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3 Air / Condition
ОглавлениеUnter den Offensiven der Moderne hat besonders der Surrealismus die Einsicht zugespitzt, dass das Hauptinteresse der Gegenwart der Explikation der Kultur gelten muss. Der Surrealismus gehorcht dabei dem Imperativ, im Modernisierungsfeldzug die symbolischen Dimensionen zu besetzen. Sein Ziel: schöpferische Prozesse explizit zu machen und ihre Quellgebiete technisch aufzuschließen. Auch er bediente sich dabei des Begriffs der „Revolution“. Was er erreichte war aber keine Umwälzung, sondern ausschließlich eine Umverteilung der symbolischen Hegemonie.
Am Beispiel Surrealismus zeigt sich, wie sie Teil der explizitivistischen Bewegung der Moderne war, weil er sich unmissverständlich als latenzbrechendes und hintergrundauflösendes Verfahren vorstellte. Damit wurde er immer wieder zum Bürgerschreck das aber seine Lektionen immer wieder schnell lernte. Am Beispiel einer bekannten und nicht gelungenen surrealistischen Offensive durch Salvador Dali –sein Auftritt im Taucheranzug- illustriert, dass bewusste Existenz als ein explizites Kontexttauchen gelebt werden muss. Wer sich in der Multi-Mileu-Gesellschaft aus dem eigenen Lager herauswagt, hat sich seiner „Taucherausrüstung“, das heißt seines physischen wie mentalen Immunsystems beziehungsweise seiner sozialen Raumkapsel, gewiss zu sein.
Der fast Unfall – bei seinem Auftritt im Taucheranzug hatte man die Luftzufuhr vergessen- legt auch die systemischen Risiken der technischen Atmosphärenexplikation und der technischen Erzwingung des Zugangs zum anderen Element offen. Die Moderne als Hintergundexplikation bleibt in einem phobischen Zirkel gefangen: indem sie Angstüberwindung durch angsterzeugende Technik anstrebt, muss sie ihr Ziel immer erneut verfehlen.
Die Angst liefert den anhaltenden Schub für den Fortgang des vergeblichen Prozesses; ihre Dringlichkeit rechtfertigt auf jeder Stufe der Modernisierung den Einsatz von weiterer latenzbrechender und hintergrundkontrollierender Gewalt –oder nach den herrschenden Sprachregelungen: Sie fordert Grundlagenforschung und Innovation in Permanenz. Die ästhetische Moderne ist ein Verfahren der Gewaltanwendung weder gegen Personen noch Sachen, sondern gegen ungeklärte Kulturverhältnisse.
War für Dali nach der Tauchanzugpanne eine Rückkehr in die gemeinsame Luftatmosphären möglich, so ist diese Lösung für die zivilisatorische Lage unbrauchbar, weil der Prozess der Atmosphärenexplikation kein zurück zum bisher implizit Voraussetzbaren erlaubt: Menschen die sich momentan oder habituell in ausgeprägten indoors-Situationen aufhalten, müssen an ein unterstützendes „Luftversorgungssystem“ angeschlossen werden.
Die fortgeschrittene Atmosphärenexplikation erzwingt eine durchgehaltene Aufmerksamkeit auf die Atembarkeit der Luft –zunächst im physikalischen Sinne, dann auch zunehmend im Hinblick auf die metaphorischen Dimensionen des Atmens in kulturellen Motivations- und Sorgenräumen.
Nach Ablauf des 20 Jhdt. gewinnt die Lehre von homo sapiens als Zögling der Luft
pragmatische Konturen. Es geht um die Kulturwissenschaften als Wissenschaft von der Beatmung sinn-abhängiger Lebewesen durch informierende und imperative Milieus. Die technisch-naturwissenschaftlich-militärisch-juristisch-architektonisch-bildnerischen Aspekte haben dabei einen nur schwer einholbaren Vorsprung vor der kulturtheoretischen Begriffsbildung erreicht. Die am weitesten ausgearbeitet und alltagsrelevante Expertise dabei ist der Wetterbericht, die „klimatologische Lagebesprechung“.
Moderne Großkommunen verwandeln sich in dorfartige Nachbarschaften, in denen man sich darüber austauscht, dass „das“ für die Jahreszeit nicht das passende Wetter ist. Massen verwandeln sich dann zwischen Heiligabend und Epiphanias zu Wetterdissidenten. Wetter ist halt das, das sich ausschließlich selber macht und was unaufhörlich von einem gegeben Zustand in den nächsten prozessiert. Diverse Klima Faktoren die unter dem Einfluss der Sonneneinstrahlung ein äußerst komplexes Muster des Energieaustausches ergeben.
Sie lassen sich ohne Bezug auf eine anfänglich planende oder nachträglich eingreifende Intelligenz in rein naturwissenschaftlicher Haltung darstellen. Eine adäquate Analyse erweist sich als so komplex, dass sie einen neuen Typus von Physik erzwingt, die imstande ist, mit unvorhersagbaren Strömungen und Turbulenzen umzugehen –ohne Rückgriff auf eine transzendente Intelligenz.
