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III. DIE ERWEITERUNG DEUTERONOMISCHER GOTTESFURCHT
ОглавлениеDer Prozeß semantischer Amplifikation entspricht oftmals in Teilen seines Ablaufes jenen Elementen, die auch in der Funktionsweise des metaphorischen Übertragens und Erweiterns von Bedeutungen feststellbar sind. Der manifeste Text, der das Gute und Gottgewollte sichtbar bezeichnet, erhält seine Bedeutungserweiterung durch die Übertragung von Aspekten mehrerer Nomina, die alle um die göttlichen Anweisungen zum cheraem angesiedelt sind und die per effectum auch dem Begriff der Gottesfurcht – als Erschauern vor dem Numinosen, als „Moment des tremendum“49 im Sinne R. Ottos – seine Substanz und Glaubwürdigkeit verleihen. Doch die aus dem latenten, demgemäß weder a priori textuell sichtbaren noch direkt mit dem Guten und Gottgewollten konnotierten Text stammenden Nomina, etwa Zorn, Brutalität und rücksichtsloses Töten, erhalten durch die Übertragung ihrer Aspekte, die mit dem Vernichten von Menschen konnotiert sind, einen ersten sprachlichen Zugang zum Begriff des Guten und Gottgewollten. Diese Nomina erhalten den Zugang zum Guten und Gottgewollten jedoch nicht als direkte metaphorische Übertragung, sondern, kantisch gewendet, nur als Schema, als vermittelndes Verfahren metaphorischer Übertragung.50 Auf schematisch-metaphorischem Wege verläuft die Erweiterung eines Begriffes des Gottgewollten als Ausdehnung der Anschauung, als Ausweitung seines integrativen Bedeutungsumfangs, als Erweiterung des äußersten Randes des deuteronomischen Willens Gottes. Mit der Bedeutungserweiterung auf der begrifflichen Ebene des gottgewollten Guten ist nicht das Verbalradikale selbst freigelegt, sondern dessen Mechanismus: Der nunmehr gedehnte Bedeutungsraum entspricht einer Übertretung des antizipierten Sprachhorizontes; der „falsche Ton“ hat seine textuelle Integration erzwungen. Cheraem zu integrieren und vor dem Hintergrund der Offenbarung als Teil der je eigenen ideellen Herkunft akzeptieren zu können, verlangt der religionshistorischen Reflexion weit mehr ab, als materielle Grausamkeiten, die sich in der kulturellen Geschichte der Menschheit zugetragen haben, als unabänderlich und damit historisch distanziert hinzunehmen. Cheraem als äußersten Rand des Willens Gottes integrieren zu können bedeutet, tiefes Erschauern und unbeschreiblichen Schrecken mit Wahrhaftigkeit und Gottvertrauen zu verbinden.
