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EINLEITUNG

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Anhand des Erinnerns besonderer herausragender Narrationen zu außergewöhnlichen Zeiten der Geschichte kann von großen Kontinuitäten und dramatischen Brüchen erzählt werden. Diese außergewöhnlichen Zeiten bilden die Säulen für die vorliegende kritische Geistesgeschichte des Verbalradikalismus1. Besondere Ereignisse können als historische Bühnen betrachtet werden, auf welchen sich Inszenierungen sprachlicher Entwicklungen als Sprachhandlungen vollziehen. Im Erinnern von Narrationen wird zunächst der Entstehungsgrund von Geschichte freigelegt, sodaß sich auf diesem in erinnernder Retrospektion die Geistesgeschichte formieren kann. Diese zieht sich, einem Ariadnefaden gleich, durch die Chronologie, und erst im urteilenden Rückblick kann sie abschließenden Charakter beanspruchen; bis zu diesem muß sie sich stets mit ihrer eigenen Vorläufigkeit begnügen.

Verbalradikalismus als Phänomen setzt vor dem Diskursiven an, vor der Gewalt der Sprache, vor dem Performativen und auch vor allen illokutionären Akten und perlokutionären Effekten. Eine kurze, bündige Definition des Verbalradikalismus kann nicht gegeben werden, da das Verbalradikale als Prozeß an vielen Punkten des Diskurses ansetzt und gleichzeitig auch als Ergebnis an ebenso vielen Punkten manifest wird. Verbalradikalismus tritt an den Wendepunkten des sprachlichen Prozesses zutage, kurz bevor die Sprache in das Performative umschlägt, unmittelbar vor jenen rhetorischen Momenten, an denen die sprachliche Anagnorisis eintritt und einen Punkt des Übergangs vom Nichterkennen zum Erkennen markiert. Eine Annäherung an den Verbalradikalismus scheint über den Begriff des Wortmißbrauches möglich, doch der sprachliche Mißbrauch ist nur ein mittels Urteil festgestelltes Ergebnis. Der Verbalradikalismus hingegen beginnt bereits bei der Intention zur verbalen Abweichung, bei der taktischen Vorhabe des bewußten Übertretens des Bedeutungshorizontes, und er vervollständigt den diskursiven Prozeß durch das Setzen einer Tathandlung in Form des Plazierens einer abweichenden Signifikation. Verbalradikalismus bleibt zudem als dieses Ergebnis einer Bezeichnung bestehen und wird erinnerbar, etwa als unpräziser Sprechakt mit übersteigerten, vielleicht sogar metaphorisch angereicherten Synonymen, die eine Wortbedeutung lenken, zuspitzen oder gänzlich umwerten können. Wie eine Schwebung, wie ein „falscher Ton“ dringt die verbalradikale Äußerung als Überraschung an das Ohr, unerwartet, überspitzt, übertrieben, extrem, auch verletzend, in jedem Fall als veränderter, verfälschter Kommunikationscode, überdehnt, verzerrt und unangemessen. Phänomenologisch betrachtet füllt der Verbalradikalismus zunächst die sprachliche Differenz zwischen konstativer Narration und deren Dramatisierung, um am Ende des Diskurses als diese Dramatisierung zu verweilen, als diese Dramatisierung erinnert zu werden, zu deren sprachlichem Effekt sie selbst prozeßhaft geführt hat.

Metaphorisch gewendet ist das Verbalradikale ein sprachlicher Sprengsatz, dessen Anblick und dessen stattfindende Explosion gleichermaßen Angst hervorrufen. Das Verbalradikale ängstigt als Herannahen und als Eintreten von Unbekanntem, das eine gegebene Ordnung stört. Es entlädt sich bisweilen in Haßsprache oder in performativen und perlokutionären Akten des Sagens, doch die eigentliche Grundbefindlichkeit der Angst, die es als verbaler Sprengsatz berührt, liegt davor, liegt bereits in seiner Möglichkeit zu detonieren. Der Moment vor der Explosion, mit seiner Furcht vor dem verbalen Sprengsatz, ist ein Augenblick höchster Spannung, oftmals auch höchster Angreifbarkeit, Verletzlichkeit und damit der höchsten Wirksamkeit des Verbalradikalismus. Auch aus diesem Grund befindet sich das Verbalradikale stets in der Nachbarschaft zur Macht. Wie sich dieses Verhältnis als heterogene Sprachbeziehung entwickelt hat, wird anhand besonderer Epochen und Ereignisse schlaglichtartig beleuchtet, um synoptisch in den Blick genommen zu werden.

