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b) Die Intensität der Kontrolle

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Der Richter ist entsprechend der allgemeinen Verfahrensregel, die Entscheidungen ultra petita verbietet, gehalten, nicht über die Anträge der Beteiligten hinauszugehen. In diesem Rahmen übt er eine Kontrolle aus, die zwei Gegebenheiten zum Ausgleich bringen muss: die Erfordernisse des Verwaltungshandelns und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, oder, um eine Formulierung aus der Entscheidung Blanco aufzugreifen, „die Bedürfnisse der Verwaltung und die Notwendigkeit, das Recht des Staates mit den privaten Rechten in Einklang zu bringen“.

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Im Rahmen sowohl des contentieux de pleine juridiction als auch des contentieux de l’excès de pouvoir hat dies zu einer Ausweitung der richterlichen Kontrolle geführt. So war das Prinzip der Haftung der öffentlichen Gewalt zwar Ende des 19. Jahrhunderts anerkannt, es galt aber als „weder generell noch absolut“. Dass die Haftung heute insoweit durchaus generell ist, als für jegliches Verwaltungshandeln gehaftet wird, ist ein Ergebnis der Verschärfung der gerichtlichen Kontrolle. Kein Bereich des Verwaltungshandelns steht heute noch außerhalb des Haftungsregimes. Ursprünglich auf dem Restitutionsgedanken basierend, hat sich dieses durch die Berücksichtigung des Solidaritätsgedankens weiterentwickelt. Dies zeigt sich einerseits in der richterrechtlichen Annahme einer verschuldensunabhängigen Haftung der öffentlichen Gewalt, die entweder auf das Prinzip der Gefährdungshaftung oder auf die Annahme einer Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bei der Erhebung öffentlicher Abgaben gestützt ist, andererseits in der Einrichtung von Entschädigungsfonds (etwa für Kriegsschäden oder die Opfer terroristischer Akte)[168] durch den Gesetzgeber. Diese Entwicklung hat zu dem durchaus kritikwürdigen Befund geführt, dass man heute eine versicherungsähnliche Haftung der öffentlichen Gewalt in Erwägung zieht,[169] für die vor allem das Vorsorgeprinzip verantwortlich ist. So verlangt der Richter in bestimmten Bereichen keine besondere Schwere der Pflichtwidrigkeit mehr, schränkt die Fälle, in denen es einer faute lourde (grobe Fahrlässigkeit) bedarf, zugunsten des bloßen Erfordernisses einer faute simple (einfache Fahrlässigkeit) ein und dehnt die Haftung für vermutetes Verschulden aus. Auch im vertraglichen Bereich hat die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die die Rechte der administrés gewährleisten und dennoch die „Erfordernisse des Verwaltungshandelns“ berücksichtigen. Ein Beispiel ist die théorie de l’imprévision (Lehre von der Geschäftsgrundlage).[170]

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Die Kontrolle der Verwaltung mittels des recours pour excès de pouvoir, eines Rechtsbehelfs, der traditionell als das bevorzugte Instrument zur Durchsetzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gilt, fällt in denselben Zuständigkeitsbereich. Parallel zum breiten Zugang zu den Gerichten, den dieser recours objectif infolge seiner großzügig konzipierten Zulässigkeitsvoraussetzungen eröffnet, sowie zur Entwicklung der Kontrollmechanismen sind auch die einer Erörterung vor Gericht zugänglichen Klagegründe (cas d’ouverture) erweitert worden.

