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21.Januar 1968

(aus dem Tagebuch des Schriftstellers PK)

Praha

Draußen vor den Fenstern leuchtet in der Wintersonne die Burg, durch das Matthias-Tor strömt der sonntägliche Korso, es ist eine Sünde, zu Hause zu sitzen, ich habe Hunger wie ein Wolf, aber ich kann mich nicht von meiner Lektüre losreißen.

Zweitausend hektographierte Seiten: das Protokoll der Dezember- und Januartagung des ZK der KPČ, das ich noch heute zurückgeben muß.

Ich weiß überhaupt nicht, was ich davon denken soll! Es ist unendlich weniger, als nötig war. Aber es ist unendlich mehr, als man von ihnen erwarten konnte.

Waren sie sich überhaupt bewußt, was sie tun? Oder halte ich sie einmal mehr zu etwas fähig, das ihnen überhaupt nicht in den Sinn kam?

Wenn man so liest, einen nach dem andern, und sieht, wie sie nahezu alle von der unerwarteten Situation nach Jahren gezwungen wurden, den tatsächlichen Zustand ihres Geistes zu offenbaren, wird man sich erst in vollem Umfang der katastrophalen Folgen des stalinistischen Parteimodells bewußt.

Nicht wenige von ihnen könnten in diesem Land, wo Sechzehnjährige einen Automotor reparieren und Putzfrauen die Entwicklung im Nahen Osten analysieren, unter normalen Umständen nicht einmal eine Straßenbahn führen.

Der Rest hat in rührendem Einvernehmen mit den andern noch vor vier Monaten, als Vergeltung für den Schriftstellerkongreß, die «Literární noviny» liquidiert und drei aufrichtige, hochgebildete Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen.

Mit ihnen, oder besser durch sie – altverdienten Apparatleuten, aber auch unverfälschten Universitätsprofessoren –, hat für volle zwölf Jahre ein Mann regiert, den eine geradezu außerordentliche Durchschnittlichkeit sämtlicher Maßstäbe kennzeichnet, mit denen sich das Phänomen des Menschen auflösen läßt. Alljährlich, nach dem Abschluß des Umzugs am Ersten Mai, hielt er ein Extempore, das der Rundfunk in die entferntesten Weiler übertrug; diese gehören zum goldenen Grundstock aller Tonbandsammler.

Ich selbst habe mir oft zur Ergötzung des Geistes die Euphorie, mit der von der Tribüne her den Massen die berühmte Botschaft zuteil wurde, vorgespielt: – Es wird Fleisch geben, Genossinnen, Fleisch wird es geben!

Ich stöbere meine Papiere durch, um die Notizen über seine Begegnung mit tschechischen und slowakischen Schriftstellern im ZK-Gebäude am 24. 1. 1963 zu finden. Hier sind einige der staatsmännischen Gedanken, die heute fast auf den Tag genau fünf Jahre alt werden!

«Die ‹Literární noviny› mischten sich in Bereiche ein, für die ihnen die fachliche Qualifikation fehlt – so in die Ökonomie oder die Politik –, anstatt eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Ideologie des Verfalls in der Kunst zu spielen, wie die Partei sie von ihnen erwartete, als sie sie bewilligte.»

Seine eigene fachliche Qualifikation als Partei- und Staatschef stellt er sogleich mit weiteren Aussprüchen unter Beweis:

«Wir waren imstande, das Plansoll für das Jahr 1962 zu erfüllen und den Start ins Jahr 1970 zu vollziehen, aber da kam uns der Winter dazwischen.»

«Wir haben uns entschlossen, den Zuwachs der Landwirtschaftsproduktion für das laufende Jahr kühn um 6½% zu erhöhen – auch wenn wir das nicht erfüllen sollten!»

«Wir hatten eine Metzgerei für 800 Konsumenten geplant, nur sind es jetzt deren 3500, die stehen Schlange, und dann sieht das aus, als gäbe es kein Fleisch!»

