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14. II. 45

Praha

Als die Sirenen aufheulten, träumte mir von A. Ich versuchte, ihr graues Wintermäntelchen aufzuknöpfen, aber meine Finger zitterten, und die Knöpfe wucherten mehr und mehr.

Auf die Vorwarnung folgte unmittelbar der Alarm. Ich zog die Decke über den Kopf, wollte weiter aufknöpfen, aber da war Mutter schon im Zimmer. Wir kleideten uns schnell an, machten die Fenster auf, damit die Druckwelle sie nicht zerbrach, und nahmen unsere Fliegeralarmkoffer. Im dunklen Treppenhaus hörte man Schritte, Stimmen und das Weinen von Kindern.

Gestern noch ging niemand in den Keller. Nachts im Bett hörten wir ohne Angst die alliierten Bomberverbände über der Stadt kreuzen, tags sahen wir sogar zu. Die entfernten Fronten, auf die wir so gewartet hatten, waren plötzlich zum Greifen nahe. Die kleinen glitzernden Punkte hinterließen am Himmel weiße Spinnweben kondensierten Wassers. Wir waren da oben mit diesen Männern, die an unserer Statt auf Deutschland einhämmerten. Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Heute mittag fielen Bomben auf Prag. Auf Brücken, Plätze, Wohnhäuser. Ich habe es gesehen! Ich ging über den Hügel des Letná-Parkes in die Schule. In der Wintersonne sahen die Flugzeuge aus wie Weihnachtsschmuck. Ich wunderte mich noch, woher diese lustigen Sprühkerzen dort unten in der Stadt plötzlich kamen. Da erst heulten die Sirenen auf, und gleich darauf übertönte sie ein dumpfer, schrecklicher, dröhnender Lärm.

Dann wurde mir bewußt, daß ich zusehe, wie Menschen sterben. Eine lange feurige Wunde zerschnitt Prag von Smíchov bis Vinohrady.

Vinohrady! Ich warf die Schulmappe mit den Lehrbüchern in den Schnee und rannte wie von Sinnen hinunter, über die Brücke, durch die Straßen. Feuerwehrspritzen und Ambulanzen überholten mich. Die Schwerin-Straße war schon vom Nationalmuseum an von der Polizei gesperrt.

– Laßt mich durch! schrie ich, laßt mich zu ihr!

Sie ließen mich. In der Straße lagerte der Staub wie schwarzer Nebel. Der Mittag wurde zur Mitternacht voll Brand und Geschrei. Ich ging am Rundfunkgebäude vorbei – wie durch ein Wunder stand es noch – und taumelte wie ein Blinder in die Mánes-Gasse.

Ihr Haus war unbeschädigt. Trotzdem trommelte ich verzweifelt an das Tor. Ich vergaß die Klingel völlig. Sie öffnete mir, noch im grauen Wintermantel, so wie sie gerade aus der Schule gekommen war. Sie zitterte, war bleich, unfähig, etwas zu sagen. Ich nahm sie an der Hand und führte sie planlos durch die Küche ins Zimmer. Dort umarmte ich sie.

– Ich liebe dich! Ich geb’ dich nicht her!

Was ich seit dem Sommer nicht gewagt hatte, war plötzlich möglich. Wir fielen auf das Bett und küßten uns. Ich streichelte sie, wie ich es immer gewollt hatte, und spürte den starken und rauhen Stoff überhaupt nicht.

Nach einer Weile eilten ihre Eltern herbei.

Und erst dann, in der Nacht, erst im Traum begann ich die endlose Reihe der Knöpfe zu öffnen, und ich gebe nicht auf, bevor ich nicht den letzten aufgeknöpft habe.

Der Kellerraum ist durch Holzlatten geteilt. Jede der zwanzig Familien hat hier ihr Abteil. Wie die übrigen haben auch wir schon im Herbst die Kohle in die Ecke geschaufelt. Wir haben hier einen alten Lehnstuhl von Oma, zwei Stühle und ein Tischchen. Mutter strickt beim Schein einer Kerze. So sehe ich sie seit meiner Kindheit. Als Vater arbeitslos war, mußte sie uns ernähren. Ich half ihr, wenn sie den Kaufmannsdamen in den Nachbarvierteln Pullover verkaufte. Nicht hier. Sie wollte nicht, daß man in ihrer Umgebung wußte, wie es der Bankdirektorstochter, die aus Liebe geheiratet hatte, ergangen war. Bezahlt wurde meistens mit Fleisch, Butter und Zucker. Manchmal weinte Mutter, wenn man sie betrog. Oder wenn man sie von oben herab behandelte. Wenn sie Geld bekam, kaufte sie mir Linzertorte. Wenn der Krieg je enden soll und ich Geld habe, fahre ich mit ihr nach Linz. Linz ist für mich wie ein Paradies.

Sie sieht mich schreiben und sagt:

– Verdirb dir nicht die Augen!

– Du verdirbst sie dir auch!

– Aber du mußt weiter sehen!

Hinter den Latten bei den Nachbarn bewegt sich der Schatten meines Vaters. Ich höre Vater flüstern. Ich weiß genau, daß er Herrn Jankovec die Abendmeldungen aus London und Moskau weitersagt. Vater ist der gescheiteste Mensch, den ich kenne. Er spricht sieben Sprachen. Ich werde nie begreifen, wie man ihn zwei Jahre ohne Arbeit lassen konnte. Als ich ihn einmal danach fragte, lächelte er:

– Man hat entweder Geld oder Überzeugung.

Er hat sicher alle Bücher gelesen, die es überhaupt gibt. Und er ist mutig. Aber darüber darf ich jetzt selbst hier nicht schreiben. Erst später einmal. Vielleicht.

Sie kommen geflogen. Der ganze Keller ist jetzt still. Immer näher kommt dieses Summen, das alles durchdringt. Jetzt böllert schon die Flak. Die Fenster klirren. Mutter strickt weiter, aber ich sehe, daß sie anderswohin schaut, in eine schrecklich weite Ferne. Keiner von uns will zeigen, daß er Angst hat. Oder habe nur ich Angst? Ja, ich fürchte mich. Ich sehe immerfort diese lustigen farbigen Sprühkerzen und den schwarzen Nebel nachher. Vielleicht fällt in einer Weile eine Bombe auch auf unser Haus. Auch darum beginne ich dieses Tagebuch.

Ich werde erst siebzehn Jahre alt. Von allem, was es in der Welt gibt, kenne ich nur Krieg, Hunger und Furcht. Die Menschen haben Ozeane überflogen, den Nordpol erobert, wichtige Arzneien entdeckt, so wundervolle Bücher geschrieben wie den «Cyrano de Bergerac», den «Krieg mit den Molchen», den «Kurier des Zaren». Und ich habe noch nichts, gar nichts zustande gebracht. Nichts als das eine:

Daß ich A. geliebt, am stärksten geliebt habe, sie geliebt habe, wie es nur möglich ist. Mehr werde ich wohl kaum je können, auch wenn ich wie durch ein Wunder diese Nacht überleben sollte. Und wenn nicht? Wenn nicht, so gräbt vielleicht jemand mein Tagebuch mit den drei beschriebenen Blättern aus, auf denen mein ganzes Leben Platz hat, vielleicht gräbt er es aus, vielleicht findet er dich, vielleicht gibt er es dir.

Dann erinnere dich von Zeit zu Zeit an den Tag, da zum ersten Mal Bomben auf Prag fielen, erinnere dich und setz mir die Knöpfe deines Wintermantels ins Grab, meine Liebe, meine erste und letzte Liebe!

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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