Wort kommen (Max Weber, Karl Reimund Popper, Hans Albert) rezipiert, sondern auch die aktuellen Gegenpositionen (keineswegs vorwiegend marxistische, wie die jüngere Wissenschaftstheorie mit Kühn, Lakatos, Feyerabend, Lorenzen zeigt) zur Kenntnis nimmt, dürfte die Funktion einer bestimmten Spielart des Kritischen Rationalismus deutlich erkennen: nämlich die ideologische Rechtfertigung einer Politik, die angesichts schrumpfenden wirtschaftlichen Wachstums versucht, das »Anspruchsniveau« für Reformen zu senken und staatliche Tätigkeit auf bloßes Reagieren gegenüber den Entscheidungen der privaten Unternehmen, auf Orientierung am »Machbaren« zu reduzieren. Wer also diese Intention erkennt, dürfte am emanzipatorischen Wert »konkreter Utopien«, also zielgerichteter Reformpolitik im Gegensatz zum bloßen Durchwursteln (muddling tbrough), festhalten.

3. Die wenigen Anhaltspunkte zur Lösung praktisch-politischer Fragen für eine Welt unter zunehmendem Problemdruck, die in dem Buch gegeben werden, laufen auf Leerformeln oder Dogmen hinaus. Dies wird am Beispiel der zu einer zentralen Maxime hochstilisierten »Stückwerk-Sozialtechnik« (piece-meal social engineering) zu zeigen sein.

4. Wer für die SPD-interne Theoriediskussion von dem Sammelband neue Argumente erhofft, wird von der geleisteten Zuarbeit enttäuscht sein. Die gehaltvolleren Beiträge sind längst bekannt, der Herausgeberaufsatz ist kaum mehr als eine Einführung in einen neuen »Popper-Jargon«.

Eine eingehende Erörterung der einzelnen Beiträge erscheint weder geboten – denn das hieße, inkompetent in eine wissenschaftstheoretische Fachdebatte einsteigen, die, soweit die abgedruckten Aufsätze entsprechendes Echo gefunden haben, von anderen und an anderer Stelle geführt wird – noch ist es im Hinblick auf die politische Funktion des Bandes sinnvoll, in eine wissenschaftstheoretische Diskussion auszuweichen. In der äußeren Konzeption lehnt sich der Sammelband an jene zeitgenössische Tendenz an, die sich ausbreitende Unsicherheit über die Geltung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse durch theoretische Grundlagendiskussion abzufangen. Der Heterogenität der dabei zutage tretenden Standpunkte entsprechend, sollte sich ein solches Unternehmen durch Berücksichtigung einer breiten, jedenfalls die verschiedenen Pole der Diskussion einschließenden Textauswahl auszeichnen. Diese pluralistische Offenheit wurde von den Herausgebern jedoch peinlich gemieden.

Die Beiträge dieses Readers zur Rezeption des Falsifikationismus und seiner politischen Ausmünzung als Kritischer Rationalismus benutzen die Argumente der Gegner nur als Punchingball, an dem man seine Muskelkräfte exerziert. Zudem geraten einige Texte – etwa die von Bryan Magee – in die Nähe eines peinlichen Popper-Kultes. Magee ist allerdings, neben Popper, vielleicht der wichtigste Autor in diesem Band. Seiner Popper-Monografie (demnächst auch in Deutsch) verdanken die Herausgeber den Glaubenssatz, »dass der junge Popper wie kein anderer vor und nach ihm eine Theorie ausgearbeitet hat, die die philosophische Grundlage des demokratischen Sozialismus sein sollte«.

Nun mag im Hinblick auf den Titel, der die voreilige und manchem Betrachter wohl auch naiv anmutende Vereinnahmung des Kritischen Rationalismus durch die Sozialdemokratie oder vice versa verkündet, verständlich erscheinen, wenn ein bisschen gerühmt und gelobhudelt wird. Aber damit verleugnet der Kritische Rationalismus seine zentrale Maxime: Statt Rationalität gegen Dogma zu setzen, wird ein neues Dogma im unauffälligen Gewand einer zur Leerformel verkommenen Rationalität präsentiert. Wer am lautesten ruft »Ich bin ein Kritischer Rationalist« und die theoretischen Begriffe der Schule am schnellsten zum neuen Jargon verbiedert, der verschafft sich ein Interpretationsmonopol: Er allein weiß, was kritisch ist, trennt konservativ von progressiv und progressiv von utopisch, bestimmt, was sich (noch) Stückwerktechnik und rationale Reformpolitik nennen darf, und so weiter. Von dem Wortgeklingel der Epigonen blieb noch keine theoretische Schule verschont.

