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I. NARRATIVE HANDLUNGSANLEITUNG ZUR AUSLÖSCHUNG

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Kann der hohe Anteil an vertraglichen und gesetzlichen Selbstverpflichtungen, Forderungen und Ansprüchen des Deuteronomiums, welcher die Erzählungen von präisraelitischer Völkervernichtung integriert, überhaupt ausschließlich metaphorisch gelesen werden? Vermag die Handlungsanleitung zur Vernichtung von sieben vorisraelitischen Nationen überhaupt jemals auf die poetische Dimension reduziert zu werden, um damit einen ästhetisch-spirituellen Blickwinkel zu etablieren? Und kann die im Grunde des Deuteronomiums narrativ angelegte Frage der Gewalt auf die bloße Form einer im weitesten Sinne sakralen Handlung relativiert werden? Die alttestamentlichen Wissenschaften gebrauchen Vernichtungsweihe als Terminus technicus zur Beschreibung der unmißverständlich von Gott angeordneten Massentötungen. Es ist dies ein Wort, das zwar hinsichtlich der Bezeichnung cheraem11 eine philologisch stringente Annäherung an den hebräischen Begriff darstellt, jedoch gleichzeitig mit der Bedeutung von Auslöschung auch euphemistische Aspekte trägt, wenn etwa die Begriffe Vernichtung und Weihe amalgamiert werden. Die vielzitierte Aussage, die Terminologie der Gewalt in den frühesten Texten des Alten Testaments sei in erster Linie ein „literarisches Phänomen12, ist zwar als formale Beobachtung unstrittig, sie reicht aber bei weitem nicht aus, um das, was einst sprachlich festgelegt wurde und von diesem Zeitpunkt an als identitätsstiftend anerkannt und verteidigt wird, in seiner Gänze zu erklären oder gar zu begründen. Denn gemessen am Gesamttext des Buches Deuteronomium erscheint der Anteil an konkreten innerweltlichen Drohungen und transzendenten Verheißungen enorm. Auch ist der Korpus des Deuteronomiums aufgrund seiner eine soziopolitische Gesamtheit beschreibenden Struktur rhetorisch heterogen ausgeführt, sowohl aus der Perspektive des Pentateuch, als auch aus jener des deuteronomischen Geschichtswerkes.13 Ebenso sind die aus der Nichtbefolgung angeordneter Verpflichtungen erwachsenden Konsequenzen überaus zahlreich. Doch trotz aller textuellen Substrukturen und Querverweise, die dem Aufbau des Deuteronomiums seine markanten Akzentuierungen und überraschenden Schwerpunkte verleihen, bleibt das Fünfte Buch Mose, wie Lohfink festhält, „eine Erzählung“.14

Der formale Aufbau der deuteronomischen Erzählung entspricht am ehesten einem assyrischen bzw. „hethitischen Typ von Vasallenverträgen“15, was die inhaltliche Abfolge der einzelnen Teile und damit ihre Stellung zueinander betrifft. Durch diese äußere Form ist sichergestellt, daß sowohl der Wiedererkennungseffekt als auch der Vertrautheitsgrad bei seinen Adressaten und Rezipienten hoch sind und sogar noch gesteigert werden, indem laufend kultische, zeithistorische und politische Querverweise auf die anderen Bücher des Pentateuch erfolgen. Sämtliche deuteronomischen und deuteronomistischen Erzählungen, Reden und Anordnungen richten sich stets an eine konkrete, soziopolitisch klar definierte Hörerschaft Israels. Sie besitzen innere Verweisstrukturen und bedienen sich, neben zahllosen anderen, auch häufig des Stilmittels der Wiederholung, wodurch sie die gewünschte wirkungspsychologische Intensivierung und natürliche Schwerpunktsetzung des Textes weiter amplifizieren.16 Die deuteronomische Rhetorik als bewußt eingesetztes Stilmittel bleibt nicht auf konkrete Handlungsanleitungen und Vorschriften beschränkt, sondern zeigt sich als durchgängige Methode, die von zahlreichen Verdoppelungen kontingenter Passagen bis hin zur Wiederholung zentraler Teile, wie jener des Dekalogs, reichen.

Den vielfältigen Beziehungen zwischen Gott und seinem Volk, dessen kommende Geschichte hier an ihrem Ursprung steht, wird in der Form eines Bundes höchste Autorität verliehen.17 Diese ist, über die konkrete Bundesschließung am Sinai hinaus, vielfach narrativ ergänzt und als identitätsstiftende, historisch haltbare Gesamtreform konzipiert, wodurch auch sämtliche zu Gebote stehenden rhetorischen, symbolischen und nicht zuletzt metaphorischen Stilmittel zur Anwendung gelangen. Die Metapher der Feindvernichtung verweist in den deuteronomischen Kernbereichen auf den anstelle des Menschen handelnden Gott.18 Gott überwindet und beseitigt die Feinde anstelle der und für seine auserwählten Menschen, die im Falle Israels als militärisch schwach und unterlegen gezeichnet werden, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß diese ihm als „sein Volk19 bedingungslos und uneingeschränkt vertrauen.20

