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ZUM LEICHTSINN VERFÜHRT, THILO SARRAZIN

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THILO SARRAZIN

11.7.1997

ZUM LEICHTSINN VERFÜHRT

Der Finanzausgleich bedarf einer grundlegenden Reform

Die Auseinandersetzungen um die Erfüllung der fiskalischen Maastricht-Kriterien und das Defizit des Bundeshaushalts überlagern ein Strukturproblem, das zum Sprengsatz der bundesdeutschen Spielart von Föderalismus werden könnte: das immer stärkere Auseinanderdriften der finanziellen Verhältnisse von reicheren und ärmeren Bundesländern.

Bis Ende der sechziger Jahre hatten weder Bund noch Länder Schulden in nennenswertem Umfang. Die unterschiedliche Finanzkraft der Länder führte kaum zu unterschiedlicher Verschuldung: Diejenigen, die weniger Steuern einnahmen, gaben entsprechend weniger aus. Dann aber bewirkte die Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs 1969 eine weitgehende Einebnung der vorhandenen Finanzkraftunterschiede: Seither stellen der horizontale Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen sicher, dass zwischen reichen und armen Ländern nennenswerte Unterschiede in den Steuereinnahmen pro Einwohner nicht mehr bestehen. Mit dem Solidarpakt 1993, der die neuen Länder in den Finanzausgleich einbezog, wurde die Verteilung der Steuereinnahmen noch stärker von der jeweiligen Wirtschaftskraft abgekoppelt. Nach dem Finanzausgleich erzielen Nehmerländer wie Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz heute sogar höhere Steuereinnahmen pro Kopf als Geberländer wie Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern oder Baden-Württemberg.

Die weitgehende Gleichverteilung der Steuereinnahmen der Länder seit 1970 hat aber keineswegs eine entsprechende Angleichung der Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, bewirkt. Geändert hat sich etwas anderes. Die Nehmerländer haben seit Anfang der siebziger Jahre trotz vergleichbar hoher Steuereinnahmen mehr Schulden gemacht als die Geberländer, und dieser Prozess setzt sich fort. Einschließlich der Zinsen haben heute die Nehmerländer durchweg deutlich höhere Nettoausgaben pro Einwohner als die Geberländer und Jahr für Jahr eine deutlich höhere Nettoneuverschuldung. Damit sind die Nehmerländer – hier ist immer nur von Westdeutschland die Rede – in eine Falle geraten: Ohne Zinsen sind ihre Pro-Kopf-Ausgaben niedriger, mit Zinsen aber höher als die der reichen Länder. Das Bestreben, auf allen Gebieten gleiche Standards wie die reicheren Länder anzubieten, führt dazu, dass die Schulden der ärmeren Länder mehr und mehr steigen, das Problem sich also ständig verschärft. Noch 1980 hatte die Gesamtverschuldung der alten Bundesländer (ohne Stadtstaaten) 95 Prozent der jährlichen Steuereinnahmen betragen, 1995 waren es bereits 160 Prozent. Diese allgemeine Verschlechterung verteilte sich aber sehr ungleichmäßig: Während 1980 die Verschuldung Bayerns um 37 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt lag, waren es 1995 bereits 60 Prozent. Das Saarland auf der anderen Seite lag mit seiner Gesamtverschuldung schon 1980 um 88 Prozent über dem Bundesdurchschnitt, 1995 sogar um 135 Prozent!

Damit ist der einnahmeorientierte Finanzausgleich aber am Ende seiner Möglichkeiten angekommen. Er war auch nie dazu bestimmt, durch Schulden verursachte Unterschiede der Ausgaben zu kompensieren. Die Geberländer beklagen grundsätzlich zu Recht, dass das gegenwärtige Ausgleichssystem die Einnahmen der Länder übernivelliert. Fiskalisch gesehen lohnt es nicht, wenn ein Bundesland durch eine geschickte Politik oder glückliche Umstände seine relative Wirtschaftskraft steigert. Jedenfalls in Bezug auf die Steuereinnahmen wird den armen und reichen Ländern, den fähigen und unfähigen Landesregierungen durch eine umfassende Umverteilung die Gleichheit der Ergebnisse garantiert.