Symptomatisch für solche Entwicklung sind die zitierfleißigen Repetitionen aphoristisch gelungener Kernsätze des Meisters Popper und die wiederkehrende Einflechtung bestimmter Formeln ohne nachvollziehbare Begründung. Die Herausgeber üben diese Kunst, wenn sie beteuern, dass der Kritische Rationalismus an Kant anknüpft, »politischen Wahrheitsmonopolen und Heilslehren kritisch« gegenübersteht, Kritik als oberstes Ideal betrachtet, für »Meinungs- und Hypothesenkonkurrenz« eintritt »und deren demokratisch-institutionelle Absicherung zum methodischen Prinzip erhebt«. Oder auch, wenn sie mit Augenaufschlag eine Negativabgrenzung vortragen: »Die politische Haltung des Kritischen Rationalismus ist mit konservativer Erstarrung wie mit der Flucht in ideologische Systeme und politische Heilslehren gleichermaßen unvereinbar.«

»Wer ist eigentlich gemeint?«, möchte man fragen, wenn sich das nicht aus den Fußnoten und pauschalen Verdächtigungen gegenüber dem Marxismus und den Neomarxisten ablesen ließe. Ihr Feindbild sehen die Herausgeber jedenfalls politisch links. Die gelegentliche Versicherung, dass man mit Konservativen auch nichts im Sinn habe, ist nicht einmal ein Schutz vor falschen Bundesgenossen. Die »Utopisten und Heilsverkünder« sind die Blocks, die Adornos, die Habermas, die Jusos, aber auch die Luhmanns.

Mit einer unverfrorenen Wendung in die flachste Undifferenziertheit wird »Utopie«, über deren vermeintliche Vertreter man offenherzig reinen Wein einschenkte, zur Basis von Gewalt. So bündig ist die Argumentation: »Hier verschwistert sich die Utopie mit der Gewalt, denn nur gewaltsam können verbindliche ›letzte Ziele‹ lang fristig aufrechterhalten werden.« In einem Jahrhundert, dessen brutalste Gewalt mit Faschismus und Imperialismus verknüpft ist, in einer Zeit, in der weltweite Verunsicherung und krisenhafte Zuspitzungen Konstellationen erzeugen, unter denen auch in der Bundesrepublik wieder faschistische Tendenzen durchbrechen können, ist jenes eitle Daherfabulieren vom zwingenden Zusammenhang zwischen dem »Utopischem« und Gewalt nicht mehr naiv. Es ist schlicht Infamie. Die Polemik der Herausgeber gegen eine »neue Gesellschaft« macht eigentlich auch das theoretische Organ der Sozialdemokratischen Partei verdächtig, heißt diese Monatszeitschrift doch nicht zufällig Die Neue Gesellschaft.

Die Zauberformel für realistische Reformpolitik wird auf den gemeinsamen Nenner einer »Stückwerk-Sozialtechnik« gebracht. Sie empfiehlt sich, um die Herausgeber zu zitieren, jedem, der »die rationale Auseinandersetzung über die Beseitigung konkreter Ungerechtigkeiten und Missstände für fruchtbarer hält als den Streit über abstrakte Zukunftsvisionen«, der »lieber die Quellen menschlichen Unglücks beseitigen als über die Bedingungen menschlichen Glücks philosophieren möchte«. Dunkel erinnert man sich dabei an etwas, das als »elfte These über Feuerbach« bekannt geworden ist. Wie viel klarer sprudelt aber doch die Quelle der Stückwerk-Weisheit: »Der Gesellschaftsreformer ist wie ein Bergführer: Er kann auch die höchsten Berge nur schrittweise erklimmen, und ein verantwortlicher Bergführer«, so wird der von Erkenntnis betroffene Bürger beruhigt, »wird lieber einen Haken mehr in das Felsgestein schlagen, ehe er seiner Mannschaft den nächsten Schritt freigibt.«