Die Begriffe des Gottgewollten und der Gottesfurcht erfahren im Alten Testament eine substantielle semantische Aufladung mit Aspekten anderer, aus Sicht ihres Bedeutungsumfeldes fremder Nomina und lassen den Prozeß der Abweichung vom üblichen Wortgebrauch nachvollziehbar werden. Zwar sind die positiven Aspekte der Gottesfurcht – jene der Anbetung, der Ehrerbietung und des sittlichen Bekenntnisses – trotz der groben Mechanismen des sozialen Zusammenhaltes im achten und siebenten vorchristlichen Jahrhundert intakt und stellen als tiefster Respekt vor dem Numinosen eine von vielen Ausprägungen der Jahwefurcht dar,51 doch der Schrecken und die konkrete Furcht im Angesicht des göttlichen Zornes bleiben erheblich, insbesondere nach dem Bruch des Bundes und dem Abfall Israels von Jahwe. Zudem kommt jene Grundbefindlichkeit der Angst zum Vorschein, die einer unbestimmten Furcht vor dem Ergrimmen Jahwes entspricht, einem Erschauern vor seiner herannahenden, unausbleiblichen Reaktion, die – anthropomorphisierend gelesen – in einer durchaus menschlichen Reaktion auf eine Verletzung seiner Zuneigung seinem auserwählten Volk gegenüber besteht. Der Zorn Jahwes in der Fassung Martin Luthers scheint näher und ursprünglicher entlang des göttlichen Zornes geschrieben zu sein; näher, da der abendländische Zivilisationsprozeß noch keine Spuren der Aufklärung trug, ursprünglicher, da die Sprache des Zornes und alle dem Zorn zugehörige Metaphorik im sprachlichen Prozeß noch nicht gänzlich abgeschliffen war und den grimmigen Klang des Gottesschreckens52 noch nicht verloren hatte: „Da wird der HERR dem nicht gnedig sein … Das er alle jr Land mit schwefel vnd saltz verbrand hat, das sie nicht beseet werden mag, noch wechset, noch kein kraut drinnen auffgehet. Gleich wie Sodom, Gomorra …, die der HERR in seinem zorn vnd grim vmbgekeret hat. So werden alle Völcker sagen. Warumb hat der HERR diesem Land also gethan? Was ist das fur so grosser grimmiger zorn? So wird man sagen. Darumb. Das sie den Bund des HERRN jrer veter Gott, verlassen haben, den er mit jnen machet, da er sie aus Egyptenland füret …Darumb ist des HERRN zorn ergrimmet vber dis Land das er vber sie hat komen lassen alle Flüche, die in diesem Buch geschrieben stehen.“53
Alle jene Aspekte, die im phänomenologischen Sinn als konkrete Angst oder überwältigender Schrecken vor Jahwe, seinen Handlungen und Drohungen aufgefaßt werden, sind in ihrem semantischen Kern stets mit dem Numinosen und seiner archaischen Ambivalenz verbunden. Angst gepaart mit Gottesvertrauen, Erschauern vor dem erhabenen Unbegreiflichen bei gleichzeitiger Siegessicherheit im Falle seiner Intervention: „Zu den Eigentümlichkeiten des Heiligen Krieges gehört, daß Jahwe selbst durch wunderbares Eingreifen den Erfolg verbürgt. Dieses Eingreifen kann … in einem von Jahwe gewirkten, unerklärlichen Schrecken der Feinde bestehen, dem Gottesschrecken im eigentlichen Sinne.“54 Trotz des sprachlichen Zivilisationsprozesses, der in Jahrtausenden die Gottesfurcht semantisch abgeschliffen hat, bleibt die göttliche Anordnung mit dem Anfang der Geschichte als Identitätsstiftung verbunden. Darin unterscheidet sich der martialische Gott des Deuteronomiums von dem späteren, weltenbauend-milden demiurgós aus dem platonischen Timaios55, der sich, beinahe bescheiden wirkend, bereits mit dem vernunftdurchströmten Abbild des Urbildes zufrieden gibt.