Die in der alttestamentlichen Forschung zitierte Landnahme der Israeliten liest sich in verschiedenen Schichten des Deuteronomiums, die den Weg in das verheißene Land beschreiben, als Landgabe21 durch Gott. Doch bereits im zweiten Kapitel, das wie das erste in direkter Rede Moses gefaßt ist, erfolgt die Aufforderung zur Gewalt: In Form einer direkten Anweisung Gottes, soll ein vor Moses liegendes Gebiet, auf das sich die Israeliten zu diesem Zeitpunkt mit der neutralen Vorhabe, dieses lediglich durchqueren zu wollen, zubewegten, in deren Besitz gebracht werden.22 Auf diese Anweisung hin erfolgt seitens der Israeliten allerdings noch immer nicht der sofortige Einsatz von Gewalt, sondern zunächst der Versuch, friedlich durch das betreffende Gebiet Sihons, König von Heschbon, zu ziehen. Erst als dieser einem Durchzug der Israeliten nicht zustimmt, erfolgt die kriegerische Auseinandersetzung mit der schrecklichen Konsequenz, daß sämtliche Städte Heschbons samt der darin beheimateten Bevölkerung eingenommen und vernichtet werden: „In jener Zeit nahmen wir alle seine Städte ein, und wir vollstreckten den Bann an jeder Stadt, an Männern, Frauen und Kindern; wir ließen keinen übrig, der entkam.23

Die Tötung der gesamten Bevölkerung, ohne Rücksichtnahme auf deren Alter oder Geschlecht, wird an dieser Stelle nicht nur in extenso erzählt, sondern in wachsender Betroffenheit über den allmählich entstehenden inneren Konflikt zugegeben, geradezu gestanden. Der vollstreckte Bann24 stellt im Falle des Deuteronomiums eine atavistische Metapher für jene Tötungen dar, die auf göttliche Anweisung oder in strenger Befolgung eines Gelübdes gegenüber Gott erfolgen. Entscheidend ist an dieser Stelle die Beantwortung der Frage, wie die Wendung des zu vollstreckenden Bannes im historischen Kontext zu bewerten sei, denn die vor der Entstehung des Deuteronomiums und des deuteronomischen Geschichtswerkes liegenden Jahrhunderte, deren Reflexion stets im Zentrum der Erzählung gehalten wird, sind Zeiten der rohen und systematischen Gewalt. Diese reicht von der brutalen Unterdrückung über Versklavung bis hin zur Verschleppung ganzer Teile der Bevölkerung – oftmals der Oberschicht – okkupierter Städte. In diesen Prozessen gewaltsamer Machtverschiebungen blieb es nicht aus, daß von seiten der antiken Großmächte der Region, den Ägyptern, Babyloniern, Assyrern und Hetitern, die Religionen von unterworfenen Ethnien und marginalisierten Bevölkerungsgruppen des Nord- bzw. Südreiches, Israel bzw. Juda, in Frage gestellt, verboten und an deren Stelle die Bekenntnisse der Hegemonialmächte oktroyiert wurden. In diesem soziopolitischen Kontext permanent anwesender Gewalt ist die Metapher vom Vollstrecken des Bannes dem Verstehen auf grundsätzlich andere Weise zuzuführen, als dies etwa zur Zeit der lateinischen Übertragungen oder der masoretischen Ausarbeitungen möglich ist. Narrativ spiegeln die Ebenen göttlich-menschlicher Koexistenz in anwachsender und sich abschwächender Affektgeladenheit die Struktur und den inneren Zusammenhalt der Sozietäten Israels und Judas wider und stellen, wie ein textuelles Bild, das die Schwankung von Affekten begleitet, den mühseligen Weg vom Auszug aus Ägypten bis zur kanaanäischen Landnahme dar. Wie eine sprachlich wohlwollende Reflexion erscheinen daher die im Pentateuch widergegebenen Massentötungen, da diesen zunächst ritueller Opferstatus attestiert wird. Erst durch ihre Kategorisierung als cheraem können sie auf die Ebene eines geheiligten Aktes gehoben werden, etymologisch begleitet von der Wurzel ḥ-r-m, der die Herkunft des Begriffes von geheiligt oder heilig zuordenbar ist.25

Teleologisch betrachtet vermag die langwierige und von zahlreichen Hindernissen gesäumte Flucht in ein verheißenes Land, über die Vorstellung eines physischen Landes hinaus, auch mit einem ersehnten Zustand assoziiert zu werden, mit innerem und äußerem Frieden, mit Innehalten und Ruhe. Das verheißene, glaubhaft angekündigte Land vermag in abstracto auch als Abwesenheit permanenter existentieller Bedrohung verstanden werden. Dies führt zu der Frage nach der Zulässigkeit der Mittel, mit denen das erklärte Ziel, sei es das physische Erreichen eines konkreten Landstriches oder eines möglichen Zustandes friedlicher Lebensführung, auf legitime Weise erreicht werden kann. Die kriegerische Überwältigung einer Region und die Einnahme von Städten auf der Grundlage materieller Motivation stellt jedenfalls keine hinreichende Legitimation dafür dar, Tötungshandlungen an den dort ansässigen präisraelitischen Ethnien zu vollziehen. Massentötungen aufgrund von materiellen oder machtpolitischen Erwägungen sollen in dieser Betrachtung der deuteronomischen Texte ausgeschlossen werden, widrigenfalls wären die im Deuteronomium geschilderten Tötungen prinzipiell anders zu bewerten:26 Rituelle Tötungshandlungen wären nicht länger argumentierbar, was zur Folge hätte, daß eine qualitative Wende der Narration textuell in Erscheinung treten und das Vokabular des Vorsatzes und der Vernichtung einer gesamten Ethnie im Vordergrund stehen müßte. Doch es verändert sich die Sprache der deuteronomischen Autoren nicht strukturell, und es findet auch kein Bruch in deren Wortwahl statt; das toposhaft beschreibende Vokabular bleibt unverändert bestehen, trotz immer bedrängenderem Tötungs- und Vernichtungskontext ist es neutral berichtend. Die programmatische Terminologie nennt zwar die Vernichtung explizit, dennoch verharrt sie, ohne einen der Zentraltermini für alttestamentliche Massentötung cheraem27 zu reflektieren, in gleichbleibendem Duktus.

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