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Mittwoch, 21. August 1968

(Fortsetzung)

Perugia

Bis Perugia sprachen wir nicht miteinander. Auf der Piazza stellte ich den Wagen ab. Es war ein grausamer Mittag, die Bevölkerung hatte sich spurlos verflüchtigt – in jenes zweite Italien, das ich mir wie ein klimatisiertes Ristorante am Flusse Styx vorstelle, wo man erst gegen Abend auszieht, um vertrocknete Touristen einzusammeln. Trotzdem setzte ich mich vorsätzlich an einen der kleinen Tische, die auf dem glühend heißen Pflaster gleich bei der Mauer des Palazzo dei Priori standen. Nach einer Weile stellte sich ein ermatteter schwarzhaariger Kellner ein.

– Willst du essen? fragte ich kalt.

Sie schüttelte den Kopf. Sie mußte einen schrecklichen Hunger haben, genauso wie ich.

– Mezzo bianco, bestellte ich barsch.

– Va bene, signore.

Einzelheiten interessierten ihn nicht. Die von strengen mittelalterlichen Portalen eingerahmte Piazza di Quattro Novembre sah aus wie eine riesige überbeleuchtete Filmkulisse. Ab und zu fuhr ein leerer Autobus von Portal zu Portal, sonst war sie still und menschenleer, perfekt für den nächsten take. Aus der Fontana Maggiore tranken Tauben. Nur der heilige Bernhard von Siena fehlte, um seine Gebete für den Frieden anzustimmen.

Zum Glück brachte er kühlen Weißwein. Wir tranken ihn in einem Zug aus. Wie immer entfesselte er meinen Durst. Ich bestellte eine große Karaffe. Schweiß übergoß mich. Meine Bitterkeit wuchs und brach durch.

– Ich glaube, wir sollten mal ernst miteinander reden, sagte ich.

Wir tranken den zweiten Liter. Wenn sie einen Schwips hatte, war sie für Argumente noch weniger empfänglich als sonst, aber mir war das schon egal.

