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III. ROMA LOCUTA42

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Die geopolitische Expansion des republikanischen Rom mit seinen Siegen über Karthago und Hannibal, die Festigung der römischen Vorherrschaft im gesamten Mittelmeerraum und die Ausweitung des Machtbereiches in den gesamten hellenischen Großraum, nach Kleinasien und Nordafrika führt bereits weit vor der Kaiserzeit, etwa ab dem dritten und verstärkt ab dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert zu der bekannten geistigen Öffnung Roms, mit rasanter Rezeption kultureller und geisteswissenschaftlicher Errungenschaften Griechenlands.43 Im Zuge der wachsenden Bedeutung von griechischer Literatur im allgemeinen und der stoischen Philosophie im besonderen gelangen auch Dialektik und Rhetorik in das neue Zentrum der antiken Macht und entfalten dort ihre größte Wirkung. Die Trägerin dieser Entwicklung ist die griechische Bildungssprache. Ihre Tragweite ist außergewöhnlich und ihre Wirkungsgeschichte epochal, doch ihre Rezeption beginnt auf eher volkstümliche Weise, denn die Römer können selbst noch nicht auf Jahrhunderte eigener geistesgeschichtlicher Aufklärung verweisen, sondern sind gezwungen, sich die kulturelle Gesamtleistung und Modernität der Hellenen in einer griechisch sprechenden und griechisch schreibenden Welt vor Augen zu halten: Der Bogen des kosmopolitischen Hellenismus spannt sich von den Geisteswissenschaften, Künsten und Naturwissenschaften über die Entwicklung der Staatsform mit ihren Institutionen und komplexen Rechtssystemen; er reicht hinein in die detaillierte Differenzierung der Handwerke bis hin zu einem gesellschaftlich an Bedeutung gewinnenden Stellenwert der Ausbildung an sich. Nicht nur der Patrizier, auch der römische Bildungsbürger zu Zeiten der Republik und der Kaiserzeit spricht griechisch und liest griechische Literatur und Philosophie.

Marcus Porcius Cato Censorius, der aus seiner scharfen antihellenischen Position, verbunden mit ausgeprägtem Nationalbewußtsein, unaufhörlich vor der Gefahr warnt, die Rom angeblich von Seiten des Griechischen im allgemeinen und der griechischen Literatur und Philosophie im besonderen drohe, ist nicht nur selbst des Griechischen mächtig, sondern umfassend mit griechischer Literatur und Philosophie vertraut:44»Die griechischen Bücher muß man einsehen, aber nicht durchstudieren …«, lautet einer von Catos Weidsprüchen …“45, der seine Ambivalenz pointiert-arrogant zum Ausdruck bringt.46 Hinter der Pointiertheit und Arroganz verbirgt sich eine Problematik, die nicht erst Cato, sondern bereits Generationen vor ihm betrifft und die nur zu einem Teil mit dem sich verstärkt ausbildenden Weltmachtsbewußtsein der Römer begründbar ist, denn das in den Jahrhunderten vor der Republik sich erst allmählich entwickelnde Latein weist im Vergleich zum ausgereiften, differenzierten und prächtigen Griechisch noch zahlreiche Unzulänglichkeiten auf.47 Die mächtige, souveräne und für jeden Römer herausfordernde griechische Sprache steht in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten einem Latein mit ruraler Herkunft und dialektaler Belastung gegenüber, dessen Ausdrucksressourcen erst mühsam aufgebaut werden müssen.48 Zahlreiche griechische Lehnwörter werden im zweiten vorchristlichen Jahrhundert, etwa von Plautus und Ennius, zwar noch als Fremdwörter begriffen, jedoch nicht mehr indeklinabel verwendet, sondern bereits lateinisch dekliniert. In vielen anderen Fällen griechischer Bedeutungslehnwörter ist im Lateinischen jene Metaphorik enthalten, mit deren Hilfe die späterkommende Bedeutungsabsorption bewerkstelligt wird, da die Begriffe einem anderen Kontext entstammen und auf die ausgesagten, textuell visiblen lateinischen Bezeichnungen Aspekte anderer Nomina übertragen.49

Viele schwerwiegende und folgenreiche hermeneutische Entscheidungen, die seitens der römischen Übersetzer der klassischen griechischen Texte zu fällen sind, kommen insbesondere bei der Übertragung stoischer Begriffe in lateinische Bezeichnungen zum Vorschein, sodaß zahlreiche griechische Ideale mit neuen, vielfach handlungs- und zweckorientierten Aspekten lateinisch aufgeladen und modifiziert werden: Es verändern sich viele Nuancen des Bedeutungsumfanges in der lateinischen Übertragung, dennoch kann etwa paideía niemals vollständig in humanitas aufgehen, ebensowenig wie ēthos in mores. Selbst aretē bleibt begrifflich stets weiter gefaßt als virtus, ebenso wie tópos a priori locus in Richtung des Thematisch-Ideellen transzendiert, und von der eudaimonía zur vita beata führt nicht mehr als ein indirekter sprachlicher Weg, an dessen Ende ein kulturell versachlichter und qua Rhetorik seiner transzendenten Dimension entkleideter lateinischer Begriff übrigbleibt. Übertragungen, im Zuge derer die Wörter und mit ihnen die Rhetorik selbst eine Differenzierung hinsichtlich ihrer Handlungsanleitung erfahren, stehen an der Tagesordnung. Zahllose verkürzende Modifikationen und zweckorientierte Amplifikationen bilden das kulturelle Erbe dieser ersten großen Übertragungswelle aus dem griechischen Denken und Sprechen.50 Cicero übernimmt in seinen Werken nicht nur zahlreiche philosophische und rhetorisch-theoretische Gedanken aus der Rhetorik des Aristoteles, sondern entlehnt auch unzählige rhetorisch-stilistische Formen bis hin zu metaphorischer Ausdrucksweise von griechischen Rhetoren, allen voran von Demosthenes, aber auch von Lysias und Isokrates; er bildet sogar Teile von Argumentationsketten nach und folgt deren Redeaufbau.51 Generalisierend, jedoch pointiert formuliert Pohlenz: „Der Grieche fragt bei der Auslegung einer Stelle, was der Autor gedacht, der Römer, was er gewollt hat.52 Damit ist die römische Denkweise mit ihrer sprachlich-kulturellen Tendenz zum Konkreten und Positiven angesprochen, jedoch auch die Qualität der vorchristlichen lateinischen Sprache. Marouzeau betont den Umstand, daß sogar die sprichwörtliche brevitas imperatoria nicht in erster Linie ihrer besonderen Pointiertheit wegen diesen Ehrentitel zuerkannt bekam, sondern die Kürze der Artikulation eher auf eine Insuffizienz des Wortschatzes einer Sprache, mit Quintilian gesprochen, auf deren Armut verweist.53

