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IV. (UN)AUFHALTSAMES EMPORKOMMEN DER REDNER
ОглавлениеSchwierigkeiten griechischer Rezeption zeigen sich auf vielen Ebenen: etwa bei übersetzungskritischer Betrachtung des ersten Satzes der aristotelischen Rhetorik, dessen Übertragung von Cicero nicht nur wortgetreu, sondern auch unter Beibehaltung der innewohnenden Metaphorik versucht wird: „Und schon vor ihm erklärt Aristoteles am Anfang seiner Rhetorik, diese Kunst sei gewissermaßen ein Gegenstück der Dialektik; …“60 Entgegengesetzte Aspekte verwandter Disziplinen werden von Cicero nicht im Blick auf das Gegen übertragen, sondern nur lapidar mit quasi ex altera parte wiedergegeben. Bereits in den ersten Passagen von De Oratore findet sich der Hinweis auf die schier unüberbrückbare Divergenz zwischen den Reden eines umfassend humanistisch gebildeten Redners und jenen eines ausschließlich ergebnis- und zweckorientierten Redners. Cicero spricht die unüberwindliche Differenz zwischen diesen beiden diametral auseinanderstrebenden Rednertypen aus verschiedenen Blickwinkeln über das gesamte Werk verteilt an. Für Cicero wird anhand dieses Kontrastes auch die Polarität zwischen Rhetorik und Dialektik exemplifizierbar, denn nur aufgrund des Bestehens divergenter Standpunkte kann jener grundlegende Konflikt erzeugt werden, der zur rhetorischen Amplifikation und performativen Radikalisierung des Wortes zwecks Diskreditierung des politischen Gegners führt.
Cicero, der sein Hauptwerk zur Rhetorik in Form eines Dialogs verfaßt, erwähnt zu Beginn des ersten Buches seine eigene Jugend und die zu diesem Zeitpunkt bereits Jahre zurückliegenden Gespräche mit seinem Bruder Quintus, der die hehren Bildungsansprüche Ciceros an die Rhetoren nur teilweise teilte und der es vorzog, sich mit dem Talent der Redefertigkeit und der Wirkung des Wortes zu begnügen.61 In den ersten Dialogen von De Oratore wird der angeblich allumfassende Anspruch der Rhetorik prima facie positiv dargestellt, und es wird auch das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik ausführlich diskutiert, doch bereits die Verwendung bestimmter Begriffe im Kontext des orator perfectus, nährt den Zweifel an der positiven Lesart der Dialogisierenden und ruft zum Widerspruch auf, denn: Bereits „… die Fähigkeit, durch die Rede die Gedanken der Menschen zu fesseln, ihre Zuneigung zu gewinnen, sie dorthin zu bringen, wohin man will, und sie abzubringen, wovon man will“62, überschreitet die Grenze des wirkungspsychologisch Zulässigen und redetechnisch Bewunderungswürdigen hin zum rhetorisch Manipulativen. Dasselbe gilt für die Empfehlung, vor jeglicher inhaltlicher Sachverhaltsdarstellung, einzig aufgrund des ēthos – des Charakters, der Haltung und Glaubwürdigkeit – des Redners, die Sympathie des Publikums zu erwirken, erst danach die Fakten darzulegen, am Ende der Rede jedoch textuelle Amplifikationen einzuflechten und überdies mit reichem Redeschmuck versehen vorzutragen.63 Cicero fordert auch in anderem Kontext wiederholt zu wissentlich übersteigerter Darstellung auf und stellt diese als zweckorientierte Tugend des guten und erfolgreichen Redners dar: Der nach dem páthos, der großen Gemütsbewegung seiner Zuhörer strebende Redner solle alles Negative der rhetorisch dargestellten Lebenswirklichkeit so schmerzlich wie möglich schildern, ebenso solle er, um nachhaltigen Erfolg verbuchen zu können, positive Tatbestände so weit wie möglich drastisch überhöhen.64 Um dies zu erreichen, mengt der ideale Redner Ciceros, der summus orator, dem páthos auch tropische Elemente bei, Aspekte des Metaphorischen, unter welchen die Mitteilung, neben ihrem „objektiven“, „eigentlichen“ Gehalt, noch vorzustellen sei.