– Vier Jahre versuche ich, deine Laune und deinen Egoismus zu ertragen, weil ich glaubte, das müsse doch noch einmal aufhören. Ich habe zehntausend Stunden und Tonnen Energie verloren, um dir die elementarsten Dinge klarzumachen. Fünfzig junge Damen hätte ich finden können, die alles aufgegeben hätten, um an meinem Leben, an meinem Tun und Lassen teilzuhaben. Das ist dir nie aufgegangen; mehr noch, du hast keine Gelegenheit verpaßt, um mich zu demütigen. Du wußtest, daß ich Kommunist bin, noch bevor du zum ersten Mal zu mir kamst, du wußtest es wie alle andern. Du warst vier Jahre lang dabei, wenn ich mich mit Dingen herumschlug, die mir letzten Endes gleichgültig sein konnten. Du hast zugesehen, wie ich mir den Kopf einrenne und das Leben kompliziere, obwohl ich bei meinem Beruf leben könnte wie ein ... ein roter Fürst! Aber nicht nur das, du hast gesehen, daß es sogar einen Sinn hat, daß diese Donquichotterie eine Kettenreaktion auslöst, daß sie auf eine Hoffnung hinzielt, die Inhalt und Form hat. Und doch machte es dir nichts aus, bei jeder idiotischen Gelegenheit dein abschätziges ihr auszusprechen. Ich bin vierzig Jahre alt, habe weder Glatze noch Bauch, zwanzigjährige Damen schreiben mir Liebesbriefe. Trotzdem habe ich es zustande gebracht, die Weltwirtschaftskrise, München, Okkupation, Heydrichiade, Bombenangriffe, Barrikaden, den Februar, die Prozesse, den XX. Parteikongreß und den Prager Frühling zu erleben! Die Geschichte hat ihre Spieler und ihre Zuschauer. Ich mache schon längst niemandem mehr einen Vorwurf, wenn er nur zusieht. Aber ich hasse Zuschauer, die gleichgültig Versklavung, Hungersnot und Kriege mitansehen, um dann von ihren Logen aus die Revolution zu verurteilen, weil sie nicht angeklopft und die Pantoffeln angezogen hat. Drei Jahre lang habe ich für den Sieg dieser Revolution gekämpft. Zwanzig Jahre lang für ihre Reinheit! Zwanzig Jahre dauerte ein Kampf, der schwerer war als jeder andere, denn hier lag plötzlich nicht mehr Graben gegen Graben, hier hatten die Gegner die gleiche Vergangenheit, dieselbe Sprache, dasselbe Parteibuch in der Tasche. Zwanzig Jahre lang dauerte der Konflikt der Kommunisten mit Kommunisten, der Kampf um das endgültige Gesicht der Revolution – ein Streit, in dem unsere Genossen an der Macht nicht selten als schlagendstes Argument zum Strang griffen. Wir nahmen diese Konfrontation an und haben dabei gesiegt. Als wir endlich den festen Punkt erreichten, für uns, und vor allem für euch, da hebt ihr wieder einmal eure sauberen Hände und nennt uns alle ohne Unterschied: ihr! Vier Jahre lagst du jede Nacht in meinem Arm, vier Jahre hast du allein in mir wie in einem Buch gelesen, weil ich dich liebte, weil ich wollte, daß du mich verstehst. Nach vier Jahren sind wir uns fremder als am Anfang. Die Politik liegt auch im Bett zwischen uns wie ein blankes Schwert, und du legst sie dorthin. Du machst mich verantwortlich dafür, daß es kein Kalbfleisch gibt, daß wir schlechte Schuhe machen, daß du nicht in der Welt umherreisen kannst, wann und wohin du Lust hast. Die aufgegrabenen Straßen, die fallenden Gesimse, die langweiligen Zeitungen, die feigen Abgeordneten und die allmächtige Polizei, alles buchst du auf mein Konto. Ich hebe den hingeworfenen Handschuh auf, und das zwingt mich, noch mehr von meiner Arbeit abzuschweifen, mich um Dinge zu kümmern, die mich letzten Endes nichts angehen. Dann endlich einmal kommt der Tag, kommt die Woche, die Zeit, da diese zwanzig Jahre etwas abwerfen, da das Leben wieder gelebt werden kann. Und in diesem Augenblick stehst du, um die es mir ging, gelangweilt und angewidert in deiner Loge auf und verkündest dein Gleichnis von der blöden Jalousie!

Es überraschte mich, daß ich weder Zorn noch Bedauern empfand. Plötzlich begriff ich, daß es nur Trotz war, was mich bei ihr gehalten hatte. Ich hatte ihr beweisen wollen, daß ich recht hatte. Jetzt war es geschehen. Ich war wieder frei, frei wie mein Land. Es hatte seinen festen Punkt gefunden. Auch ich hatte ihn gefunden.

– Wir gehen auseinander! Diesmal wirklich. Ich kaufe dir ein Flugbillett, oder wenn du willst, kannst du mit meinem Wagen zurückkehren. Ich will endlich meine Ruhe haben von der Politik, von dir, von allem. Ich will zum ersten Mal im Leben richtige Ferien haben, Ferien vom Leben. Wenn ich heimkomme, mach’ ich einen ganz neuen Anfang. Das wird meine zweite Halbzeit.

– Du hast recht, sagte sie. Nimm meine Koffer heraus und halte dich nicht weiter auf.

– Vielleicht muß ich doch zuerst deine Abreise regeln.

– Warum soll ich abreisen? Mir gefällt’s hier.

– Das ist doch Unsinn. Du kannst ja keine einzige Sprache.

– Wozu hätte ich sie lernen sollen? Dank euch bin ich in einem Land aufgewachsen, von wo man bestenfalls in die Slowakei fahren durfte.

– Wenn ich nicht irre, hast du in den letzten drei Jahren halb Europa bereist.

– Ja. Mit dir.

– Schönen Dank für deine Aufrichtigkeit. Zum Glück weißt du, daß du jetzt auch ohne mich reisen kannst. Nichts hindert dich also, nach Hause zurückzukehren und endlich jemanden nach deinem Geschmack zu finden.

