Читать книгу Verbalradikalismus - Paul Sailer-Wlasits - Страница 13
I. DAS BEHERRSCHEN DES BEGRIFFES: PLATON UND ARISTOTELES
ОглавлениеPlaton läßt Gorgias und Sokrates im dialogischen Aufeinanderzugehen seine grundlegenden Zugänge zur Rhetorik entwickeln, mit dem Ziel, ihr Wesen und ihren Zweck auszuarbeiten. Obwohl die rhetorische Praxis während der griechischen Antike zwischen Wissenschaft, Kunst und bloßer Fertigkeit des Umganges mit dem Wort oszilliert, dominiert bei Platon zunächst der Zweck ihre Bestimmung. Im Vordergrund steht das sprachliche Vermögen, „rhetoriké téchnē“3 genannt, mit dem durch das Beherrschen des Wortes auch die Überzeugung, Überredung und – final gedacht – Beherrschung der Massen herbeigeführt werden kann.4 In ihrem materiellen Kern stellt die Rhetorik jene Art der Überredungsweise dar, die primär nicht nach der Vermittlung von Wissen und Wahrheit strebt, sondern im Idealfall in eine Fertigkeit des Glauben-Erweckens mündet.5 In dieser Zielsetzung ist bereits eine erste fundamentale Kritik an der Rhetorik enthalten, die überdies aus ihr selbst entspringt: Der Anspruch, nicht das Streben nach Wahrheit, sondern das Glauben-Erwecken in der eigenen Definition zu tragen, insinuiert bereits, daß ein beabsichtigter oder akzidentieller Mißbrauch der Rhetorik nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellt.
Platon läßt Sokrates auf verschiedene Weisen die Kritik an der Rhetorik herleiten, die stilistischen Mittel dieser Deduktionen sind Beispiele vollendeter dialektischer Züge und gleichen selbst einem rhetorischen Lehrstück. Die kritischen Anmerkungen reichen von „Schmeichelei“ über „Schattenbild eines Teiles der Staatskunst“ bis hin zur lapidaren Erklärung, die Rhetorik entspräche keiner Kunst, sondern lediglich einer „gewissen Übung“6. Die Geübtheit bzw. Fertigkeit, die empeiría bzw. téchnē, spiele – und dies bleibt einer der zentralen Vorwürfe an den Sophisten Gorgias – nicht bei den wissenden Zuhörern, sondern nur bei den Unwissenden eine entscheidende Rolle bezüglich dessen, was sie für wahr halten. Sokrates gelingt es nachzuweisen, daß ein in der Redekunst bestausgebildeter Redner keine oder lediglich rudimentäre Sachkenntnis in der vorgetragenen Materie zu haben braucht, um vor unkundigen Zuhöreren glaubwürdiger zu erscheinen, als etwa ein Fachmann, welcher der Rhetorik unkundig ist.7 Da die nichtwissenden Rezipienten für gewöhnlich die Mehrheit bilden, wähnt sich die Masse durch den Rhetor, der selbst kein Wissender zu sein braucht, belehrt und überzeugt, tatsächlich wird sie jedoch nur überredet. Vor der unkundigen Masse ist der Redekundige zumeist in der Lage, seine redetechnischen Überredungsverfahren zur Erreichung der Glaubwürdigkeit auch ohne Sachkenntnisse in verschiedenen Fachgebieten erfolgreich einzusetzen.