Im ersten Kapitel steht das Deuteronomium als einer der ältesten Bestände des Alten Testaments, als einer der Grundtexte der fünf Bücher Mose am Anfang der Geistesgeschichte des Verbalradikalismus. Die fünf Bücher Mose, auch Pentateuch bzw. Thora genannt, enthalten verbindliche Gebote und Weisungen Gottes für sein Volk Israel. Diese Vorschriften umfassen auch – und das ist der prekäre geistesgeschichtliche Bestand des Deuteronomiums – ausgerechnet Aufforderungen Gottes, der Quelle alles Guten, zu gnadenlosen Tötungen von Menschen. Die Sprache der Gewalt, die göttlichen Anordnungen von Gewalt sowie deren Durchführung bilden den Kern der Fragestellungen. Die Verbindung des Gottgewollten und Guten mit konkreten Tötungsaufforderungen wird als sprachlich identitätsstiftender Bestand überprüft. Der biblische Verbalradikalismus weitet den Bedeutungsraum des Guten aus, um jenseits der literarisch-historischen und der metaphorischen Dimensionen auch die Handlungsanleitung zur Tötung in den Bedeutungsraum des Gottgewollten zu integrieren. An dieser Stelle tritt das Performative des Deuteronomiums in den Vordergrund. Seine semantische Aufladung kann weder durch die Verbindung von Vernichtung und Weihe als eine von vielen Metaphern für Gewalt sprachlich sakralisiert, noch ästhetisch bagatellisiert oder spirituell relativiert werden. Die kontrovers diskutierten Fragen des gerechten und des Heiligen Krieges finden im Deuteronomium einen Ursprung. Die sprachlichen Spuren, die diese biblische Erzählung in Wortbedeutung und -gebrauch hinterläßt, werden im Kapitel der christlichen Kreuzzüge erneut aufgenommen.

Der Weg der Macht des Wortes wird im zweiten Kapitel fortgesetzt, von der griechischen Philosophie bis zu den Höhepunkten im Römischen Reich. Von dialektischen Thesen bis zu rhetorischer Praxis auf dem Forum Romanum spannt sich der Bogen von Überzeugung und Überredung bis zu Demagogie und Sprachmißbrauch. Die Kontroverse um das ehrliche Gewinnen mit Worten und das Täuschen mittels Redekunst, um die Wahrheit und das bloße Glaubenerwecken, reicht von den griechischen Rhetoren über die Stoa bis in die Staatsführung Roms. Verbalradikalismen als Vehikel des Machterhalts haben sich in der Antike gefestigt, in den Zeiten des Aufstehens der Stoa und während des Aufstiegs Roms zur antiken Weltmacht. Trägerin dieser Entwicklung ist die griechische Bildungssprache, wobei die stoische Forderung nach verbaler Präzision rhetorisch durch die Dehnung und Übertretung des textuellen Bedeutungsraumes von Begriffen kontrastiert wird. Einer der Schlüssel zum antiken Verbalradikalismus liegt in den Mechanismen der Metapher verborgen. Die intendierten rhetorischen Bedeutungserweiterungen, die verbalradikalen Verschiebungen und Begriffsverzerrungen setzen beim Empfänger der Sprachbotschaft das metaphorische Sehen-als in Gang. Getragen von den großen Rhetorikern Roms und deren Schulen, die vermeintlich nur nach dem Idealbild des Redners forschen und streben, bleibt das verbalradikale Terrain durch Jahrhunderte bestehen.