Das Argument Ciceros gegen die Einbindung philosophischer Gedanken in Reden erweckt den Anschein, als ob er gegen die Differenziertheit selbst eine rhetorische Strategie der Desillusionierung im Sinn gehabt hätte. Er plädiert trotz seines Naheverhältnisses zur griechischen Philosophie und der damit verbundenen Hochachtung vor ihr, die er im Orator ausdrücklich als Voraussetzung des perfekten Redners anführt, gegen deren explizite Anwendung innerhalb der Rhetorik.65 Mit dieser Empfehlung versucht er sicherzustellen, daß die rhetorische Zweckerreichung, der er höchsten Stellenwert einräumt, keinesfalls gefährdet wird. Die Bedeutung des Einsatzes philosophischer Argumentation innerhalb einer Rede sei nicht marginal, so Cicero, schlimmer noch, die Integration philosophischer Gedanken in Reden sei geradezu kontraproduktiv; dies nicht nur ob ihrer Komplexität, sondern grundsätzlich.66 Der Redner möge darüber hinaus auch nicht willentlich Sympathien bei seinen Rezipienten verlieren und daher „… nicht so weise unter Dummköpfen erscheinen, daß die Zuhörer ihn entweder für einen albernen Kerl oder für ein Griechlein67 halten, oder es ihnen, auch wenn sie seine Begabung sehr anerkennen, schwer aufs Herz fällt, daß sie Dummköpfe sind.“68 Wiewohl die Bedeutung der Philosophie nicht hoch genug geschätzt werden könne, seien philosophische Begriffsbestimmungen in Reden völlig entbehrlich, denn, so der Tenor des Dialogs zwischen Antonius und Crassus weiter, „… wir, mein Crassus, suchen etwas anderes, etwas ganz anderes.“69 Dieses andere ist das Ideal rhetorischer Dignität in der Person eines psychologisch versierten Redners, „… der mit feinem Gespür erforscht, was seine Mitbürger und die Menschen, die er durch seine Rede von etwas überzeugen will, denken, fühlen, meinen, erwarten. Er muß jeder Klasse, jedem Alter und jedem Stand den Puls fühlen und die Gedanken und Empfindungen derer erschmecken, vor denen er … auftreten wird oder aufzutreten vorhat.“70 Aus dieser psychologisch motivierten Orientierung wird der Redner geradezu angestiftet, mit Hilfe seiner Wortwahl die Dramaturgie der Rede mittelbar und gleichzeitig weit über deren Inhalt hinaus zu beeinflussen und damit sein Publikum tendenziell zu steuern.71 Verbale Überhöhungen stellen daher keine als überzeichnende Entgleisungen qualifizierbaren Ausnahmen dar, sondern bilden die Regel, nach der sich eine Rede von einem konstativen, lokutionären bzw. rhetischen Akt zu einem gelungenen illokutionären Sprechakt emporentwickelt. Den römischen Rhetor interessiert überdies das wirkungspsychologisch meßbare Ergebnis des Perlokutionären, das im Extremfall in reiner Manipulation seiner Zuhörer resultiert.72
Obwohl bereits Aristoteles in extenso die Angemessenheit des Ausdrucks73 differenzierend einfordert und dabei sowohl ēthos als auch páthos der Rede und der Redesituation stets an die proprietas, die eigentliche, nichtmetaphorische Ausdrucksweise bindet, und obwohl Cicero selbst auf die eminente Bedeutung der aristotelischen Rhetorik verweist,74 führt all das nicht zu einer Abkehr Ciceros vom Primat der zweckorientierten Anwendung rhetorischer Psychologie, weder in seinem Orator noch in De Oratore. Aristoteles beschreibt mit prépon das Angemessene und das sich Ziemende als Haltung des Redners, der stets darauf bedacht nimmt, daß „… die sprachliche Formulierung … in der rechten Relation zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt steht.“75
Aristoteles begnügt sich weder in seiner Rhetorik noch in seiner Poetik damit, ēthos zu definieren, sondern macht dieses aus der Perspektive verschiedener Gesichtspunkte erschließbar.76 Im Kontext der Redesituation und der Charakterologie des Rednertypus kann eine Annäherung an das ēthos gefunden werden, als allgemeine, durch die Lebenswirklichkeit des Redners bestimmte Disposition, die als seine je eigene sittliche Haltung und Verfaßtheit auch zur Grundlage seiner Rede wird. Einer alternativen Konjektur folgend, kann mit ēthos auch der gewöhnliche Aufenthaltsort des Sinnes oder der Wohnort der Denkweise beschrieben werden. Im ēthos liegt sohin der Grund für eine tiefe Vertrautheit, die einer Heim-statt des Denkens, als Heimlichkeit des Bekannten, gleichkommt, im Gegensatz zu der Un-heimlichkeit des Unvertrauten.77 Daher schlägt das ēthos der