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16. V. 45

Praha

Aus dem Radio tönt der Jubel der Hunderttausende. Nach sechs Jahren und sieben Monaten kehrt unser Herr Präsident Beneš wieder nach Prag zurück. Wie habe ich mich auf diesen Tag gefreut! Und doch sitze ich zu Hause, traurig und leer.

Ich habe viele Tote gesehen. Doch noch war es nicht Der Tod. Den erkennt man erst, wenn uns jemand verläßt, den wir gut gekannt haben. Dann ist nicht nur sein Körper gestorben, sondern mit ihm auch eine namenlose Zahl von Begegnungen, Gedanken und Träumen, an denen wir teilhatten. Die Leben derer, die sich nahestehen, überlappen sich. Der Tod reißt den Menschen auch aus allen andern Leben heraus. Deshalb spüre ich ihn heute zum ersten Mal am eigenen Körper.

Böse Ironie des Schicksals! Warum ist das nicht mir passiert?

Noch am Mittwoch vor vierzehn Tagen saß er uns hier gegenüber. Wir sollten lernen, aber statt dessen stritten wir alle vier über den Sinn der tschechischen Geschichte.

– Wir sollten endlich begreifen, sagte er, daß unser eigentlicher Prophet nicht Johannes Hus ist, sondern Hieronymus Pragensis. Hus war, bei aller Achtung, die ich ihm zolle, ein Häretiker, der den Scheiterhaufen einkalkuliert hatte. Der Märtyrertod war ihm zum Stützpfeiler seiner Philosophie geworden. Aber wie viele Märtyrer werden bei uns geboren? Hieronymus hat vor seinen Richtern zweimal widerrufen, um zurückzukehren und weiterlehren zu können. Das scheint mir viel zweckmäßiger zu sein.

– Und man hat ihn doch verbrannt! triumphierte ich.

– Das Beispiel geborener Märtyrer, fuhr er ruhig fort, festigt die Massen der Schwachen in der Überzeugung, daß es sinnlos ist, der Gewalt Widerstand zu leisten. Die Schwachen aufrütteln, das können nur Menschen, wie sie selber, Menschen, die der Schwäche und dem Gewissen eine vernünftige Grenze setzen. In der Grenzsituation sagte Hieronymus sein «Ich widerrufe nicht» ebenso wie Hus. Zuvor gewann er jedoch Zeit, seine Postulate auszuarbeiten. Hus hat der tschechischen Reformation die Fahne gegeben. Hieronymus das Hirn.

– Aber welcher von beiden wurde zum Nationalheiligen, wer gab dem tschechischen Volk die Kraft, die Habsburger und Hitler zu überstehen?

– Ich gebe zu, daß es Augenblicke gibt, in denen ein Volk vor allem Märtyrer braucht. Die Leute, die die Gestapo gefoltert hat, damit sie ihre Organisationen verraten, mußten sich an Hus halten. Aber: Kein Volk lebt dauernd in einem Ausnahmezustand. Grenzsituationen sind jedoch nur ein Bruchteil der Geschichte. Nur wer die Zukunft praktisch vorbereitet, kann die Konzeption des Volkes gestalten. Die Hussiten haben ihre Möglichkeiten überschätzt. Anstatt ihren Sieg politisch zu sichern, beschlossen sie, ganz Europa zum wahren Glauben zu bekehren. Ihre zwanzigjährige permanente Revolution hat das Volk erschöpft und buchstäblich eine Opposition aus dem Boden gestampft. Man lernt in der Schule, daß in der brudermörderischen Schlacht von Tschechen gegen Tschechen bei Lipany der treue hussitische Kleinadel gegen die verräterische Hocharistokratie kämpfte. Kaum jemand weiß aber, daß sich dort auch Generationen gegenüberstanden: die Generation der Fanatiker der Generation der Realisten.

Wir waren empört.

– Für dich sind Konterrevolutionäre also Realisten?