Sie steht in der Tradition des abendländischen Rationalismus der von Beginn der Neuzeit an jeden möglichen Gott beurlaubt. Der Gott der neuzeitlichen Europäer ist klimainaktiv.
Die moderne Meteorologie steht aber im Bündnis mit einer progressiven Subjektivierung des Wetters:
Die klimatischen Gegebenheiten beziehen sich immer mehr auf die Bevölkerungen denen das Wetter in Bezug auf ihre Projekte nicht gleichgültig ist; weil das objektive Klima zunehmend als Effekt der Industriegesellschaftlichen Lebensform beschrieben wird. Neuzeitliche Menschen sind Wetterklienten und Wettermitverursacher. Sie erlauben sich Urteile über Sachverhalte in die sich frühere nur in stummer Ergebenheit fügen durften.
Europäische Kulturen sind selber Klimamächte geworden. Die Menschen begegnen seither im Wetter den atmosphärischen Auswürfen ihrer eigenen industriell-chemotechnischen, militärischen, lokomotorischen und touristischen Tätigkeiten. Eine Meinung über das Klima zu haben bereitet den Wandel der Grundhaltung vor, sich vom „Herren“ und „Besitzer“ der Natur zu Atmosphärendesigner und Klimawärtern umzubilden –man sollte sie nicht mit Heideggers „Hüter des Seins“ verwechseln.
Hier begegnet man nun dem anthropogenen Treibhauseffekt als die Klimaspur eines zivilisatorischen Projekts, das auf den erleichterten Zugang zu großen Mengen fossiler Brennstoffen dank Kohlebergbau und Ölförderung beruht. Beide sind die objektive Stütze der Frivolität, ohne die es keine globale Konsumgesellschaft, keinen Automobilismus, keinen Weltmarkt für Fleisch und Mode gäbe.
Zunächst gilt, dass ohne den natürlichen, primären Treibhauseffekt die Erde eine ausgedehnte Eiswüste wäre. Dieser entsteht, weil Wasserdampf und Treibhausgase in der Erdatmosphäre die Rückstrahlung der von der Sonne aufgenommenen kurzwelligen Energie in Form von langwelligen Infrarotstrahlungen behindern. Hierdurch konnte eine mit Leben kompatible Erwärmung auf plus 15Grad entstehen.
Leben ist ein Nebeneffekt klimatischer Verwöhnung. Die Signatur des Fossilenergie-Zeitalters zeigt sich darin, dass die Verwöhnten leichtsinnig genug wurden, ihre Verwöhnung aufs Spiel zu setzen, indem sie das Risiko einer anthropogenen Übererwärmung - oder evtl. das einer Zwischeneiszeit- eingehen.
Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert kam es zu jener design- gestützten „Entdeckung des Offenkundigen“ durch welche Menschen im Explikationszeitalter motiviert wurden zu einem zweiten Griff nach dem was auf der Hand lag: die Popularisierung des vormals herrschaftlichen-luxeriösen-frivolen bis hin zur aromatechnischen Modifikation der Atmosphäre, mit der sich der Übergang ins offensive Air Design vollzieht und damit eine Antwort auf die verspätete Einsicht, dass menschliches In-der-Welt-Sein sich immer und ohne Ausnahme als Modifikation von In-der-Luft-Sein darstellt.
Sobald die Luftabhängigkeit der Menschen in prinzipieller Tonart artikuliert wird, drängt sich auch eine entsprechende Emanzipation auf. Sie fordert und erlangt die aktive Gestaltung des Elements. Das Air Design tritt der Luft in der Haltung praktischer Stärke „gegenüber“. Sie schlägt gewissermaßen die Fortsetzung des privaten Parfumgebrauchs mit öffentlichen Mitteln vor, sie dient dem Zweck die Luft-Passanten durch geruchsinduzierte angenehme Situationszumutungen an den Ort zu binden und eine erhöhte Produktbejahung und Kaufbereitschaft bei ihnen hervorzulocken.
Die Gestaltung von Atemumgebungen dehnt das Prinzip Innenarchitektur auf das sonst unmerkliche Lebensmilieu, das Gas- und Aroma-Envierement, aus.
Vergessen wir nicht, dass die heutige sogenannte Konsum- und Ereignisgesellschaft im Treibhaus erfunden wurde – in jener Glasüberdachten Passsagen des frühen 19. Jhdt., eine frühe Stufe der urbanistischen Atmosphärenexplikation, eine Ausstülpung der „Wohnsüchtigen“ Disposition.
Wohnsucht sagt Walter Benjamin, ist der unwiderstehliche Trieb, in beliebigen Umgebungen „ein Gehäuse zu prägen“. Schon bei Benjamin ist das „überzeitliche“ Bedürfnis der Uterus-Simulation mit den symbolischen Formen einer konkreten historischen Situation zusammen gedacht worden.