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Die Klagegründe beim recours pour excès de pouvoir, die sich auf die unterschiedlichen Aspekte der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts beziehen, können in zwei von der Rechtsprechung entwickelte Gruppen unterteilt werden: Gesichtspunkte der légalité externe (formelle Rechtmäßigkeit) und Gesichtspunkte der légalité interne (materielle Rechtmäßigkeit). Die erste Gruppe betrifft Fälle, in denen der Verwaltungsakt fehlerhaft ist, weil die Behörde unzuständig ist (incompétence) oder ein Form- und Verfahrensfehlern (vice de forme et de procédure) vorliegt. Zur zweiten Gruppe gehören Fälle, in denen es um die materiellen Voraussetzungen des Verwaltungshandelns geht, also Fehler bei Tatsachenfeststellung und Subsumtion (erreur des motifs de fait) und Fehler bei der Rechtsanwendung (erreur des motifs de droit), die unmittelbare Verletzung einer Rechtsvorschrift (violation directe de la règle de droit) und den Ermessensmissbrauch (détournement de pouvoir). Der Richter kann also mit anderen Worten über alle Formen von Rechtswidrigkeit befinden, mögen diese nun objektive Aspekte wie etwa die tatsächlichen und rechtlichen Gründe der Entscheidung oder subjektive Aspekte wie die mit ihr verfolgten Ziele betreffen. Letztere können im Zusammenhang mit dem Klagegrund des Ermessensmissbrauchs erörtert werden, der eine Überprüfung der inneren Absichten der Verwaltung auf ihre Integrität hin erlaubt. Wenn die Rechtsprechung Techniken entwickelt hat, die ihr eine Anpassung der Kontrolle an die Rechtslage, in der sich die Verwaltungsbehörde befindet, erlauben, bedeutet das nicht, dass sich die Kontrolle nicht mehr auf alle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen bezieht, wenn auch stets nur im Rahmen des klägerischen Antrags.[171]

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Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle ist beim recours pour excès de pouvoir abhängig vom Grad des der Verwaltung eingeräumten Ermessens. Das gilt vor allem für die Kontrolle der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen (motifs). Traditionell unterscheidet man zwischen contrôle normal (volle Kontrolle) und contrôle restraint (eingeschränkte Kontrolle). Die Unterscheidung überschneidet sich mit der Unterscheidung zwischen gebundenem Verwaltungshandeln und Ermessensverwaltung und führt vor allem bei der Kontrolle der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen zu Unterschieden. Während der Richter beim contrôle normal die Tatsachenfeststellung und -würdigung in ihrer ganzen Breite prüft (u.a. Genauigkeit der Tatsachengrundlage sowie deren rechtliche Würdigung), beschränkt er sich beim contrôle restraint auf die Prüfung der Genauigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen und des eventuellen Vorliegens offensichtlicher Beurteilungsfehler (erreur manifeste d’appreciatión).[172] Die Kontrolle offensichtlicher Beurteilungsfehler erlaubt es etwa, in einem Disziplinarverfahren die Angemessenheit einer Sanktion im Verhältnis zur Schwere des Fehlverhaltens zu prüfen. Der contrôle restraint scheint gegenwärtig gegenüber dem contrôle normal an Boden zu verlieren, und dies selbst dort, wo die Verwaltung über Ermessen verfügt. Zudem nehmen die Richter unter bestimmten Voraussetzungen, die ebenfalls immer weitere Bereiche des Verwaltungshandelns erschließen, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, die es ihnen erlaubt, die Angemessenheit eines Mittels im Verhältnis zum verfolgten Zweck zu thematisieren. So wurde etwa die Erklärung der Verwaltung, eine Enteignung diene dem Wohl der Allgemeinheit, auf Grundlage einer „Kosten/Nutzen-Rechnung“ überprüft.[173] Die Tätigkeit des Verwaltungsrichters gewinnt dadurch an Komplexität, dass er die Grenze zwischen Rechtsprechung und aktiver Verwaltung wahren muss. Dieses Spannungsverhältnis scheint aber dadurch ausgeglichen zu werden, dass der Richter einen Platz innerhalb der Verwaltung einnimmt: Entstehung und Entwicklung des recours pour excès de pouvoir gehen auf eine Zeit zurück, in der der Verwaltungsrichter als einfacher Berater des Staatsoberhaupts durchaus einige Anleihen bei den verwaltungsinternen Kontrollmechanismen nehmen konnte. Genau aus diesem Grund zögerte der Conseil d’État auch nach Zuerkennung einer unabhängigen Stellung[174] hinsichtlich der Beibehaltung seiner älteren Rechtsprechung. Nach kurzer Zeit waren die Verwaltungsgerichte aber bestrebt, gerichtliche Rechtsbehelfe zu entwickeln und ihren Anwendungsbereich unter Berücksichtigung der Freiheit der Verwaltung und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit auszudehnen.[175]

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