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bb) „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten – Rücknahme unionsrechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte
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Gerade mit Blick auf das Verwaltungsverfahrensrecht gilt im Bereich des indirekten Vollzugs von Unionsrecht der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten,[317] auch wenn in der europäischen Verwaltungs- und Rechtsprechungsrealität aufgrund der zahlreichen, zum Teil recht präzisen, aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleiteten richterrechtlichen Vorgaben eine wirkliche „Autono- mie“ im Einzelfall kaum mehr erkennbar ist.[318] Im Übrigen ist noch nicht hinreichend geklärt, wo der „überschießende“ normative Gehalt des Grundsatzes der Verfahrensautonomie gegenüber den Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit liegen soll, bzw. ob der Grundsatz überhaupt dogmatischer oder doch nur summativer und heuristischer Natur ist.[319]
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Die besonders weit reichende Überformung der nationalen Rücknahme- und Erstattungsdogmatik bei unionsrechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten (Beihilfebescheide) kann hierfür als Musterbeispiel gelten, auch wenn sie keiner Verallgemeinerung zugänglich ist: Von den §§ 48, 49a VwVfG bleibt insoweit nur noch eine fast völlig entkernte Hülle übrig.[320] Während § 48 VwVfG vom Gedanken des Vertrauensschutzes dominiert wird, sah sich der EuGH von Anfang an vor allem mit dem Problem eines unzureichenden Vollzugs des Unionsrechts konfrontiert. Insoweit bestand der Kollusionsverdacht, dass mitgliedstaatliche Verwaltungen zur Durchsetzung nationaler Interessen unionsrechtswidrig vergebene Fördermittel bewusst und unter Ausnutzung der Rücknahmehindernisse nicht zurückfordern.[321] Hierauf hat der Gerichtshof zwar im Grundansatz zutreffend, aber zu radikal reagiert, indem er zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen sowie unter Heranziehung der Loyalitätspflicht nach Art. 4 Abs. 3 EUV bei prinzipieller Anerkennung des Vertrauensschutzes ein grundsätzlich vorrangiges Gewicht des unionalen Vollzugsinteresses eingefordert und insoweit hinderliche Kautelen des deutschen Verwaltungsrechts (z.B. § 48 Abs. 4, § 49a Abs. 2 VwVfG) eingeebnet hat,[322] ohne einen effektiven Mindestvertrauensschutz zu gewährleisten.