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II. HERMENEUTIK DER VÖLKERVERNICHTUNG

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Beinahe alle bibelwissenschaftlichen Erklärungs- und Legitimationsversuche der erzählten alttestamentlichen Massentötung cheraem stehen, wie J. Barr bemerkt, auf ebenso tönernen wie apologetisch schwachen Beinen.28 Einer dieser Erklärungsversuche verfolgt etwa die Strategie der historischen Relativierung, welche insinuiert, die Außergewöhnlichkeit einer Vernichtungsweihe weiche nicht signifikant von einer allgemeinen Praxis der Massentötungen im achten und siebenten vorchristlichen Jahrhundert ab. Diese Argumentationslinie verharrt sprachlich bei einer neutralen Position des retrospektiven Feststellens, ohne dadurch jemals die Frage nach den moralischen und ethischen Aspekten, insbesondere vor dem Hintergrund der Offenbarung, diskutieren zu müssen. Ein anderer Erklärungsversuch entpuppt sich als Strategie, mit der historisch-probabilistisch argumentiert und a priori eine faktische Unmöglichkeit deuteronomischer Chronologie unterstellt wird. Diese Strategie rückt die narrativ-poetische Ebene des cheraem im Pentateuch in den Vordergrund und nähert sich ebenfalls nicht dem Dilemma, warum ausgerechnet die Quelle des Guten eine Anweisung gegeben haben sollte, Massentötungen vorzunehmen. Indem der extreme Befehl Jahwes in der tradierten Erzählung und in deren Kommentaren nicht hinterfragt, sondern nur widerspruchslos angeführt wird, entsteht der Eindruck, daß der vernichteten Ursprungsethnie weder faktisch noch narrativ auch nur die entfernteste Chance eingeräumt war, durch Flucht oder Exodus ihr nacktes Leben zu retten.

Derartige Narration trägt dazu bei, daß im Kontext des Gottesbildes Assoziationen von Unsicherheit, Begriffe der Verzerrung mitgedacht werden, und sie wirkt sich sogar auf den gesamten Bedeutungsraum des Begriffes des Guten nachteilig aus. Diese Form der Abweichung vom kýrion29 als dem im aristotelischen Sinne Üblichen der Narration, stellt eine sublime Form des Verbalradikalismus dar, eine Form der Delegation von Verantwortung durch bloßes aufzählendes Nennen der Fakten: benennen, ohne im alttestamentlichen Sinne das Gewissen zu befragen.30 Sprachlich eingekleidet werden die Tötung der präisraelitischen Bevölkerung und die Vernichtung von Ethnien in jene von Moses getroffene Vereinbarung, der bereits ein göttlicher Plan zugrundeliegt. Mit dessen Befolgung vermag auch die sprachliche Verlagerung und Verschiebung von Verantwortung bewerkstelligt zu werden. Auf diese Weise wird die Verlagerung der Letztverantwortung der Form nach zu einem Ende gebracht. Nicht der Mensch vernichtet Menschen, sondern es gibt Opfer, die als Verluste prinzipiell unvermeidlich sind, Opfer, die lakonisch-distanziert aufgezählt werden, ohne daß ihnen zumindest ein eigenes, ein explizites es gibt die Reverenz erweisen würde. „Und der Herr sprach zu mir: Fürchte ihn nicht, denn in deine Hand habe ich ihn und all sein Volk und sein Land gegeben! Und tu mit ihm, wie du mit Sihon, dem König der Amoriter, getan hast, der in Heschbon wohnte! Und der Herr, unser Gott, gab auch Og, den König von Baschan, und all sein Volk in unsere Hand. Und wir schlugen ihn, bis ihm keiner übrigblieb, der entkam. Und alle seine Städte nahmen wir in jener Zeit ein. … Und wir vollstreckten den Bann an ihnen, wie wir es bei Sihon, dem König von Heschbon, getan hatten. Wir vollstreckten an ihrer ganzen Bevölkerung den Bann: an Männern, Frauen und Kindern.31 Es existiert keine retrospektiv eingestandene Schuld über begangenes Unrecht im Deuteronomium, es überwiegt die reine Aufzählung. Die Opfer werden zurückgelassen, unkommentiert, anonym, als Unterlassung scheinbar im Einklang mit dem göttlichen Welthandeln.