Das dritte Kapitel beginnt erneut in Rom, einem der Zentren brutaler, systematischer Christenverfolgungen während der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Die Sprache der verfolgten Christen entwickelt sich allmählich, innerhalb eines Jahrtausends, zu einer Sprache der Sieger während der christlichen Kreuzzüge. Auf diesem Weg des sprachlichen Wandels stellt Augustinus die Frage, wie ein gerechter Krieg überhaupt zu denken sei und welche zusätzlichen Bedingungen erfüllt sein müßten, damit ein Krieg als Heiliger Krieg deklarierbar sei. Während der Zeitspanne des politisch erstarkenden Papsttums wird die Sprache der christlichen Sieger schließlich zu einer des Appells. Die Unternehmung einer bewaffneten Wallfahrt zum Zweck der Rückgewinnung der Heiligen Stätten beginnt mit dem suggestiv-verbalradikalen Aufruf von Papst Urban II., der im Jahre 1095 die Letztverantwortung Gottes für einen Kreuzzug geltend macht und persuasiv deklariert. Im Falle der späteren Kreuzzüge reichen Versprechungen und Verheißungen alleine nicht mehr aus; verschiedene Formen des Sündenerlasses stehen als Motivation im Zentrum appellativer Kreuzzugspropaganda. Verbal wird durch die unablässige Operation mit Gegensatzpaaren wie Mensch–Barbar oder Christ–Heide radikale verbale Ausschließung praktiziert. Nach dem Verebben der unmittelbaren Kreuzzugspopularität setzt sich diese später, unter anderen Vorzeichen und unter anderem Vorwand fort: als Expansion der europäischen Seemächte, verbal, mit Waffen und im Zeichen des Kreuzes.

Der nachfolgende Abschnitt beleuchtet einen weiteren welthistorischen Wendepunkt: Der Siegeszug der Freiheit des Wortes wird von keinem anderen geschichtlichen Ereignis eindeutiger und eindringlicher repräsentiert, als von der Französischen Revolution. Der Weg zur Revolution wird von verschiedenen Gesellschaftsverträgen, allen voran jenem Rousseaus, gebahnt. Am Vorabend des gesamteuropäischen Kulminationspunktes politischen (Sprach-)Verhaltens, das aus einer blutigen Revolution Demokratie gebiert, betritt der Bürger als neuer homo politicus das Podium des Konvents in Paris. Die Revolution bemächtigt sich des kollektiven Sprachbewußtseins, und ähnlich wie auf dem Forum Romanum entscheidet wieder das gesprochene Wort über den Fortgang der Revolution. Manifeste der Wütenden, Deklarationen der Freiheit, zahllose Neologismen und sprachliche Umwertungen stehen an der Tagesordnung; die Stunde der Hingabe des Individuums an das Kollektiv hat geschlagen. Die politische Praxis des Wohlfahrtsausschusses führt unter Robespierre jedoch zur Verzerrung des allgemeinen Willens Rousseaus, stets präzise als Gemeinwillen definiert, hin zur Schreckensherrschaft des einen Willens Robespierres. Despotismus und totalitäre Strukturen, tausende Hinrichtungen, politische Säuberungswellen unter dem sprachlichen Deckmantel der Verteidigung der jungen Republik beherrschen das Land. Die Sprache der Männer der Revolution gestattet keine Denkalternativen mehr, sie hat sich vom revolutionären Prozeß zum Revolutionstribunal und von diesem zum blanken Terror gewandelt. Der Verbalradikalismus leuchtet durch die Kommunikation des Terrors hindurch und decouvriert diesen als verordnetes Mittel zur gewaltsamen Durchsetzung von Tugend „zum Wohle“ des Volkes. Die Bedeutungsräume der Begriffe Freiheit und Tugend werden durch die revolutionäre Dynamik zu einer Rechtfertigung von Gewalt erweitert, strukturell ähnlichen Mechanismen folgend, wie dies bei den Begriffen des Guten und Gottgewollten im Deuteronomium der Fall ist. Auf diese gedehnten, geweiteten Bedeutungshorizonte werden in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution zahlreiche sozialistische Utopien aufbauen. Auf den übernommenen Formulierungen von Freiheit und Gleichheit werden sie ihre revolutionären Ideologien zu verwirklichen suchen.