Das 20. Jhdt. zeigt in seinen Großbauten, wieweit solche Gebäude über die Bedürfnisse der Suche nach einem wohnlichen Interieur hinausgetrieben wurden.
Sie werden von der Aufgabe entbunden, Häuslichkeit vorzutäuschen. Das Passagenwerk müsste heute Air-Condition-Werk heißen.
1936, in einer Festrede von Elias Canetti auf Hermann Brochs 50. Geburtstag, sprach Canetti über das Verhältnis zwischen dem Autor und seiner Epoche. Dabei definierte er den Aufenthalt des Künstlers als einen Atem-Zusammenhang, als eines Eintauchens in die atmosphärischen Zustände der Gegenwart.
Canetti lobt an Broch das Vermögen, jeden Menschen gleichsam ökologisch aufzufassen: Er erkenne an jeder Person eine singuläre Existenz in ihrer eigenen Atemluft, von einer unverkennbaren Klimahülle umgeben, in einen persönlichen ‚Atemhaushalt‘ eingegliedert, …“das die Vielfalt unserer Welt zum guten Teil auch aus der Vielfalt unserer Atemräume besteht.“
Dadurch wird das Entfremdungsmotiv in der Moderne auf veränderte Grundlagen gestellt: Es ist die atmosphärische Getrenntheit der Menschen, die für ihren Einschluss in jeweils eigene „Atemhaushalte“ sorgt; ihre Schwererreichbarkeit durch die Andergestimmten, Andersumhüllten, Andersklimatisierten. Die Zerspaltenheit der sozialen Welt in füreinander unzugänglichen Eigensinn-Zonen ist das moralische Analogon zur mikroklimatischen „Zersplitterung der Atmosphären“ die ihrerseits einer Zersplitterung der „Wertewelt“ entspricht.
Canetti erkennt in Broch den prophetischen Warner von einer Menschheits-Gefährdung ohne Beispiel, die im metaphorischen wie im physikalischen Sinn vom Atmosphärischen her droht: der Wehrlosigkeit des Atems.
Die Luft sei die letzte Allmende. Sie kommt allen zu, auch der Ärmste darf von ihr nehmen. Und dieses Letzte, das uns allen gemeinsam war, soll uns alle gemeinsam vergiften. Der Atomterrorismus im Ersten Weltkrieg habe sich nach innen gewendet.
Aus der gemeinsam geatmeten Luft, aus dem Äther des Kollektiven, wird künftig die wahnverfallende Gemeinschaft den Giftkrieg gegen sich selber führen.
Wie? das sollte eine Theorie der „Dämmerzustände“ klären – ein fragmentarisch gebliebener Teil in Brochs massenpsychologischen Hypothesen.
Dämmerzustände sind solche, in denen Menschen sich als Trendbefolger unter der Trance des Normalen bewegen. Durch toxische Kommunion werden sie zusammengehalten, eine Identität durch gemeinsame Bedrohtheit. Was in der Luft liegt, wird durch totalitäre zirkuläre Kommunikation in sie gelegt: Sie ist erfüllt von Siegesträumen gekränkter Massen und ihren rauschhaften, empirie-fernen Selbsterhöhungen, denen das Verlangen nach der Erniedrigung ihrer Gegner wie ein Schatten folgt.
Das Leben im Medienstaat gleicht dem Aufenthalt in einem von Erlebnisgiften animierten Gaspalast.
An diesem Ansatz arbeitet Broch seit 1939 während des ganzen Jahrzehnts.
Träger und Agens von Wahnbildungen in modernen Kollektiven sind seit den zwanziger Jahren des abgelaufenen Jhdt. Dauerkommunikation durch Presse und Rundfunk: Enthemmungsmedien in denen Phrasen wahr werden. Sie bilden das informatorische Analogon zur chemischen Kriegsführung. Broch erfasst den Parallelismus zwischen Gaskrieg und der Erzeugung von Massenwahnzuständen als dem Versuch die Bevölkerung in eine zu ihrer Selbstzerstörung hinreichende, durch Verlangen nach „Superbefriedigung“ überladene ekstatische Atmosphäre einzutauchen.
Die Einzelnen: sie sind „Schlafwandler“, die sich im „sozialen Tagtraum“ ihrer Organisation wie ferngesteuert zu bewegen. Sie sammeln sich unter Parolen und Fahnen wie Miteigentümer an Luftschlössern. Broch geht es um die Prophylaxe der Mitgerissenheit, in ihrem therapeutischen Teil mit der Zurückführung der Ergriffenen in die lebbare Rationalität eines ‚offenen Systems‘ – alias Demokratie oder Gewaltenteilung der Paniken und Hysterien: einer Besiegung des Siegs“; den Siegestaumel durch Siegestrauer zu ersetzen.