Für jeden, der weiß, daß die Minister vor jeder Entscheidung den zuständigen ZK-Referenten im Sekretariat konsultieren müssen, daß jede Personalveränderung von Novotný höchstpersönlich durchgeführt wird und daß es keinen Bereich gibt, in den sein durchdringender Geist nicht eingreift, klingt der Stoßseufzer geradezu sensationell:

«Ihr könntet sagen: warum habt ihr die unrichtige Dezentralisierung zugelassen, den Verfall der Dienstleistungen, das sinkende Leistungsniveau, warum habt ihr zugelassen, daß die Regierung nicht regierte, warum habt ihr nicht eingegriffen, ihr habt es doch gemeinsam gemacht! Wir haben eingegriffen, Genossen, aber die Regierung hat das nicht respektiert. Eine Reihe ihrer Mitglieder konnte physisch nicht mehr mit, der Premierminister selbst kann keine Treppen steigen und nicht einmal sitzen!»

Er hat das Gesicht eines redlichen Genius, der unausgesetzt von seinen nichtswürdigen Mitarbeitern hintergangen wird.

«Ich bin kein Hetzer, ich bin kein Jugoslawe, Gott behüte, aber was hätte es uns ausgemacht, wenn wir die Tabakläden und Kleinhändler ungeschoren gelassen hätten?»

Denen, die vielleicht den Legenden über die ansehnliche Zahl seiner Leibwächter Gehör schenken wollten, sei die folgende Mär zugedacht, die die Erinnerung an den guten Volkskönig Wenzel auffrischt:

«Wir spazieren so, meine Frau und ich, zu Weihnachten durch Prag, kommen in ein Geschäft, und ich sehe: junge Menschen fragen vergebens nach den Uhren, die gerade billiger geworden sind. Ich frage, und man sagt mir, daß sie in der ganzen Stadt nicht zu haben sind. Da habe ich Weisung gegeben, sie augenblicklich aus Bratislava herzuholen!»

Mit welch seligmachender Unschuld er das vor unseren slowakischen Kollegen sagt! Aber das Erschütterndste erwartet sie erst:

«Als wir die bourgeoisen Nationalisten durch Amnestieerlaß aus dem Kriminal entließen, sagte ich voraus, daß eine zweite Phase kommen werde. Und schon ist sie da. Husák legt Berufung ein, und wir haben hier acht Resolutionen aus der Slowakei, die gar nicht versuchen, die Dinge anders zu formulieren als er. Ich habe Husák die Stelle eines Vize-Finanzministers angeboten. Ich bin kein politischer Neuling, ich habe gewußt, daß er ablehnen wird. Und dann habe ich also gesagt: Genug! Schluß! Wir lassen uns nicht das Wasser trüben! Wir machen hinter der Vergangenheit ein für allemal einen Punkt und treten zum Angriff an. Da hättet ihr gestaunt, wie das ZK applaudierte!»

Die letzten Seiten meiner Anmerkungen sind mit Zeichnungen gefüllt, die den fortschreitenden Verfall meiner Persönlichkeit dokumentieren. Es ist nur ein Detail, aber sehr charakteristisch: Während des sieben Stunden langen Treffens fiel es ihm nicht ein, daß wir durstig oder hungrig sein könnten, weil er es nicht war.

Und doch errang gerade dieser Mann kampflos die beiden höchsten Funktionen in Partei und Staat, wurde Oberbefehlshaber der Armee und des Sicherheitsdienstes, verteilte Ämter und Würden, ließ Strafverfahren einstellen, ernannte Abgeordnete, verbot Filme, und sein Wille galt mehr als das Gesetz.

Er war der erste tschechoslowakische Präsident, der weder ein vielbändiges Lebenswerk noch überhaupt einen einzigen bemerkenswerten Gedanken oder irgendeine Tat hinterlassen hat. Auch die ihm zutiefst ergeben waren, zitierten, wenn sie seine historische Rolle kennzeichnen wollten, gerührt die Umfrage eines westlichen Frauenmagazins, demzufolge Novotný neben John F. Kennedy der schönste Staatsmann der Gegenwart war.