– Fällt mir gar nicht ein, sagte sie. Ich war doch nur deinetwegen immer wieder zurückgegangen. Zwar begreif ich es immer weniger, aber vielleicht war es tatsächlich so, daß ich dich liebte. Du hast mich interessiert, vielleicht gerade weil du einer von ihnen warst. Als du mich zu unserem ersten Rendezvous batest, war mir nicht eben wohl beim Gedanken, was meine Eltern, Verwandten, Mitschüler dazu sagen würden. Du gehörtest zu denen, die wir haßten. In der Schule lernten wir deine Gedichte über Gottwald, über die Partei, über unsere großen Befreier. Wir stritten darüber, ob du sie aus Schwachsinn oder des Geldes wegen schriebst. Ich wollte das feststellen. Besonders weil du nicht gerade schwachsinnig aussahst. Ich wollte wissen, wie ihr wirklich seid. Auch deshalb bin ich wieder zu dir gekommen. Was für ein Schreck, als ich sah, daß du tatsächlich an all das glaubst. Aber auch in dir blitzte manchmal etwas Menschliches auf. Ich habe mir viel Mühe gegeben, es in dir zu erwecken. Ich wollte, daß du begreifst, was wir von euch denken. Du hast das auf deine Weise begriffen. Versuchtest, mich zu überzeugen. Ich mußte mich mit Leuten hinsetzen, die unerträglich langweilig waren, du hast mich zu Versammlungen mitgeschleift, die mir sinn- und zwecklos schienen, immer hast du hartnäckig für etwas gekämpft, das im Grunde lächerlich war. In zwanzig Jahren habt ihr einen ungeheuren Sieg errungen: ihr habt uns glorreich dorthin gebracht, wo wir schon vor zwanzig Jahren waren. Und erwartet sogar, daß wir euch für die schöne Aussicht danken. Kehr allein zurück, mich interessiert sie nicht. Wir haben euch zu gut kennengelernt, um glauben zu können, daß wir sie noch je erleben werden. Fahr und sorg dich nicht, ich gehe hier nicht verloren. Ich hab es satt, das Leben im Käfig. Und schließlich bin ich glücklicherweise eine Frau. Fahr ruhig, ich garantiere dir, daß ich auch ohne dich spätestens am Abend in Rom bin, in einer Woche verlobt und in einem Monat verheiratet – nicht nur reich, sondern auch aus Liebe. Euretwegen haben wir noch einen Vorteil. Damit wir unsere Herzen ganz der Weltrevolution geben, habt ihr uns schon in der Schule verheimlicht, daß wir ein Vaterland haben. Es galt als sträflich dumm, die Nationalhymne zu singen oder die Fahne zu hissen, wenn nicht die Fahnen unserer Brüder daneben wehten und ihre Hymnen miterklangen. Ihr habt uns gelehrt, was der Erste Sekretär der mongolischen Partei über die Schafzucht sagte, aber ihr habt uns verheimlicht, daß der erste Präsident unseres Landes ein Philosoph war. Ihr habt das Haus, das Wladimir lljitsch Lenin einmal zufällig aufsuchte, in ein Museum verwandelt, aber ihr ließt uns unwissend am Haus vorbeigehen, wo Franz Kafka geboren wurde und schrieb. Statt zur Gruft der böhmischen Könige habt ihr uns zur einbalsamierten Leiche Klement Gottwalds geführt. Ein paar Jahre später habt ihr sie mit der scheltenden Bemerkung verbrannt, daß es sich um ein typisches Produkt des Personenkults gehandelt habe. Als ob er sich selbst einbalsamiert hätte. Dann brach die Zeit der Führer an, die nicht einmal eine Persönlichkeit hatten. Kein Wunder, daß ihr das Staatswappen abändern und die nationalen Traditionen verleugnen mußtet, um den Unterschied zu vertuschen. Ihr habt darauf bestanden, daß wir reine Internationalisten werden. Das hat uns viel Mühe gekostet, aber es hat sich gelohnt. Wir konnten unsere sentimentalen Fesseln abstreifen. Jetzt können wir Prag gegen jede Stadt austauschen und büßen nicht mehr ein als ein paar schöne Portale, die man überall finden kann. Wir können Hymne, Fahne und Sprache wechseln, ohne mehr zu verlieren als einige leere Symbole, die man in der ganzen Welt haben kann. Niemand hat uns Geschichte und Tradition eingeprägt. Wir können das Vaterland wechseln, wie man aus einer Tram in die andere umsteigt. Ich bin nicht sicher, ob ihr das gerade wolltet, aber Tatsache ist, daß ihr es erreicht habt. Heute sehe ich, daß es nicht einmal schwer ist, dich zu verlieren. Wenn du in der Gasse da drüben verschwindest, werde ich das Gefühl haben, du seiest nie gewesen.