Solche Passagen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das ist die einschmeichelnde Sprache konservativer Ideologie. Hier wird nicht rational argumentiert, konkret auf Schwierigkeiten und jene hypokritisch unbenannt gebliebenen »Quellen menschlichen Unglücks« eingegangen, sondern verkleistert: Es wird sich schon alles machen lassen und zum Besten wenden, wenn man den Hohepriestern der Lehre von der »Stückwerk-Sozialtechnik« vertraut und den Häretikern, den »utopischen Sozialingenieuren«, abschwört. Die exegetischen Verrenkungen beim Ausmalen des Feindbildes gehen schließlich ins Groteske: »Auch der utopische Sozialingenieur bedient sich bei der Durchführung des utopischen Gesamtplans der Stückwerktechnik, allerdings einer methodisch verkümmerten und vergröberten Stückwerktechnik.« So einfach ist das also!

Nun sind die Herausgeber und Popper-Experten keine Mucker, wenn’s opportun ist: »Die Anwendung der ›Stückwerk-Sozialtechnik‹ schließt keineswegs spekulative Überlegungen über die Organisation der Gesellschaft (...) aus. Vielmehr schätzt der Kritische Rationalismus Phantasie und Utopie hoch ein – beide sind dem Denker in sinn vollen Alternativen förderlich, falls sie zu konkreten und überprüf baren Alternativen führen, zur ›konkreten Utopie‹ (Willy Brandt).« Die Biegsamkeit, mit der nach einigen verbindlichen Worten an die Adresse von Phantasie und Utopie Ernst Blochs Begriff der konkreten Utopie bemüht wird, um knapp, aber deutlich den Diener vor dem Parteivorsitzenden zu machen, belegt nochmals, was dort im Schilde geführt wird: vom respektgebietenden Postament wissenschaftstheoretischer Seriosität herab ideologisch einzulullen. Die Formel von der Stückwerktechnik hilft der Politik praktisch nur insofern, als sie eine möglicherweise attraktive Verpackung für jedes Handeln liefert: Poppers Design macht jede Politik zur Markenware.

Die Bemerkungen zu Helmut Schmidts Vorwort stehen am Schluss, weil der Bundeskanzler trotz seiner Zurückweisung des marxistischen Ansatzes sozialdemokratischer Politik, trotz der positiven Einschätzung, die er Popper zukommen lässt, von dem pharisäerhaften Eifer der Herausgeber abgehoben werden muss. Es fällt Schmidt auch nicht schwer, jeden Versuch der betulichen Vereinnahmung durch die Popper-Exegeten abzuwehren: »Ich bin kein Marxist, ich bin ebenso wenig ein Anhänger des Kritischen Rationalismus. Jedoch empfehle ich, Marx zu lesen, ebenso Popper.« Was Schmidt »pragmatische Haltung« nennt, ist für viele, die sonst in prinzipiellen und konkreten Fragen nicht mit ihm übereinstimmen, nichts Neues: Theorien kritisch an der Realität prüfen – und hierfür ist Poppers Falsifikationismus ja auch für Marxisten nichts Neues –, den Auftrag der Politik im »endlichen Abbau von Privilegien zugunsten einer freien, offenen Gesellschaft, in der jeder seine gleiche Chance im Leben wahrnehmen kann« zu sehen.

Schmidt baut Marx auch nicht als Buhmann, Unruhestifter und gefährlichen Köpfeverdreher auf, sondern hält ihn kühl für einen lehrreichen Autor – allerdings eben nur einen neben anderen. Gerade im Hinblick auf das kritische Denken gibt Schmidt im Gegensatz zur Intention und Praxis der Herausgeber dem Marxismus eine gute Note: »Die dialektische Methode, als heuristische Methode und nicht der dialektische Materialismus als Weltanschauung, kann dem kritischen Urteil sehr wohl nützlich sein und zum Ausscheiden des als falsch Erkannten führen.« Oder: »Marxens grandiose Erkenntnis, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt, ist zu einer ungeheuren Hilfe für uns alle geraten. Jedoch: Eine Handlungsanweisung liegt darin nicht.«

Konfrontiert man Absicht und Aufbereitungsstil der Herausgeber mit der Kernsubstanz des Falsifikationismus oder des Kritischen Rationalismus und sieht dann noch verwundert den Gegensatz zum Vorwort, so stellt man fest: Das ist aber eine gemischte Gesellschaft.

Die Sarrazin-Debatte

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