Bereits der platonische Wortgebrauch zeigt, wie sehr die Rhetorik in ihrem Anfang beinahe ausschließlich von ihrer wirkungspsychologischen Seite her gedacht ist, und wie die Termini des Überredens und Überzeugens nahezu synonyme Verwendung finden.8 Gerade aufgrund dieses sprachlichen Mangels läßt Platon den Sokrates eine präzise Differenzierung von Überredung und Überzeugung vornehmen, denn es stand ihm nur eine einzige Bezeichnung für überzeugen und überreden zur Verfügung, die überdies auch noch im Kontext mit täuschen und für sich gewinnen Verwendung fand: peíthein.9 Sokrates nennt beide dieser auf einen Zweck gerichteten Weisen der Überredung: Er differenziert diejenige Weise der Überredung, die „Glauben hervorbringt ohne Wissen“10, von jener, die zu „Erkenntnis und Wissen“ führt. Im Entstehenlassen von Glauben, im Glaubenmachen, sei die „Redekunst … Meisterin“11, denn bereits der „Kunstgriff der Überredung“12 reiche aus, um bei der Masse Glauben zu finden. Indem der Redner weder a priori noch ausnahmslos dazu verpflichtet ist, Erkenntnis und Wissen zu vermitteln, ist in der Kunst der Rede die Möglichkeit impliziert, sich systematisch über die Verpflichtung zur Wahrheit hinwegzusetzen. In der rhetorisch geführten Auseinandersetzung obsiegt nicht die Wahrheit, sondern das von der Masse für wahr Gehaltene, nicht die Erkenntnis oder das Wissen, sondern das Resultat des Glaubenmachens, die Illusion. Es gelangt daher auch nicht notwendigerweise das Recht zu seinem Durchbruch, sondern das für gerecht oder für Recht Gehaltene. Die Wirkung des Rhetors auf seine Rezipienten, die Kraft und Gewalt seiner Worte, sie erfüllen zur Gänze die Zielsetzung der Kunst der schönen Rede, im besonderen dann, wenn die Verpflichtung zur Wahrheit nicht der ursprünglichen Intention seiner léxis entspricht: „Sie [die Rhetoren Teisias und Gorgias], die erkannten, daß vor der Wahrheit der Schein müsse geehrt werden; die das Kleine groß erscheinen lassen und das Große klein durch die Gewalt ihrer Rede; das Neue alt darstellen und sein Gegenteil neu, und Gedrängtheit ebenso wie endlose Länge der Ausführungen über jeden Gegenstand erfanden.“13
In platonischer Tradition zielt auch Aristoteles’ umfassende Ausarbeitung der Rhetorik auf den Gegensatz von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ab: „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen.“14 Mit dem Glaubenerweckenden ist jedoch nicht nur der epistemologisch offene Fragenbereich des Glaubhaftmachens selbst angesprochen, die Konsequenz ist weitaus schwerwiegender: Dieser Satz zielt auf den Kern der Theorie der Beredsamkeit, denn er impliziert, daß die Rhetorik im Unterschied zu allen anderen Disziplinen nicht auf den Inhalt des jeweiligen Wissensgebietes fokussiert, sondern lediglich auf das Glaubhaftmachen eines beliebigen vorgegebenen Gegenstandes. Nicht das Was der materiellen Entwicklung und Fundierung von Gegenständen innerhalb eines Wissensgebietes bildet den Kern der Rhetorik, sondern das Wie der Darstellung aller Gegenstände beliebiger Wissensgebiete. Damit beraubt Aristoteles die Rhetorik ihres Anspruches, Gegenstände eines eigenen, definierten Wissensgebietes zu erforschen und zu lehren, und er attestiert ihr damit, nur den Rang einer methodischen Zwischenposition zu bekleiden, inmitten von Staatslehre, Ethik, Dialektik und Charakterologie.15
Die Zwischenposition der Rhetorik stellt sohin keine fächerübergreifende inhaltliche Interdisziplinarität dar, sondern lediglich eine formale Verbindung auf methodisch-praktischer Ebene, die Darstellung, Glaubhaftmachung und Wirkung betreffend. Auch aus diesem Grund bezeichnet Aristoteles die Rhetorik als Nebentrieb, als Abbild und als korrespondierendes Gegenstück der Dialektik, die fallweise sogar in das Gewand der Staatslehre schlüpfe. Programmatisch steht dieses Argument daher am Beginn der aristotelischen Rhetorik: „Die Theorie der Beredsamkeit ist das korrespondierende Gegenstück zur Dialektik; denn beide beschäftigen sich mit Gegenständen solcher Art, deren Erkenntnis auf eine gewisse Weise allen und nicht einer speziellen Wissenschaft gemeinsam ist.“16 Die Rhetorik als antístrophos, als Gegenstrophe, stellt kein Gegenteil der Dialektik, sondern eine, in wesentlichen Aspekten von ihr unterschiedene Parallelentwicklung dar, ein in Teilen korrespondierendes Gegenstück. Dieser Gedanke ist platonisch, spielt er doch auf die sokratische Analogie im Gorgias an, in welcher die Rhetorik als antístrophos, als korrespondierendes Gegenstück, in einen Vergleich mit der Kochkunst (sic!) hineingezogen wird:17 Denn so wie die Kochkunst im Vergleich zur Heilkunst bloß eine Schmeichelei für den Körper sei, könne die Rhetorik als sophistische Schmeichelei für Seele und Geist bezeichnet werden, da sie aufgrund ihrer illusionären Wirkung einen gewissen Wohlgefallen nach sich ziehe. Mit dieser ironisch-pointierten und zugleich metaphorischen These legen Platon und Aristoteles zwar nicht die gesamte Definition der Rhetorik vor, doch erzeugen sie damit jene Grundstimmung, in der die Rhetorik fortan situiert bleibt, im Spannungsfeld zwischen Dialektik und Poetik, oszillierend zwischen Analogon und Metapher.