– Keine Demagogie! wehrte er sich, geht auf den Inhalt der Worte. Der revolutionärste Flügel der Hussiten waren nach dem klassischen Muster die Chiliasten. Die Kommunion in beiderlei Gestalt genügte ihnen nicht, sie verlangten zudem vollständige Besitzlosigkeit. Und was taten die Hussiten? Sie massakrierten sie. Waren die Hussiten deshalb konterrevolutionär? Damals nicht. Die Chiliasten waren ihrer Zeit voraus, und ihre Rebellion bedrohte die Einheit der Revolution im Augenblick tödlicher Gefahr. Doch die Geschichte geht stets weiter. Fünfzehn Jahre später wird die revolutionäre Bewegung eine Militärdiktatur, die das Land in die Katastrophe führt. Darum müssen die Hussiten von der politischen Bühne abtreten, damit die Böhmischen Brüder auftreten können. Darum erscheint als Symbiose des Alten mit dem Neuen ein Hussitenkönig. Und Jiřík von Poděbrady vermag das Land zu konsolidieren, er rettet vor allem die Reformation. Durch seine Diplomatie verschafft er dem geschwächten Böhmen in Europa eine solche politische Position, wie sie die hussitischen Waffen nie erobert hatten.

Ich schrie beinahe:

– Aber ohne die Schlachten auf dem Vítkov-Berg, bei Ústí und bei Domažlice hätte er das nie erreicht! Žižka war es, der Europa den Respekt vor den Tschechen beibrachte! Man wußte dort nur zu gut, daß auch nach der Niederlage bei Lipany der Geist Žižkas in Böhmen fortlebte, daß wir im Augenblick wieder zu Gottesstreitern wurden!

Ich sehe noch heute seinen strengen Blick, höre seine nachdenkliche Stimme:

– Ich habe es nicht gern, wenn jemand spricht, als wäre er ein verdienter Gottesstreiter. Ich gebe zu, daß es Zeiten gibt, in denen das Volk auch Heerführer braucht. Ich bin froh, daß es seinen Žižka hatte. Nur: Jiřík sah Europa bis fünfhundert Jahre voraus, und er sah es richtig. Manchmal scheint es mir, er hat auch mit München gerechnet. Wie hat Žižka uns bei München geholfen?

– Du bist also mit der Kapitulation einverstanden?

– Nein ... ich kenne nur keine Alternative.

– Die Alternative war der Kampf. Wir hatten eine Armee. Wir hatten Festungen. Wir waren verpflichtet zu kämpfen.

Er nickte zweifelnd.

– Vielleicht. Aber dann säßen wir heute möglicherweise nicht hier und könnten nicht über die Zukunft streiten.

Ich griff ihn wieder an:

– Sollen wir uns also alle zwanzig Jahre besetzen lassen und dann warten, bis uns jemand befreit? Worin besteht dann überhaupt der Sinn unserer nationalen Existenz? Wodurch sind wir ihrer würdig?

– Ich denke darüber nach, sagte er, was von Žižkas kriegerischem Erbe noch bleibt in einer Zeit der Bombenteppiche und Panzerkeile. Dem Erbe des Comenius hingegen begegnest du heute in jedem Lehrbuch der Welt.

Ich halte Fragmente seiner Gedanken fest. Das ist das einzige, was ich noch tun kann, damit er nicht so ganz, so unwiderruflich weggeht.

Unsere Freundschaft mit ihm war eigentlich ein einziger langer Streit. Er bezweifelte vielleicht überhaupt alles. Er bezweifelte auch die Gedanken, die er selbst erarbeitet hatte. Er pflegte zu sagen, daß auch die größte Wahrheit am Abend nicht mehr gelte und am Morgen neu bewiesen werden müsse. Oft – so wie damals zum letzten Mal – waren wir absolut sicher, daß er sich irre, aber jedesmal reichten unsere Argumente nicht aus. Er hatte unendlich mehr gelesen als wir drei zusammen.

Im Augenblick der Entscheidung widerrief er seine Worte durch eine Tat, die unwiderruflich war. Ich kann es immer noch nicht fassen.

Ich sitze in meinem Zimmer, glücklich und verzweifelt zugleich. Die Straßen beben vor Freude. Eine Woche lang war mir übel von diesen Beamtenmäusen, die aus den Kellern hervorkrochen, um sich auf den zerschossenen Barrikaden photographieren zu lassen. Heute, im scharf gebündelten Licht seines Opfers, habe ich das Gefühl, daß auch ich zu ihnen gehöre.