Die Situation scheint völlig verfahren: Weder kann der selbst hochverschuldete Bund in den kommenden Jahrzehnten die Gruppe der hochverschuldeten Länder stärker entlasten noch ist es den Geberländern im Finanzausgleich zuzumuten, über die praktisch jetzt schon erreichte völlige Gleichverteilung der Steuereinnahmen hinaus an die Gruppe der finanzschwachen Länder weitere Einnahmen abzugeben.

Die gegenwärtige Finanzverfassung leidet unter grundsätzlichen ordnungspolitischen Mängeln:

– Wegen der Gleichverteilung der Einnahmen haben weder die reichen noch die armen Länder an einer ergiebigen Nutzung ihrer Steuerquellen ein tatsächliches Interesse. Sie sind vielmehr immer wieder versucht, lasche Verhaltensweisen als ein bequemes Instrument der Wirtschaftsförderung zu Lasten der übrigen Länder und des Bundes anzusehen.

– Die Ideologie des Finanzausgleichs, über die Verteilung der Einnahmen die Gleichheit der Lebensverhältnisse in Deutschland sicherzustellen, führt auf der Ausgabenseite zum Anspruch der armen Länder, trotz überdurchschnittlicher Verschuldung auf möglichst allen Gebieten – Polizei, Justiz, Kindergärten, Schulen, Soziales, Wirtschaftsförderung, Städtebau – die Versorgungs- und Leistungsstandards der reichen Länder sicherzustellen. Dies wird auch noch durch einheitliche bundesstaatliche Leistungsvorgaben vom Bundessozialhilfe- bis zum Unterhaltsvorschussgesetz unterstützt.

Am Ende wird so der Staatscharakter der Bundesländer ausgehöhlt: Gleichgeschaltet bei den Einnahmen, gleichgeschaltet bei den Besoldungsstrukturen und beim größten Teil der Leistungsstandards, können die hochverschuldeten Länder wohl zu Recht darauf hoffen, dass sie am Ende auf ihren überdurchschnittlichen Schulden nicht sitzen bleiben werden.

Mit dieser Hoffnung aber wird jede ernsthafte Sparbemühung ad absurdum getrieben: Der politische Wettbewerb – sowohl in den Ländern zwischen Opposition und Regierung als auch zwischen Ländern – ist fast ausschließlich auf Verbesserung der Leistungsstandards durch weitere Ausgabenerhöhungen ausgerichtet. Nennenswerte Konsolidierungsbemühungen versickern regelmäßig, wenn die nächste Landtagswahl am Horizont erscheint. Dies bleibt in der verqueren Logik unserer bundesstaatlichen Finanzverfassung auch so lange rational, als kein Bundesland befürchten muss, mit seinen selbst verursachten Verschuldungsproblemen tatsächlich dauerhaft allein gelassen zu werden. Die hochverschuldeten Länder müssten nämlich durch eine mehr als zehnjährige Phase beträchtlicher Minderausgaben gehen, bis sie die niedrigeren Zinsbelastungen von Baden-Württemberg oder Bayern erreicht hätten.

Deshalb sollte der Grundsatz des no bailing out – jeder Staat steht in der ungeteilten Verantwortung für die Ergebnisse seiner Haushaltspolitik – auch die Ausgangsbasis für eine grundlegende Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs werden. In den Vereinigten Staaten wird uns dies seit 200 Jahren vorgemacht: Die Zentralregierung konzentriert sich auf bestimmte Aufgabenfelder und überlässt den Staaten die weitgehend ungeteilte Verantwortung für ihre Leistungsstandards, für die Art der Aufgabenerfüllung und für ihre Staatsfinanzen. Das Ergebnis: Die Wähler und die Regierungen sind sich der Risiken einer Verschuldung auf der Ebene der Einzelstaaten in hohem Maße bewusst und verhalten sich entsprechend. Zwischen den Staaten der USA bestehen viel größere Unterschiede im Wohlstand und dem staatlichen Leistungsniveau als zwischen den deutschen Ländern.