Die Art und Weise, wie das voraussehende göttliche Welthandeln im Deuteronomium geschildert wird, wie die Vorwegnahme der zu vernichtenden Nationen im Deuteronomium und auch im Buch Josua durch die heterogenen Formulierungen des in die Hand Gebens32 der zu erobernden Völker explizit und final dargestellt wird, ist nicht primär Ausdruck und Resultat jahrhundertelanger Repressionen, sondern trägt selbst dazu bei, ein kulturelles und soziopolitisches Bewußtsein zu erzeugen, zu verstärken und auf der ethischen Ebene zu tradieren. Die verbale Preisgabe der zur Vernichtung vorgesehenen sieben alttestamentlichen Nationen erzeugt, unabhängig davon, ob ihre historische Existenz mit der erzählten Existenz im Pentateuch übereinstimmt, eine grundsätzliche Struktur der Gewalt und ein Bewußtsein der Legitimität von Gewaltausübung, die weit über das Parabolisch-Spirituelle33 hinausgeht. Die vorgesehene, vorbestimmte und schließlich retrospektiv erzählte Massentötung ist zur Zeit Joschijas34 nicht nur akzidentiell in einem kulturellen Klima der Gewalt beheimatet, sondern selbst performativ, selbst Teil und Triebkraft des klimaerzeugenden Prozesses, der sich als zu erfüllender göttlicher Plan versteht. Aus dem Blickwinkel einer solchen ethischen Selbstlegitimation ist es daher von geringer Relevanz, ob die beschriebene Völkervernichtung im Zuge der Landnahme bzw. Landgabe historisch jemals stattfand oder überhaupt hätte stattfinden können.35 In welcher deuteronomischen oder deuteronomistischen Passage die Sprache der Gewalt auch aufscheint, sie ist eine unmißverständliche Abbildung der kulturellen und soziopolitischen Realität einer Ethnie, die sich nach M. Buber ununterbrochen in einer Lebensform der „primitiven Pansakralität36 befand, in der die Gänze des Lebens, sohin die gesamte Lebenswirklichkeit „sakral gebunden war“, wie G. v. Rad es formuliert, und sich die Menschen daher in jedem Augenblick „… der Gegenwart und Hilfe Jahwes gewiß …37 sein konnten.

Auch aus einem weiteren Grund kann und soll die überbordend gewaltvolle Sprache des Deuteronomiums weder ästhetisch bagatellisiert noch spirituell relativiert werden, findet sich doch, wie J. Barr zeigt, keine biblische Stelle, an der die alttestamentliche Völkervernichtung per se einer fundamentalen Kritik unterzogen worden wäre.38 Daraus jedoch den Umkehrschluß zu ziehen, daß sich sämtliche Aufforderungen und Selbstverpflichtungen zur Völkervernichtung ungeteilter Zustimmung erfreut hätten, wäre ebenso unzulässig wie die Annahme, daß die von Jahwe selbst angeordnete Gewalt bei den Israeliten mehrheitlich auf Ablehnung gestoßen wäre. Zumindest als Gedankenführung muß das Konzept der umfassenden Gewaltanwendung die Zustimmung einer Mehrheit gehabt haben, auch wenn diese im Einzelfall nur als qualifizierte Mehrheit und nicht als blutrünstige Doppelmasse39 die Gewalt vollständig und rücksichtslos umsetzte. Performative Sprache, die sprachlich in Programmatik eingebettet ist, kann nur zum Teil mit den Jahrhunderten der Unterdrückung einer marginalisierten Ethnie erklärt werden, die zwischen die geopolitischen Fronten antiker hegemonialer Strukturen geraten ist und daher für sich selbst einen ideellen Ausweg verschriftlicht hat. Damit wäre das wirkungsmächtige Deuteronomium weit unterschätzt und auf eine soziopolitische Funktion und profane Ideologie reduziert. Doch das Deuteronomium wirft in Form einer geistigen Wirkungsgeschichte seinen Schatten Jahrtausende weit in die Zukunft: Bereits in der deuteronomischen Programmatik der göttlichen Handlungsanweisung ist der Grund dafür gelegt, daß die Diskussion um einen möglichen „heiligen Krieg40 bis weit in die Paränese des europäischen Mittelalters und der Neuzeit hineinreicht.