Rede, aufgrund seines Moments des vertrauten Wiedererkennbaren, aufgrund der Nähe einer vertrauten Denkweise, die wie eine bekannte Sitte oder ein geübter, gewohnter Brauch wirkt, die Brücke zu seinem Publikum. Das ēthos als Versicherung der Glaubwürdigkeit des Redners wird unter anderem von seiner standesgemäßen Wortwahl und von der Erfüllung der Erwartungen, die seine Hörer an ihn haben, bestimmt. Die Abweichung vom ēthos, aufgrund einer der Situation oder dem Gegenstand unangemessenen, etwa zu kunstvollen Sprache ist dazu angetan, das Mißtrauen der Hörer zu wecken und gilt für Aristoteles als ein die Glaubwürdigkeit des Redners unterlaufendes Verhalten. Das páthos hingegen ist kein bloßes Derivat des ēthos, sondern gründet in diesem. Páthos bildet als Leidenschaft den sprachlich wirksamen Niederschlag des ēthos. Von seiner Tendenz ist es niemals zurückhaltend, sondern vordergründig, laut und dazu in der Lage, im Übertönen des ēthos über Unvertrautes rhetorisch hinwegzutäuschen und zur vermeintlichen Sicherheit des illokutionär-deklarativen „… wie wir alle wissen …“ überzuleiten.78 Damit bilden die Komponenten stürmischer Leidenschaft und glühenden Eifers ein wichtiges komplementäres Element der Zweckerfüllung einer Rede und entfernen sich von der stoischen Sachlichkeit des verbum proprium, der Eigentlichkeit einer vertrauten, eigenen Wohnstatt des Ausdruckes, bei Aristoteles daher als oikeía léxis79 bezeichnet. Die Erlaubnis zu uneingeschränkter Metaphorik zum Zwecke der Gedankenführung des Publikums erteilt Cicero seinem vollkommenen Redner bereits im Orator: „Der vollkommene Redner wird … Metaphern jeder Art reichlichst benutzen, weil diese aufgrund der Ähnlichkeit den Geist … hierhin und dorthin leiten …“80 Und Cicero führt seinen Ansatz weiter aus: „Der Redner, den wir suchen, wird demnach derart sprechen, daß er dasselbe Thema mehrfach auf verschiedene Weise behandelt … oft wird er etwas verkleinert darstellen; oft es mit Spott bedenken; er wird den Gedankenablauf vom gesetzten Thema ablenken und [auf] andere Wege leiten … er wird sich in anderem Sinne, als er spricht, aufgefaßt und verstanden wissen wollen; er wird … gewisse Dinge übergehen beziehungsweise unberücksichtigt lassen … die Schuld, die man ihm selbst anlastet, dem Gegner in die Schuhe schieben … er wird sich die Freiheit nehmen, eine kräftigere Sprache zu führen … oft wird er etwas über alles mögliche Maß hinaus übertreiben …“81
Die Entscheidung darüber, ob in der Rede dem ēthos und damit der Glaubwürdigkeit des Rhetors Genüge getan wird, welche Emotionen das páthos der Rede zu entfachen in der Lage ist und welche Verbalisierung letztlich als prépon, als angemessen gilt, wird nicht nur durch die grundlegenden Motive des Redners, seinen Charakter und seine Leidenschaft beeinflußt, sondern zu gleichen Teilen auch von seinen Rezipienten bestimmt. Aristoteles geht daher noch einen Schritt weiter und gibt den antizipativen Ratschlag, die unangemessene Wortwahl erst gar nicht entstehen zu lassen, da sich mit der häufigeren Anwendung des verbum proprium auch die Glaubwürdigkeit des Sachverhaltes erhöhe. Prinzipiell sei daher die Selbstdisziplin im Falle eines den Affekten freien Lauf gewährenden Redestils anempfohlen: „Ein Heilmittel aber für jede Übertreibung ist die bekannte Praxis: Man muß sich nämlich selbst zurechtweisen; denn dann scheint die Sache wahr zu sein, da dem Sprechenden nicht verborgen bleibt, was er tut.“82
Cicero übersetzt im Orator prépon mit decorum83, was im ersten Hinblick korrekt erscheint, jedoch bereits in nuce die Gefahr birgt, weniger auf den sprachlichen Ausdruck als auf den besprochenen Gegenstand zu fokussieren. Während Aristoteles mit prépon Ausdruck und Angemessenheit aneinander bindet, sind in Ciceros Konjektur der lateinischen Übertragung von decorum Gegenstand und Angemessenheit miteinander verknüpft. Das Resultat ist eine sprachliche Hinwendung zur Handlungsorientiertheit, zu einer Vorform römischer Pragmatik, welche tendentiell dazu bereit ist, den Verlust an sprachlicher Differenziertheit zugunsten von Wirksamkeit in Kauf zu nehmen. Ein Zuviel an offensichtlich erkennbaren rhetorischen Kunstgriffen, an ostentativ praktizierten rhetorischen Fertigkeiten führt jedes rednerische Vorhaben an sein Scheitern heran, da die rednerischen Motive durchschaubar werden; auch diese aristotelische Position übernimmt Cicero zur Gänze.84