Der endgültige Zerfall der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und die Gründung der Republik Österreich bilden den historischen Hintergrund für ein kurzes Intermezzo inmitten der Chronologie welthistorischer Ereignisse und Epochen. Das nach dem Ersten Weltkrieg vorherrschende prinzipielle Mißtrauen in die staatliche Überlebensfähigkeit der vergleichsweise kleinen Republik polarisiert die politischen Lager während der Jahrzehnte der Ersten Republik. Ein von seiner politischen Dimension zunächst eher unbedeutend scheinendes Ereignis, bei dem anläßlich eines Zusammenstoßes von Mitgliedern des Republikanischen Schutzbundes mit jenen der Frontkämpfervereinigung zwei Menschen den Tod finden, eskaliert durch das Zusammenfallen und die Verkettung von politischen, sozialen und sprachlichen Entwicklungen. Ausgelöst durch ein umstrittenes Gerichtsurteil entlädt sich die Spannung am 15. Juli 1927 explosionsartig bei bürgerkriegsartigen Zusammenstößen in Wien und markiert damit einen tragischen Höhepunkt jener Polarisierung, aufgrund welcher die Tat das Wort überschreitet und eine politisch geteilte Republik, neunundachtzig Tote und ein brennender Justizpalast zurückbleiben. Das sozialdemokratische Parteiprogramm wird hinsichtlich seiner verbalradikalen Sprachpraxis ebenso einer neuerlichen Lektüre unterzogen, wie die parlamentarischen Beiträge führender Politiker der Ersten Republik, die ihre ideologische Auseinandersetzung auch nach 1927 mit innenpolitischem Fokus fortsetzen und dabei die wachsende Bedrohung durch den Nationalsozialismus zu spät erkennen.

Während der nationalsozialistischen Herrschaft gerät die Sprache in den monströsen Würgegriff geistfeindlichen Klimas, sie verroht, wird deformiert und für systematische, erbarmungslose und menschenverachtende Propaganda verwendet. Eine zusammenfassende Analyse des nationalsozialistischen Sprachmißbrauches versucht Verbalradikalismen, sprachliche Verseuchungen und Vergiftungen zu ergründen und die Relationen der Macht diskursanalytisch zum Vorschein zu bringen. Beide Arten des nationalsozialistischen Verbalradikalismus kommen zur Sprache: jene der lauten, brüllend-fanatischen Hetzreden bei Massenveranstaltungen und jene des leisen, subkutanen und in tausenden umcodierten Wörtern schlummernden, latenten Verbalradikalismus, der sich scheinbar unbemerkt in die Sprache des Alltags einschleicht und diesen durchsetzt. Das Leise und das Appellative sind die beiden Diskursstränge, anhand derer die nationalsozialistische Terminologie nachgezeichnet wird. Vom kollektiven Singular bis zu den sprachlichen Auswirkungen des politischen Fanatismus reicht die Darstellung, denn auf dem sprachlichen Ungeist des Fanatismus gründet der Nationalsozialismus, auf religiösem Führerkult, unbedingtem Gehorsam, rituellen Abläufen und kultisch strukturierten Zeremonien. Der Totalitarismus ist auf politisch-taktischen Wortmißbrauch angewiesen, ebenso auf Demagogie und auf in das Monumentale gesteigerte Sprache. Rassisch herabwürdigendes Vokabular, Neologismen, Propagandakomposita und andere Verbalradikalismen haben das gemeinsame Ziel, die Reduktion der Komplexität soweit voranzutreiben, bis eine fanatisierte Masse gesteuert werden kann.

Die historisch vergleichsweise kurze Zeitspanne seit dem Ende des Nationalsozialismus kommt in Form eines Epilogs zur Sprache. Stets mit Blick auf den Verbalradikalismus finden die Diskursanalyse und die Sprechakttheorie sowie Wahrheit und Lüge in der Politik2 Erwähnung. Die nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmende Abkehr vom ideologischen Argument und die Hinwendung zu seinem Prestigepotential ist das sprachliche Ergebnis des Kampfes um die Mitte der Gesellschaft. Die Konvergenz der Parteien zum Zweck der Sicherung von Mehrheiten überwiegt, gleichzeitig wächst jedoch eine Tendenz zur Verlagerung von verbalradikalem Vokabular, etwa auf das Gebiet der Xenophobie. Weder die nationalen noch die internationalen soziopolitischen Diskurse der Gegenwart deuten darauf hin, daß der Verbalradikalismus in naher Zukunft, aufgrund von Aufrufen zur Mäßigung des Wortes, abebben oder gar verhallen könnte. Auch seine sich über einen Zeitraum von drei Millennien erstreckende Geschichte liefert nur wenige Argumente für diese Annahme. Als sprachliches Phänomen bleibt er in den hermeneutischen Prozeß eingebunden, dessen Zirkel des Verstehens er stets von Neuem durchlaufen muß. Es besteht daher hinreichend Grund zu der Befürchtung, daß der Verbalradikalismus auch zukünftig als „Rückseite der Sprachkultur“ überdauern wird.

Verbalradikalismus

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