Mit dem kontroversiell diskutierten Thema des „gerechten Krieges41 ist auch der Fragenkomplex des Absolutheitsanspruches des christlichen Glaubens mittelbar verbunden. Nicht wie zu erwarten wäre bereits zur Zeit der Aufklärung, sondern erst durch den im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts auf vielfältigen Ebenen anhebenden interreligiösen Dialog beginnt die Frage nach dem Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens freier und differenzierter erörtert zu werden. Die Strukturen der vorstaatlichen Gesellschaftsform des alten Israel werden endlich als Erklärungsansatz für generelle Gewaltdurchsetztheit der ursprünglichen kanaanäischen Ethnien herangezogen und zugelassen.42 Dessenungeachtet setzen dennoch die frühen Grundlegungen und die argumentative Stringenz der Bücher des Pentateuch für die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein „gerechter Krieg“ an sich möglich wäre, ein erstes Datum und legen dieses auf zwei Weisen fest: Zum einen im Sinne eines ersten Zeitpunktes, zum anderen im Sinne des Gegebenen und des von Gott Gegebenen, wobei die nicht temporale Lesart jenen Ursprung zu erkennen gibt, von dem Gesellschaften ihre Identität beziehen und Kulturen ihre Ätiologie herschreiben. Genau in diese Grundlegung wird jedoch auch Jahwe, vielfach verbalradikal und innerhalb der Thora unwidersprochen, hineingezogen. Jahwe bleibt mit Zorn, Gewalt und Gottesfurcht sprachlich konnotiert und sohin aktiv und passiv, illokutionär und perlokutionär43, doch vor allem innerhalb eines gewalttätigen historischen Kontextes irreversibel in Sprechakte der Gewalt gebettet.44 „Yahweh was no pacifist …“,45 lautet die pointierte, ob ihrer Verkürztheit jedoch nicht minder radikale Formel G. E. Wrights, die in ihrem Kern gar nicht erst versucht, eine Verteidigungsposition zu beziehen oder Erklärungen zu konstruieren, sondern die statt eines Verteidigungsreflexes die anthropomorphistische Flucht nach vorne antritt.