Annähernd zwei Jahrhunderte später, in einem politisch, gesellschaftlich und kulturell vollkommen anderen Kontext, bezieht Cornelius Tacitus85 in seinem „Dialog über die Redner“ zunächst eine mehr als ambivalente Position zu Cicero, dem er einerseits in dessen frühen Reden rhetorische Schwerfälligkeit und veralteten, langatmigen Stil unterstellt,86 den er andererseits jedoch ob seiner umfassenden Bildung bewundert und mit dem er sich sogar teilweise parallelisiert.87 In seinem kritischen Rückblick auf Cicero und die Rhetoren jener Zeit, die bei der Abfassung seines Dialogus bereits etwa zwei Jahrhunderte zurückliegt, findet Tacitus, als Kritiker des Prinzipats und Anhänger der republikanischen Werte, unverblümte Worte für ausufernde Reden und verbalradikale Tendenzen. Tacitus versucht, eine Begründung für die Bedeutung der verfallenden Rhetorik, und zwar sowohl während der – aus seiner Sicht – jüngeren zeitgeschichtlichen Vergangenheit als auch während seiner Gegenwart, aus soziopolitischer und kulturhistorischer Perspektive zu entwickeln, indem er den Grad der innerstaatlichen Organisation mit der Notwendigkeit für Rhetorik in direkten Zusammenhang stellt: Je weniger weit fortgeschritten der Zivilisationsprozeß eines Staates in einer bestimmten Entwicklungsstufe sei, desto stärker komme die ungezügelte Wirkung der „blutdürstigen Beredsamkeit“88 zum Vorschein, weit über die Ausübung einer lenkenden Funktion hinaus und als Reflexion der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Machtverhältnisse erkennbar.
Das sogenannte goldene Zeitalter sei, so die kulturpessimistische Auffassung Tacitus’, arm an Rednern und Verbrechern und statt dessen reich an Dichtern und Sehern gewesen.89 Der nicht explizit genannte Umkehrschluß kann als politische Kritik am Sittenverfall im allgemeinen und am römischen Prinzipat im besonderen angesehen werden. Tacitus argumentiert an dieser Stelle mittels rhetorisch angewendeten Enthymems, das in die offene Frage mündet, „Von welchem spartanischen Redner, von welchem kretischen haben wir denn je gehört?“,90 um die Abwesenheit der Rhetorik in autoritären Staatsformen zu implizieren und zu unterstreichen, nicht um diese Staatsformen gutzuheißen. Aus der Schilderung des Tacitus, der zwar immer wieder Stereotype bemüht und zu generalisierenden Urteilen neigt, ist dennoch offene Kritik am Verbalradikalismus detektierbar, wenn er etwa die Wichtigkeit der maßvollen Wortwahl per se hervorhebt und kontrastierend, als antithetisches Beispiel, den als geradezu verbalaggressiv bekannten Prozeßredner Cassius Severus nennt. Als erster habe dieser nämlich „… Zurückhaltung und Anstand in der Wortwahl fahren lassen …“, und Tacitus zu dessen unkontrolliert martialischer Rhetorik weiter: „Im Umgang mit genau den Waffen, deren er sich bedient, …, kämpft er nicht, sondern rauft.“91 Und selbst das zu Zeiten Tacitus‘ bereits legendäre „… ceterum censeo Carthaginem esse delendam …“ des älteren Cato, das dieser am Ende zahlreicher seiner Senatsreden als entschiedener und unerbittlicher Gegner Karthagos stets beantragt haben soll, stellt verbalradikale léxis dar, da diese und ähnliche kontextfremde und überraschende Wendungen – im Falle eines römischen Senators – sogar thematisch völlig aus dem Zusammenhang gerissen sein durften und damit rhetorische Alleinstellung innerhalb einer Rede haben konnten. Der tendenziöse, polemisch-performative Aufruf Catos, „… im übrigen beantrage ich, daß Karthago zerstört werden soll …“, ist ein Resultat seiner subjektiven Eindrücke und Erfahrungen als Abgesandter in Karthago und bildet jenes irritierende verbalradikale Konzentrat, das vermeintlich die einzige Möglichkeit zum Schutze Roms darstellt. In ihrem Kern impliziert seine Aufforderung jedoch nichts anderes als eine verkürzte Handlungsanleitung zum dritten punischen Krieg unter Inkaufnahme der Tötung Hunderttausender sowie der völligen Zerstörung Karthagos.92 Die Tatsache, daß die antike Lesetradition graduell mit mehr Brutalität und Grausamkeit umzugehen hat, ändert nichts daran, daß der Verbalradikalismus über die Bedeutungserweiterung der Begriffe hinaus in den sprachlichen Gesamtzusammenhang einer Rede infiltriert wird.