Was habe ich erreicht? Ich habe geholfen, die Einrichtung des Ansageraums in die Hus-Kirche zu bringen, nachdem ein Lufttorpedo das Funkhaus durchschlagen hatte und im Vestibül explodiert war. Dann habe ich drei Tage als gewöhnlicher Laufbursche Zettel hin und her getragen, die vielleicht gar keinen Sinn hatten. Mein Mut bestand vielleicht darin, daß ich nie zu A. hinüberging, damit sie mich keiner Schwäche verdächtigte. Und das einzig Außergewöhnliche, das mir widerfuhr, erweckt in mir nur Scham.

Am Dienstagabend überbrachte ich den Technikern des Senders im Stadtteil Strašnice eine Nachricht. Vom Funkhaus zum Sender sind es normalerweise zehn Minuten mit dem Tram. Zu Fuß über die Barrikaden hat es drei Stunden gedauert. Dann kam die Nachricht, Panzer hätten den Rückweg abgeschnitten. Man hörte Kanonen donnern. So mußte ich bleiben.

Im Büro des Direktors saß die zweite Schicht der Techniker. Sie sollten schlafen, aber sie suchten im Äther Hoffnungsfunken. Auf allen Wellenlängen läuteten die Glocken der europäischen Kathedralen, die den Frieden begrüßten. Wir waren mitten im Krieg. Schörners Armeekorps versuchte Prag einzunehmen, um es zur letzten Festung zu machen. Die Antenne über unseren Köpfen warf entmutigende Nachrichten in den Raum. Die Deutschen verbrannten in den Vorstädten Mietshäuser mit den Menschen. Auf dem Bahnhof Mitte stellten sie die Eisenbahner und Reisenden in einer Reihe auf, zählten sie ab und erschossen jeden zehnten gleich auf den Gleisen. Jetzt gingen sie also auf uns los.

Ich lag auf dem Feldbett und wurde von Träumen geplagt. Ich hörte Mitternacht schlagen und faßte den Entschluß. Ich ging hinaus und sagte dem Kommandanten der Wache:

– Eine Nachricht für die Hus-Kirche.

Ich lief durch die Straßen, über die verlassenen Barrikaden hinweg. Ihr Fenster stand offen. Ich hangelte mich am Fenstersims hoch. Sie erwachte. Alles wiederholte sich bis zum Satz:

– So komm, wir werden einander haben ...!

Diesmal ging ich nicht fort. Ich riß den Stoff weg, der mich beengte wie ein Panzer. Dann umarmte ich sie, und beseligt fühlte ich, wie wir uns vereinigten. Ein heißer Schmerz. Er währte nur einen Augenblick. Dann fiel ich voll Erleichterung in die Tiefe.

Plötzlich dröhnte Eisen. Ihr Vater stürzte ins Zimmer und rüttelte mich roh an der Schulter.

– Aufstehen!

Ich lag wieder auf dem Feldbett. Einer der Techniker beugte sich zu mir.

– Aufstehen! Die Deutschen!

Ich erwachte. An den Schenkeln fühlte ich eine nasse Wärme. Ich will in diesem Tagebuch immer aufrichtig sein. Wenn die Zeit einmal die Gegenwart in Legende verwandelt, will ich darin mein wirkliches Bild finden.

So sahen also meine letzten Kriegsminuten aus: Mit dem Bajonett in der Hand kauerte ich unter dem Fenster, hinter dem sich das metallene Dröhnen der Stahlraupen näherte. Jemand betete halblaut. Ich war zu keinem Gedanken fähig, spürte nur meine Hose an den Schenkeln kleben und hatte das demütigende Gefühl, daß ich peinlich nutzlos sterbe.

In der Dämmerung tauchten die drohenden Umrisse des ersten Panzers auf.

So, das ist also alles. Das war mein ganzes glorreiches Leben.

Dann schrie jemand unten im Hof.

– Die Russen!!

Was sonst war, ist für mich die tausendmal exponierte photographische Platte. Darauf muß meine Triumphfahrt auf dem Panzer sein, vor dem sich die Tore der Barrikaden öffneten, das Klingeln an unserer Tür und Mutters Tränen, die sich gleichzeitig ärgert und freut, der Gang mit Vater durch die Stadt, wo anstelle der Trams endlose Kolonnen von Panzern verkehren. Die besiegten Herren Europas in langen Marschkolonnen, eskortiert von einem kleinen fröhlichen Soldaten, der ihnen mit seiner Mundharmonika den Marsch bläst. Und die Sieger, die tausend Kriegsnächte nachholen und auf den Stufen des Museums schlafen, zusammengedrängt wie die Tauben. Kollaboranten mit dem Hakenkreuz auf dem Rücken beim Wegräumen der Pflastersteine. Und auch ein lebendig verbrannter Gestapomann, an den Füßen an einer Laterne aufgeknüpft. Mir wird übel. Ich fragte Vater:

– Ist das Gerechtigkeit ...?