Im Zuge des Vorantreibens des Kinder- bzw. Jugendunterrichts seitens der römischen Oberschicht werden griechische Zivilisten und Kriegsgefangene als Sklaven nach Rom deportiert; insbesondere Redelehrer und Lehrer für Dichtung finden ein philosophisch aufnahmebereites und kulturell aufnahmefähiges Publikum in einem de facto zweisprachigen Imperium Romanum. In den Rhetorikschulen werden Theorie und Praxis, Lektüre und Übungsrede, an den überlieferten Reden der namhaftesten griechischen Redner des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts orientiert, Demosthenes, Isokrates, Lysias, Hypereides und Lykurgos zählen zu den bedeutendsten.54 Allmählich erfassen Anziehungskraft und Nachhall der griechischen Kultur sämtliche Schichten der römischen Gesellschaft, doch weder die römische Praxis noch die Herleitung der griechischen Rhetorik sind während der ersten vorchristlichen Jahrhunderte deckungsgleich mit dem alten griechischen Bildungsideal der paideía, sondern entwickeln sich entlang zweckorientierter Anforderungen einer antiken Weltmacht und der damit einhergehenden sprachlich-kulturellen Transformation: „Die griechische Philosophie, obwohl sie durch Vermittlung der lehrhaften und vor allem der tragischen Poesie einen gewissen Einfluß auf die Römer gewann, wurde doch mit einer aus bäurischer Ignoranz und ahnungsvollem Instinkt gemischten Apprehension betrachtetund wie selbst die der Philosophie geneigten Römer von ihr dachten, mögen wohl die Worte des Ennius aussprechen: »Philosophieren will ich, doch kurz und nicht die ganze Philosophie; gut ist ’s von ihr nippen, aber sich in sie versenken schlimm« …“55 Diese vermeintlich nebensächliche Differenz der zweckorientierten Perzeption zeichnet jedoch jene klare Entwicklungslinie nach, in der im Rom der Republik und Kaiserzeit allmählich der stoische Anspruch einer Rhetorik der theoretischen Überzeugung der rhetorischen Praxis der Überredung weicht. Die Rede beginnt allmählich, sich dem Sachzwang der res publica unterzuordnen und auf meßbare, nachweisliche Ergebnisse im römischen Senat, vor Gericht und im politischen Diskurs auf Themen, die sämtliche soziale Schichten betreffen, zu fokussieren, denn die res publica war aufgrund ihrer Modernität strukturell erstarkt wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, „Rom war, was Griechenland nicht war, ein Staat.56

Als Weltmacht der Antike ist dieser Staat in den wechselvollen Jahrhunderten der Republik im wesentlichen durch ständische Strukturen geprägt und, daraus resultierend, durch schier unauflösbare Antagonismen zwischen den dominierenden und den dominierten politischen Kräften. Auch wenn die Teilnehmer an der res publica noch keine politischen Parteien moderner Prägung verkörpern, heterogen zusammengesetzt sind und ihre Kräfteverhältnisse riesigen Schwankungen unterliegen, benötigen jene, die Hegemonie ausüben, Patrizier und Optimaten, die Rhetorik gegenüber einer Mehrheit von Plebejern und Popularen. Die grundsätzliche Gegnerschaft figuriert in Rom nicht als Derivat der griechischen Volksversammlung, im Gegenteil, die Antagonismen entstehen vornehmlich durch den Senat, seine Entscheidungsgewalt und deren Resultate in Form von sozialen Ungleichverteilungen. Ein wesentlicher Aspekt wird jedoch nicht in Rom hervorgebracht, sondern durch die griechischen Sklaven als weltanschauliche Tradition in das römische Staatswesen importiert: die Ideologie des Tyrannenhasses.57 Um die Kritik an der herrschenden Nobilität zurückzuweisen, verwenden etwa die Optimaten gegen die Popularen Begriffe aus dem Bedeutungsraum des Wütens und der Raserei, um den politischen Gegner polemisch mit performativen Assoziationen zu diskreditieren.58 Ebenso finden zahlreiche Bedeutungserweiterungen und -verlagerungen statt: Positiv konnotierte Begriffe, wie etwa audacia, dessen Bedeutungsraum Verwegenheit, Kühnheit und Wagemut umfaßt, werden beispielsweise von Cicero und Sallust um die Bedeutungen von Frechheit und Unverschämtheit im Sinne des Brechens von Regeln oder des Aufbegehrens gegen Herrschaftsstrukturen erweitert.59

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