Soll die Aufforderung zur rituellen Massentötung, der cheraem, mit der kulturellen Faktizität der antiken Völker des Mittleren Ostens erklärbar sein, dann muß die Vernichtungsweihe, um einer drohenden contradictio in adiecto zu entgehen, mit dem Begriff des gütigen Gottes in Einklang gebracht werden. Denn selbst der argumentative Ausweg, der cheraem bestünde bloß in der Form einer retrospektiven Narration, nämlich nur als Beschreibung der letzten, abschließenden und damit auch entscheidenden Phase des Exodus, ist ein historisch-materielles Argument. Als solches verfehlt es, ebenso wie das Argument, die Erzählung von der Zerstörung ganzer Völker sei faktisch nicht relevant, da diese zum Zeitpunkt der Niederschrift des Deuteronomiums längst nicht mehr existiert hätten, den Kern der Fragestellung. Das Argument zielt darauf ab, eine mögliche soziopolitische Realität des siebenten vorchristlichen Jahrhunderts als Folie für die kulturelle Gestimmtheit einer Epoche zu verwenden, in der das neuassyrische Schreckensregime und alle seine systematischen Vernichtungszüge bereits begannen, sich aufzulösen. Es zielt ferner auf die These ab, daß aufgrund der historischen Erfahrungen und der herrschenden politischen Konstellationen die Verfasser des Deuteronomiums, in Kenntnis und Erfahrung der Terrorregime der antiken Großreiche, im besonderen des neuassyrischen Reiches, gar keine anderen diskursiven Möglichkeiten sahen, als Gott selbst die Rolle des autoritären und Massentötungen gebietenden Herrschers zuzuschreiben. Alle diese rhetorisch operierenden und wirkungspsychologisch durchaus nachvollziehbaren Argumentationen liefern zwar die Rahmenbedingungen für die von Gott angeordneten Massentötungen, wie etwa die apodiktische Bundestreue zu Jahwe, sie reflektieren jedoch an keiner Stelle, wie die Vernichtungsweihe überhaupt begründbar oder auch nur ansatzweise legitimierbar sein könnte. Auch ist die Frage des Eigeninteresses Israels im Kontext der Völkervernichtung an keiner Stelle des Deuteronomiums ethisch kontextualisiert, etwa durch textuelle Anklänge des Mitgefühls, des Mitleids mit der vernichteten Bevölkerung, wie neben vielen anderen auch an den deuteronomistischen Stellen nachweisbar ist: „Da sprach der Herr zu Josua: Fürchte dich nicht vor ihnen! Denn morgen um diese Zeit werde ich sie alle vor Israel zu Erschlagenen machen. Ihre Pferde sollst du lähmen und ihre Wagen mit Feuer verbrennen. Und Josua und alles Kriegsvolk mit ihm kam plötzlich über sie am Wasser Merom, und sie überfielen sie. Und der Herr gab sie in die Hand Israels, und sie schlugen sie und jagten ihnen nach bis Sidon, der großen Stadt, und bis Misrefot-Majim und bis in die Talebene von Mizpe im Osten. Und sie schlugen sie, so daß ihnen kein Entronnener übrigblieb. Josua machte es mit ihnen, wie der Herr ihm gesagt hatte: Ihre Pferde lähmte er, und ihre Wagen verbrannte er mit Feuer. In jener Zeit kehrte Josua um und nahm Hazor ein, und seinen König erschlug er mit dem Schwert. Denn Hazor war damals die Hauptstadt all dieser Königreiche. Und sie schlugen alles Leben, das darin war, mit der Schärfe des Schwertes, indem sie den Bann an ihnen vollstreckten: Nichts Lebendes blieb übrig. Hazor aber verbrannte er mit Feuer.46

Auf der Ebene des biblischen Textes führt die angeordnete Völkervernichtung, schleichend und fast unbemerkt, zu einer schwerwiegenden sprachlichen Entwicklung: Eine der sprachlichen Konsequenzen des cheraem besteht darin, daß der signifikative Raum der Begriffe des Guten und des Gerechten negativ erweitert wird. Die Erweiterung dieses Bedeutungsraumes führt dazu, daß nicht mehr nur jenes unter gut und gerecht subsumiert werden kann, was Gott als gut und gerecht definiert oder zu erkennen gibt, sondern mit dem Pentateuch und den deuteronomischen Schichten erstmals auch das – aufgrund der Führung Jahwes – siegesgewisse Hinschlachten von Völkern zu einem Teil der zu reflektierenden Identität, der gottgewollten Geschichte der Menschen wird. „And, though there is a wide variety of biblical depictions of warfare, there appears to be no passage that explicitly states disapproval of the ḥ-r-m [cheraem] or denies that it was commanded by God.47 Der Begriff des gottgewollten Guten durchläuft im Pentateuch eine Bedeutungserweiterung, eine semantische Radikalisierung in der Peripherie seines Bedeutungsraumes, letztlich jedoch eine verbale Deformation: Denn unter besonderen Umständen, die einem göttlichen Willen entspringen, in dessen begründeten Ratschluß der Mensch keinen Einblick hat, ist auch das Hinschlachten von ganzen Stämmen oder Völkern, mit allen ihren wehrlosen Alten, Frauen und Kindern, noch im Begriff des gottgewollten Guten und Gerechten integrierbar, gewiß nur peripher und zudem unabhängig davon, ob die Tötungsakte historisch jemals stattgefunden haben konnten oder nicht.48

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