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26. II. 45

Praha

Der Matheprofax hat wie immer mit dem arischen Gruß angefangen. Er hat sich dabei fast die Glieder ausgerissen. Er ist der einzige, der es noch tut. Und der einzige, der prüft, obwohl er weiß, daß wir bald drankommen. Die Septimen sind schon im Totaleinsatz. Jetzt werden wir verfeuert.

Er hat die Stunde mit der Mitteilung eingeleitet, daß ein Panzergrenadier fünf russische Panzer vernichtet habe. Weiß er wirklich nicht, daß die russischen Panzer die Deutschen eben von der Weichsel zur Oder jagen?

Er hat einen Jungen aus der Nachbarsexta angezeigt, als der den Stern über der Schulweihnachtskrippe rot angemalt hatte. Am Weihnachtstag hatten sie ihn nach Dresden geschickt. Nach dem Angriff am 14. Februar ist er dort liegengeblieben. Wer weiß, vielleicht hätte es ihn auch in Prag erwischt. Trotzdem sagt man, daß der Matheprofax hängen wird. Ob er Angst hat?

Dann kam der Direx in die Klasse, um sofort Freiwillige zu Räumungsarbeiten abzukommandieren. Dem Mathefritzen zum Trotz haben wir uns alle miteinander gemeldet.

Vor der Direktion wartete ein blonder Beau des Kuratoriums für Jugenderziehung auf uns. Das war Verrat. Niemand aus unserer Klasse war im Kuratorium, unsere Mütter ließen uns dafür die Mandeln operieren und ärztliche Zeugnisse über unsere schwächliche Konstitution ausstellen.

Aber da war nichts zu machen. Er schrieb sich unsere Namen auf, und los ging’s. In dem Tram haben wir geblödelt, ein künstliches Gedrängel gemacht und fürchterlich gelacht. Wir waren vierzig, er kannte uns nicht beim Namen, und so schrie er nur die ganze Zeit:

– Kameraden, Diszipliiin!

Einmal fügte er beinahe rachsüchtig hinzu:

– Euch wird der Spaß bald vergehn!

Wir stiegen in Strašnice aus, an der Kreuzung bei den drei Friedhöfen. Wir murrten auf, hier ist doch nicht bombardiert worden. Ihm machte das keinen Eindruck, und er ging voran, in der Hand unsere Liste. Wir mußten ihm nach. Wir betraten den Neuen Jüdischen Friedhof. Hinter dem Tor schlug uns ein ekelhafter Gestank entgegen, wie von schrecklich verfaulten Kartoffeln. Slávek meinte, wir würden Kartoffelsilos ausgraben. Robert sagte:

– Diese Deutschen sind doch Schweine.

In der Hauptallee zwischen den Gräbern stand ein Mann in einem weißen Mantel hinter einem Tisch. Vor ihm waren Zigarettenpäckchen und kleine Gläser mit einer braunen Flüssigkeit ausgerichtet.

– Also los, Jungs, sagte er, jedem zehn Stück und einen hinter die Binde. Das ist ein ehrlicher Schluck.

Bis heute habe ich weder geraucht noch getrunken. Wie der Großteil der Klasse. Die Zigaretten sind rationiert, und auch für Raucher gibt’s wenig. Ich freute mich darauf, sie Vater mitzubringen.

Die Jungs begannen zu trinken. Ihre Wangen wurden rot, und sie fingen an, Schlager zu grölen. Ich trank auch, damit man mich nicht auslachte. Und ich war auch neugierig. Der erste Schluck brannte mir auf den Lippen. Beinahe hätte ich ausgespuckt, aber Slávek rief:

– Du mußt das auf einmal kippen!

Es war, als ob ich einen Nagel geschluckt hätte. Aber der Schmerz dauerte nur ein Weilchen. Übrig blieb eine angenehme Wärme und eine seltsame Leichtigkeit. Ich fing an, mitzusingen. Es war lustig, wie ich mich wie von weitem hörte. Rob sagte etwas zu mir. Er mußte es dreimal wiederholen, ehe ich ihn verstand, und ich begriff, daß er abhauen wollte, weil ihm das irgendwie nicht gefiel. Ich wollte ihm antworten, aber ich hörte mich immer nur singen.

Plötzlich marschierten wir in Zweierreihen. Ich weiß nicht, wie wir uns formiert hatten. Wir kamen zu einer Kapelle oder vielmehr einer Synagoge. Unter der steinernen Treppe lagen Haufen merkwürdiger Kisten. Der Kuratorist stellte sich auf die Stufen und fing an zu schreien.