Der Gotteswunsch, die Anordnung des cheraem, bleibt nicht als manifestes Zeichen im Wortgebrauch bestehen und wird daher auch nicht sichtbar tradiert. Cheraem bleibt lediglich als Spur in den Bezeichnungen gottgewollt, gottesfürchtig und sogar im Begriff des gottgewollten Guten erhalten. Cheraem deutet, zwar abgeschwächt zu einer Fährte und diachronisch verdünnt, auf das Vergangene, wie alle Spuren, die von vorübergegangenen Ereignissen hinterlassen wurden.56 Narrative Fährten initiieren den erinnernden Nachvollzug stets aufs neue, sie erneuern Bekenntnisse zu dem, was war. Die biblische Erzählung hinterläßt Spuren in der Wortbedeutung und im Wortgebrauch; diese wurden niemals verwischt, sondern mit der Vorhabe hinterlassen, Späterkommenden die Freiheit zu gewähren, ihre Ordnung von einer fides imperata zu einer fides elicita im kantischen Sinne zu entwickeln und zu festigen. Eine pazifistische Botschaft, welche die sprachliche Schärfe des deuteronomischen Textes etwas mildert, ist mit dem wundersamen Wirken Jahwes verknüpft, der für sein auserwähltes Volk auch als Verteidiger par excellence auftritt. Sein Handeln, das den biblischen Israeliten als Wunder entgegentritt, wird zwar narrativ als militärische Aktion tradiert, dennoch rückt allmählich nicht mehr sein Agieren, sondern die Wirkung seines Eingreifens in den Vordergrund der Texte. „Israel’s power base was Yahweh, not Yahweh as he fought through Israel’s army but Yahweh as he worked by miracle. … Israel’s fearlessness was to be based upon Yahweh’s word and miracle.“57
Die sprachliche Bedeutungserweiterung von der pietas zum timor domini reicht weit hinein in die dem Pentateuch nachfolgenden Millennien. Der Begriff der Gottesfurcht schwächt sich nur sehr langsam ab, bis er schließlich auch in weiten Teilen der profanen Welt zu einem Inbegriff tugendhafter Lebensführung transformiert wird: „Seine Gottesfurcht war wie das feineste Gold, damit seine andere Qualitäten herrlich bekrönet worden.“58 Gottesfürchtiges Leben wird zu einer Bezeichnung, in der, über den tiefen Glauben und den grundsätzlichen Respekt vor der Transzendenz hinaus, eine submissive Komponente vorauseilender Furcht als pietas – „… einer passiven Verehrung des göttlichen Gesetzes, statt der Tugend, der Anwendung eigener Kräfte [hinsichtlich] der … verehrten Pflicht …“59 – enthalten ist. Das Wirken Jahwes für sein auserwähltes Volk bleibt auch nicht bei der Erwählung Israels stehen, sondern führt dazu, daß dem deuteronomischen Israel in seiner Gänze Heiligkeit attestiert wird: „… und daß er dich als höchste über alle Nationen stellen will, die er gemacht hat, zum Ruhm und zum Namen und zum Schmuck, und daß du dem Herrn, deinem Gott, ein heiliges Volk sein willst, wie er geredet hat.“60 Die Besonderung und das Abgrenzen des deuteronomischen Israel von allen anderen Völkern und auch das Attestieren von Heiligkeit sind daher nicht als isolierte verbale Botschaft eines für sich stehenden Heraushebens zu lesen, sondern als Heiligkeit in besonderem Kontext: Das Zuschreiben von Heiligkeit zeichnet sich dadurch aus, daß es sich stets vom Bundesschluß herleitet und sich damit im sprachlichen Nahebereich des „Gelobens eines Gelübdes“61 befindet, aber gleichzeitig auch in narrativer Nähe zu dem performativen Verheißen der Landgabe verbleibt.62 Die Heiligkeit des deuteronomischen Israel ist sprachlich weit entfernt von jedem cheraem und stellt sich somit als Resultat dar, als Folge des Verheißens, dem ein Gelübde zugrundegelegt ist: Eine textgewordene Wirkung, die sich – metaphorisch gewendet – über Erez Israel und seine Menschen ergießt, als Bekenntnis und Vermächtnis, als Testamentum, denn „Heiligkeit bedeutet Gottesnähe. Gottesnähe vollzieht sich für das Deuteronomium sichtbar.“63 Der Nachvollzug des Verbalradikalen als brachialer Mechanismus der Ausdehnung des Bedeutungsraumes auf der Ebene des Wortes ist anhand des gottgewollten Guten und mit Hilfe der deuteronomischen Texte möglich geworden. Auf der Ebene des Satzes, der Rede, des Textes und der Ideologie sollen nachfolgend weitere Mechanismen des Verbalradikalen freigelegt werden, welche die „Vollzugsweise des Verstehens“64 verrücken und erschüttern.