Die zweite Anspielung Aristoteles’ besteht in seiner bewußt gesetzten Bezeichnung antístrophos, die als Gegenstrophe des Chores im antiken Drama gemeinhin bekannt war. Die metaphorische Dimension, die Aristoteles damit gleich zu Beginn seiner Rhetorik öffnet, erwächst aus dem Verhältnis von Anti-Strophe zu Strophe, denn im antiken Drama repräsentierte die Bezeichnung antístrophos sowohl ein kritisches, verneinendes Gegenüber des Chores, als auch ein bestätigendes, wiederholendes Gegenüber. Als ambivalenter Signifikant vereinigte die Anti-Strophe damit sowohl die Rolle eines die Strophe inhaltlich abschwächenden als auch verstärkenden contrarium. Vor diesem Hintergrund spannt die aristotelische Festlegung, die Rhetorik als Anti-Strophe der Dialektik zu definieren, ein breites hermeneutisches Spektrum an Verstehensmöglichkeiten auf: Teile der Rhetorik bilden einen Gegensatz zur Dialektik, gleichzeitig jedoch entsprechen sie in funktionalen Grundzügen der Dialektik selbst und zudem verselbständigen sie sich immer wieder, indem sie sich aus der Dialektik methodisch herauslösen, so wie der Protagonist sich aus dem antiken Chor herauslöst und mit diesem per strophē und antistrophē dialogisiert.18
Bezugnehmend auf die rhetorische Praxis in der antiken pólis ist die Disziplin der Beredsamkeit durch Aristoteles wesentlich weiter gefaßt als der platonische Ansatz. Die Voraussetzungen für ihre erfolgreiche Umsetzung sind für den Rhetor aristotelischen Zuschnitts vielfältig: Für diesen sind philosophische Grundkenntnisse der Logik zur Führung seiner Argumentation ebenso unabdingbar wie Basiswissen auf dem Gebiet der Dialektik, um in der Praxis rasch die Schwächen in logischen Folgerungen eines rhetorischen Kontrahenten detektieren zu können. Auch das Wissen um ethische Grundsätze zählt zu den Voraussetzungen erfolgreicher rhetorischer Anwendung, jedoch nicht primär, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, sondern um das Glaubhaftmachen der Rechtschaffenheit des Redners vor seinen Rezipienten erfolgreich und zu seinen Gunsten durchsetzen zu können. Des weiteren trägt auch psychologisches Verständnis entscheidend dazu bei, den jeweiligen Zuhörerkreis besser einschätzen und die kollektiven Reaktionen charakterologisch besser antizipieren und dadurch unmittelbar steuern zu können. Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen, daß sie die Rhetorik als eine nur zum Teil auf die Fundierung theoretischer Erkenntnis hin orientierte Disziplin fassen und statt dessen die praktische Erweiterung argumentativer Kompetenz in den Vordergrund stellen. Der Rhetor ist weder der Wahrheit als oberstem télos, noch dem nachweislich Wahren und Überprüfbaren verpflichtet, sondern nur dem Schein des Wahren, dem Für-wahr-gehalten-Werden, der Wahr-scheinlichkeit.19 Seine Aussagen kreisen um die Begriffe glaubwürdig, überzeugend, glaubenerweckend und wahrscheinlich, Begriffe, durch welche die Rhetorik sich von allen anderen Fertigkeiten unterscheidet, und in deren Unterton bereits Demagogie anklingt, denn bevor „… sie gehaltlos wurde, war die Rhetorik gefährlich.“20