– Kameraden, in diesem Gebäude sind die sterblichen Überreste von Opfern des barbarischen Angriffs durch die anglo-amerikanischen Luftpiraten vom 14. Februar provisorisch aufgebahrt worden. Es ist unsere Aufgabe, sie in Särge zu betten, damit sie auf würdige Weise der ewigen Ruhe überantwortet werden können. Ich hoffe, ihr seid keine Schlappschwänze! Übrigens – im Sommer wäre es schlimmer. Jetzt wollen wir das mal vorführen. Du und du da, nehmt einen Sarg und kommt mit!

Robert und ich traten aus der Reihe. Die Klasse schaute uns an, als sähe sie uns zum ersten Mal. Mein Kopf rauschte. Die Kiste aus dünnen Brettern war nicht schwer. Wir betraten das Gebäude. Der Gestank betäubte mich fast. Der Wand entlang lagen Reihen von Körpern. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Vielleicht einige hundert.

– Stellt den Sarg hin! Nehmt den Deckel ab! Hebt diese da hinein! Jeder von einer Seite, an den Sackenden! Hochreißen, heben, tragen, eins zwei, und los!

Auf dem Sack lag ein Mädchen. Es hatte nur den Rock an, und an seinem Bein war ein Pappkärtchen mit der Aufschrift Hana Korunova, 19 Jahre.

Ich sah zum ersten Mal eine nackte Frau. Weibliche Brüste. Sie sahen überhaupt nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie waren unförmig groß und abstoßend gelb.

Sonst erinnere ich mich nur an die erste Zigarette in meinem Leben, an das Grab, auf dem ich saß und mich erbrach, und daß meine Mitschüler ringsum kotzten. Und an die Sirene. Sie begann vor Mittag zu heulen, genau wie am 14. Februar.

Wir flohen aus dem Friedhof, verrückt vor Angst. In der Nähe stand ein einziges Haus. Wir drängten uns zwischen alte Frauen, Rentner und Kinder. Der Kuratorist erschien und tobte:

– Scheißkerle, das ist nur die Vorwarnung. Sofort zurück!

Keiner rührte sich. Er wollte die vordersten mitzerren. Eine Frau sagte zu ihm:

– Schämen Sie sich! Das sind doch noch Kinder!

– Solche wie die sind im Reich längst an der Front! Los, Kameraden!

Ein älterer Herr faßte ihn unterm Kinn.

– Zeig dich, damit ich mir dein Gesicht merken kann!

Der Kamerad ließ die Schultern hängen und zog ab. Wer hat eigentlich mehr Angst – sie oder wir?

Nach der Entwarnung fuhren wir mit dem ersten Tram nach Hause. Alles war uns egal. Ich bin nicht einmal mehr bei A. ausgestiegen. Ich könnte sie heute nicht anrühren.

Es ist Abend, ich schreibe im Bett, Mutter hat mir die Temperatur gemessen. Ich hab’ ihr nichts gesagt. Warum soll sie Kummer haben für zwei? Eben ist Petr weggegangen, er hat ein paar Tage Urlaub. Seine Septima schaufelt Panzergräben bei Ostrava. Er hat mir erzählt, daß zwei Jungs aus einem andern Gymnasium erschossen wurden, weil sie in der Nacht mit der Taschenlampe aufs Klosett gingen. Er ist mager und ganz anders geworden. Ich habe ihm gesagt, was wir im Rundfunkensemble proben, aber er hört überhaupt nicht zu. Später hat er sich meinen «Cyrano» geborgt.

Wann wird man uns einziehen?

Vater hat mir die letzten Nachrichten mitgeteilt. Die russischen Panzerdivisionen greifen ununterbrochen an. Im Westen nichts Neues. Ich bin wieder allein und den Tränen nahe. Überall Tod und Tod. Warum geht das alles so langsam? Und warum hat man das Mädchen umgebracht? Wie, wenn auch sie jemand liebgehabt hat, so wie ich A.? Wie viele von uns müssen noch unnötig sterben? Muß ich auch?

Was ist das Leben eigentlich, wenn es so sinnlos enden kann? Kommt danach wirklich etwas? Gibt es einen Gott? Wie schrecklich anders als alles übrige sind die Toten! Was, wenn Petr recht hat? Wenn nachher nichts kommt? Ich habe Angst. Angst um A., um meine Eltern, um mich selbst. Wenn wir sterben, begegnen wir uns wahrscheinlich nie mehr wieder. Höchstens in jener Kapelle. In jener abscheulichen Kapelle.

Vater unser, wenn Du bist im Himmel, Dein Name werde geheiligt, Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel, schütze uns vor denen, die vom Himmel her töten, und führe bald zu uns, die über die Erde fahren, und segne, o Herr, ihre Panzer, auf daß der Stern aus Osten wie der von Bethlehem unsere Nacht durchstrahle, Amen.

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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