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e) Kooperativer und kohärenter Rechtsschutz im Europäischen Kontrollverbund
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Das Unionsrecht hat ein kohärentes Rechtsschutzsystem etabliert, das dem Einzelnen lückenlosen effektiven und kohärenten Rechtsschutz gegen die Unionsgewalt zur Verfügung stellt.[600] Dies bedeutet jedoch nicht, dass Rechtsschutz notwendigerweise auch durch Unionsgerichte zu gewährleisten wäre. Vielmehr hat die Rechtsprechung den Gerichtszugang nicht privilegierter Individualkläger nach Art. 230 Abs. 4 EG sehr restriktiv ausgestaltet: Individuelle Betroffenheit setzt danach voraus, dass der Kläger durch den angefochtenen Unionsrechtsakt wie ein Adressat berührt wird.[601] An der kumulativ erforderlichen unmittelbaren Betroffenheit fehlt es immer dann, wenn die Mitgliedstaaten einen Rechtsakt erst umzusetzen haben und ihnen hierbei gewisse Entscheidungsspielräume verbleiben.[602] Da Unionsrecht im Regelfall indirekt durch nationale Behörden nach Maßgabe nationalen Organisations- und Verfahrensrechts vollzogen wird, ist demnach Individualrechtsschutz zu Unionsgerichten nur ausnahmsweise eröffnet.[603]
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Auch der neu gefasste Art. 263 Abs. 4 AEUV geht insoweit nur für einen sehr begrenzten Bereich einen Schritt weiter, als er in der dritten Variante für „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“, also für untergesetzliche Verordnungen (Art. 290 UAbs. 1 AEUV) sowie Beschlüsse, auf die individuelle Betroffenheit des Klägers verzichtet. Für alle anderen normativen Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien mit Verordnungscharakter) verbleibt es indes beim geltenden Recht. Klagen gegen sie sind nur unter den Voraussetzungen der zweiten Variante zulässig.[604] Auch innerhalb der dritten Variante entfalten aber die Erfordernisse des unmittelbaren Betroffenseins und des Nichtnachsichziehens von Durchführungsmaßnahmen weiterhin erheblich limitierende Wirkungen.
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Schlüsselinstrument zur Herstellung effektiven Rechtsschutzes im europäischen Rechtsschutzverbund ist Art. 267 AEUV. Der Einzelne kann nationale Gerichte um Rechtsschutz ersuchen und diese gegebenenfalls dazu veranlassen, die Frage nach der inzident bestrittenen Gültigkeit eines Unionsrechtsakts dem EuGH vorzulegen.[605] Im indirekten Vollzug handeln nationale Gerichte insoweit als funktionale Unionsgerichte.[606] Soweit es an einem anfechtbaren Vollzugsakt fehlt, behilft man sich im deutschen Verwaltungsrecht damit, im Wege unionsrechtskonformer Auslegung des Prozessrechts eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO zur Verfügung zu stellen.[607] Defizite des Rechtsschutzsystems bestehen daher im Wesentlichen nur in komplex gestuften Verwaltungsverfahren, da hier indirekter und direkter Vollzug eng miteinander verschränkt sind, was zu Transparenz- und Rechtsschutzeffektivitätsdefiziten führen kann.[608]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › VI. Verwaltung und Politik