Aber für arme und reiche US-Staaten gilt gleichermaßen: Größere Finanzschulden bleiben die Ausnahme. In der Summe weisen die US-Staaten sogar einen Haushaltsüberschuss auf. Einnahmeschwankungen werden in erster Linie durch die Auflösung und Bildung von Rücklagen ausgeglichen. Der Preis dafür sind die wesentlich größeren Unterschiede im staatlichen Leistungsniveau. Diese gehen allerdings mit deutlich größeren Unterschieden in den Lohnkosten und einer auch in den armen Staaten deutlich niedrigeren Arbeitslosigkeit Hand in Hand.

Für die Bundesrepublik Deutschland bleibt festzuhalten: Nicht die Länder, die abgeben mussten, sondern jene, die Ausgleichsmittel empfangen haben, betrieben in den vergangenen dreißig Jahren eine mit ihren langfristigen Möglichkeiten nicht übereinstimmende Finanzpolitik. Die politische Farbenlehre hilft hier allerdings nicht weiter: Zwar werden zwei besonders finanzstarke und besonders sparsame Länder wie Bayern und Baden-Württemberg von der CSU oder CDU regiert, aber auch die Geberländer Nordrhein-Westfalen und Hessen können sich sehen lassen. Auf der anderen Seite legten die Nehmerländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland den Grund für ihre überdurchschnittliche Verschuldung vor der Zeit der heutigen SPD-geführten Regierungen.

Die Bemühungen um wirtschaftliches Aufholen und gleiche Lebensverhältnisse trieben bei den ärmeren Ländern die Ausgaben und eine überdurchschnittliche Verschuldung an, ohne dass dies wegen der schon vollzogenen Gleichverteilung der Steuereinnahmen einen einnahmesteigernden Effekt gehabt hätte.

Was ist zu tun? Die überfällige Reform des Finanzausgleichs muss das fiskalische Eigeninteresse am wirtschaftlichen Erfolg des Landes deutlich steigern. Es muss eine klare Rückmeldung vom wirtschaftlichen Erfolg zur finanziellen Leistungskraft, aber auch mehr Möglichkeiten für ein eigenverantwortliches Handeln des Landes geben. Dann werden sich mit der Zeit auch die Entscheidungsmaßstäbe der Wähler ändern, und solide Finanzpolitik wird bei Wahlen mit mehr Nachdruck eingefordert werden.

Zu einer grundlegenden Reform gehören die folgenden Ansatzpunkte:

– Der Finanzausgleich ist derart zu begrenzen, dass die Steuereinnahmen der Nehmerländer auf nicht mehr als 90 Prozent des Bundesdurchschnitts aufgefüllt werden.

– Die bundesstaatlichen Vorgaben für Art und Umfang der Aufgabenerfüllung der Länder sind zu beschränken. Finanzschwache Länder müssen die Möglichkeit haben, auch in den Kernaufgaben des Staates andere Akzente zu setzen als reichere Länder. Für die Sozialhilfe zum Beispiel wäre eine allgemeine bundesrechtliche Rahmenregelung grundsätzlich ausreichend.

– Die bundeseinheitlichen besoldungsrechtlichen Vorgaben müssen gelockert, abweichende Tarifverträge der Länder möglich werden.

– Die Länder müssen mehr Möglichkeiten zur selbstständigen Gestaltung der Steuereinnahmen etwa durch eigene Hebesätze oder Zuschlagmöglichkeiten erhalten.

Solche Vorschläge sind im Augenblick recht chancenlos und werden es wohl noch für einige Jahre bleiben. Möglicherweise muss auch hier alles noch viel schlimmer kommen, ehe es wirklich besser wird.

Thilo Sarrazin, Chef der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft, war früher Finanzstaatssekretär in Rheinland-Pfalz.

Die Sarrazin-Debatte

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