– Nein! Das ist Barbarei. Die das getan haben, sind nicht besser als er.

Wir verabschieden uns voneinander. Ich breche im Park Fliederzweige ab und laufe zu A. Ich werfe den Strauß ins Zimmer. Sie erscheint im Fenster. Nein, sie kann nicht mit mir gehen, eben sind ihre Eltern zurückgekehrt. Ich verstehe, aber ich warte wenigstens auf ein Wort, das unsere Nacht bestätigt.

– Komm wieder mal vorbei.

Ich bin enttäuscht. Aber gleich schimpfe ich auf mich. Hätte sie mir vor der ganzen Straße eine Liebeserklärung machen sollen? Ich werde warten und mich freuen!

Wiederum zu Fuß quer durch ganz Prag. Auf dem Wenzelsplatz wird getanzt. Vor der Karlsbrücke tränken Kosaken ihre Pferde. Ein lebendes Bild von Mikoláš Aleš aus dem längst verlorenen Lesebuch. Auf dem Rasenplatz vor dem Rudolfinum wird ein sowjetischer Soldat begraben. Ein Mädchen in Uniform hat seinen Kopf auf ihren Knien und wehklagt in langgezogenen Tönen, es ist fast ein Gesang, ein Lied der Liebe und des Leids. Sie weint, und ein Halbkreis stoppelbärtiger MP-Schützen weint mit ihr. Eine Insel der Trauer im Meer der Freude.

Ich begegne einer Kolonne Lastautos. Auf den Bänken halten Rotkreuzschwestern seltsame Wesen um die Schultern. Sie sehen gar nicht wie Menschen aus. Unter kahlen Schädeln versuchen zahnlose Münder zu lächeln. Es dauert eine Weile, bevor ich begreife, daß dies Frauen sind. Die Gräber der Konzentrationslager öffnen sich.

Alles tun, damit das nie wiederkehrt!

Ich klingelte bei Petr. Er war vor einer Weile gekommen und gerade eingeschlafen. Auch er war irgendwo beim Funkhaus. Ich wollte ihn nicht wecken und ging inzwischen zu Robert. Ich fand dort nur seine verängstigte Mutter. Rob ist Samstag mittag weggegangen wie wir, aber noch nicht zurückgekehrt.

So begannen wir die Suche nach ihm.

Erst vorgestern hat Slávek ihn in der Pankrác-Turnhalle gefunden, die in ein riesiges Leichenhaus umgewandelt war. Er trug die Uniform des Afrikakorps mit der Armbinde der Revolutionsgarde. Er ist auf seiner Barrikade geblieben bis zum Schluß. Eine Handgranate riß ihm ein Stück Schädel weg. Sechs Tage hat er dort auf uns in der Maihitze gewartet.

Seine Mutter brach zusammen. Wir wollten sein Begräbnis bestellen, aber es gab so viele Tote, daß die Totengräber vor Müdigkeit umfielen.

Wir haben uns vom Luftschutz Gerät geliehen. Mit Petr und Slávek haben wir ihm heute früh auf dem Olsaner Friedhof ein Grab gegraben. Den Sarg haben wir in einem deutschen Militärmagazin aufgetrieben. Über dem Grab sangen wir ihm die Nationalhymne. Mir gegenüber stand A. in einem ausgeliehenen schwarzen Kleid. Sie war schön.

Auch in diesem Augenblick wollte ich zu ihr gehen und sie küssen.

Rob, Robek, verzeih. Wovor ich solche Angst hatte, das ist dir geschehen. Du bist von uns gegangen, ohne zu erkennen. Gerade du, der von uns allen am meisten das Leben liebte, bist freiwillig zum Kämpfer und Märtyrer geworden.

Ich schäme mich.

Auf dem Altstädter Ring spricht Präsident Beneš von der Zukunft. Dir wird sie nicht mehr gehören, obwohl du ihrer am meisten würdig bist.

Leb wohl, Robert.

Ich hebe deinen handschuh auf und werde ihn weitertragen als meine fahne!

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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