Das genügte mir. Ich stand auf und legte ihren Paß auf den Tisch. Dann ging ich zum Wagen, holte ihren Koffer heraus, ihre Handtasche, ihre hier und dort verstauten kleinen Sachen. All das legte ich auf das glühende Pflaster und schlug hinter mir die Tür zu. Der Wagen glich einem Backofen. Ich öffnete schnell alle vier Fenster und startete. Noch einmal wandte ich mich nach ihr um. Sie saß regungslos hinter den beiden Gläsern, allein auf der riesigen Bühne zwischen dem Palazzo dei Priori und dem Dom, die ich nun nach meinem letzten Auftritt verlasse. Jetzt wußte ich es bereits sicher, daß ich es fertigbrächte. Sie war fremd und fern wie die Liebschaften meiner Jugend, ebenso unwirklich und unglaubhaft. In mir blieb weder Liebe noch Verantwortungsgefühl zurück. Das wollte sie übrigens gar nicht. Sie gehörte schon einer anderen Welt an. Sie hatte ihr immer gehört, nur meine ewige Naivität hatte mir das Gegenteil eingeredet.

Ich lockerte die Bremse. Der Wagen kam auf der schrägen Fläche allmählich ins Rollen. Im Rückspiegel erschienen noch einmal die bunten Tische. Dann öffnete sich die gegenüberliegende Gasse. Nichts rührte sich in mir. Im Gegenteil. Ich begann über die jungen schönen Damen nachzudenken, denen ich übermorgen im augustwarmen Prag begegnen würde. Über die fünfzig, die alles wegwerfen würden, um an meinem ganz und gar neuen Leben teilzunehmen.

Der Schweiß brach in Strömen aus mir heraus, aber er war mir zum ersten Mal nicht unangenehm. Die Sonnenglut reinigte wie eine Sauna. Die geistige Vorbereitung war tadellos verlaufen. Ich konnte es also wirklich versuchen.

– Na also, sagte ich, auf deine Befreiung vom Vaterland und auf meine von dir!

Sie trank mir zu. Ich stand auf und legte ihren Paß auf den Tisch.

– Vielleicht nützt er dir noch eine Weile.

Eben erhob ich mich und nahm meine Kräfte zusammen, um den Wagen in geradem Gang zu erreichen, als eine unheimliche Stimme ertönte. Es war ein langgezogenes Geheul, vom Echo verstärkt.

Aus der mittelalterlichen Kulisse kam durch einen steinernen Torweg ein braungebrannter Mann mit einem Stoß Zeitungen auf die Bühne gelaufen. Als er fast bei mir war, rief er nochmals mit meckernder Stimme:

– Cecoslovacchia è occupata!

Auf dem riesigen Blatt Papier, das er direkt vor meine Augen hielt, sah ich die vertrauten Grenzkonturen, von allen Seiten durchbohrt von den Pfeilen militärischer Operationen. In einer Großaufnahme zielte die Kanone eines Panzers aus der Ecke mitten hinein.

Ich vergegenwärtigte mir mit Erleichterung, daß ich betrunken war. Manchmal kommt es vor, daß ich nach Alkoholgenuß einschlafe und dann öfter als sonst meine grotesk-absurden Träume habe. Da hörte ich einen seltsamen Laut und wandte mich um.

Sie weinte.

Ich sah mir den Panzer genauer an.

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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