Kategorisch gegen jene verbalradikale Tendenz, die ein labiles politisches Gleichgewicht vollends in Instabilität umschlagen läßt, wendet sich Tacitus mit den Worten: „Wir sprechen nicht von einer friedlichen und ruhigen Tätigkeit, die an Redlichkeit und Besonnenheit Freude findet, sondern jene bedeutende und bemerkenswerte Beredsamkeit ist ein Zögling der Schrankenlosigkeit, die nur Narren Freiheit nennen; sie ist eine Begleiterin von Aufständen, treibende Kraft zur Aufstachelung eines zügellosen Volkes, unwillig [dem Gesetz] zu gehorchen, … unverschämt, unbesonnen, anmaßend; in wohlgeordneten Staaten entsteht sie erst gar nicht.“93 Mit dem letzten Teil seines Postulates irrt Tacitus, wie die nachfolgenden beiden Jahrtausende der Geschichte Europas zeigen sollten. Weder die sprachliche Fertigkeit per se, welche die Disziplin der Rhetorik konstituiert, noch ihre dialektische Struktur lassen die Rhetorik historisch überdauern, allein ihr Zweck ist es, der sie in ihren schier unbegrenzten Anwendungsmöglichkeiten einzigartig und damit scheinbar edel und ehrenwert macht.
Da sich aus hermeneutischer Perspektive der Verbalradikalismus stets in der Möglichkeit hält, das textuelle kýrion zu übertreten, hängt sein Überschreiten weder vom Ordnungsgrad eines Staates noch von seiner Realverfassung oder seinen Institutionen ab. Die Rhetorik verschwindet auch nicht mit dem Entstehen der autoritären Monarchie, sie verlagert nur ihren Wirkungsort. Während sie zu Zeiten der Republik an den öffentlichen Foren voll zur Wirkung kommt, zieht sie sich im Verlauf der autoritären Nobilitätsherrschaft und deren diktatorischen Strukturen tendenziell in die Harmlosigkeit der rhetorischen Debattierschulen zurück: „In dem kommunalen Scheinleben der Zeit konnte der Rhetor keine großen Triumphe feiern.“94 Die Freiheit des Wortes spannt ihren wirkungsmächtigen Bogen vom völligen Verzicht auf die Ausübung verbaler Freiheit bis hin zur zügellosen Ausnützung sprachlicher Freiheit in einem allmählich verfallenden Staat. Verbalradikalismen entstehen bereits auf der Ebene des einzelnen Wortes, wie anhand des Deuteronomiums zu zeigen war, und sie wachsen über die gesprochenen und geschriebenen Texte hinweg und durch sie hindurch, in ungeordneter Form. Sie entfernen sich von der Wortbedeutung und werden mit Hilfe der Rhetorik auf die Ebene der Äußerungsbedeutung95 verlagert, jenem Meinen und Intendieren des Sprechenden, das bis zur Demagogie reicht. Der monokausale Begründungsversuch des Gastgebers C. Maternus gegen Ende des Dialogus, der die Rhetorik als Zögling der Schrankenlosigkeit mit dem Grad der staatlichen Ordnung konnotiert, ist nicht zielführend, sondern weicht Tacitus’ kritische Haltung dem römischen Prinzipat gegenüber auf. Doch aus der Zusammenschau der mannigfaltigen gesamtgesellschaftlichen Kräfte, Interessen und Partikularismen sowie aus deren Entwicklungssträngen lassen sich synchronische und diachronische Sprachkonstellationen nachzeichnen. Denn das Diktum des spanischstämmigen Rhetorik-Kompilators Quintilianus hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, es entstammt vermutlich in ähnlicher Formulierung seiner verlorenen Untersuchung zum Verfall der Beredsamkeit, „De causis corruptae eloquentiae“: „Wir dagegen, die wir uns bemühen, einen Redner zu bilden, sollten der Redekunst nicht Waffen in die Hand geben, sondern Tamburine.“96