Die Erklärung??

Mit einer flachen Vergangenheit, die ihn durch nichts den anerkannten Volksführern zuweist, wurde er wie eine Venus aus dem politischen Schaum der fünfziger Jahre geboren, weil ihn die verfeindeten und einander gegenseitig verdächtigenden Drahtzieher der politischen Prozesse für den einzigen hielten, der zu einer selbständigen Regierung unfähig war. Zudem war er selbst vielzusehr in die Prozesse verwickelt, um sie gegen seine Rivalen auszunützen.

Zum Monarchen wurde er schließlich trotzdem erkoren, weil er sich programmatisch auf alle Unfähigen und Kompromittierten im Staats- und Parteiapparat stützte, deren Ehre Ergebenheit hieß. Seine zeitweiligen Zornausbrüche gegen besonders schwere Verstöße waren kein Anlaß zu Revolten, denn sie bedrohten das Geschlossene System nie. Außerdem war bald klar, daß er sich durch seine eigene Ergebenheit das absolute Vertrauen des Großen Verbündeten gesichert hatte. Dieser wandte sich in allen Dingen direkt an ihn.

Im Lauf der Jahre kam auf diese Weise im einst modernen europäischen Land ein regelrechtes Patriarchat zustande. Nach dem Vorbild Karls IV., Gründers der Karlsbrücke, des Karlsplatzes, des Karolineums und des Karlsteins, erhielt Antonín Novotný den Spitznamen Taťka – Papachen –, wie er übrigens gern von seiner Gattin, auch bei Staatsempfängen, genannt wurde.

Das ZK wurde seinerzeit von Taťka auf mehr oder weniger persönliche Weise zusammengestellt, wobei er der Öffentlichkeit einige der allernötigsten Konzessionen einräumte, und nun hat dieses ZK dem allmächtigen Ohnmächtigen die entscheidenden Funktionen entzogen und kühn einen Erneuerungsprozeß proklamiert.

Ein Irrtum? Ein Trick? Oder eine Redensart, um die Palastrevolution zu garnieren?

Wäre es verfehlt, an diese Leute nochmals die Frage des ZK-Mitgliedes František Vodsloň zu richten, die gleich nach der jongleurhaften Einleitungsansprache Novotnýs – er hatte noch ein letztes Mal versucht, die Illusion der Normalität hervorzurufen – den Konflikt auslöste?

– Genossen, wofür haltet ihr uns eigentlich?

Zugegeben, aus dem Durcheinander von Blabla und Hintertreppenbeleidigungen erheben sich scharf umrissen die Diskussionsbeiträge Dubčeks, Smrkovskýs, Slavíks, Mináčs, Fierlingers, Indras, Biľaks und vor allem natürlich Šiks, der bis zum eigentlichen Wesen der Krise vorstößt. Danach ließe sich das Programm einer Rettungsaktion in vier Begriffen ausdrücken:

Föderalisierung, Rehabilitierung, Demokratisierung und Neues Ökonomisches Modell.

Aber wie wollen sie das verwirklichen, wenn nur Šik allein die Situation der Partei und des Landes als kritisch bezeichnet hat und fast alle übrigen die ganzen Tage lang hartnäckig versuchten, ihm das auszureden?

Mit welchem Wunder wollen sie es durchsetzen, wenn sie nicht durchgesetzt haben, daß das alles in der Resolution steht, wenn sie es zugelassen haben, daß sich auch im Kommuniqué über diese bedeutsame Tagung die obligaten verlogenen Phrasen einschließlich der sattsam bekannten «völligen Einheit und Geschlossenheit» abermals wiederholen? Wie wollen sie das abgestumpfte und ganz und gar mißtrauische Volk für einen solchen Prozeß gewinnen, wenn sie ihm nicht einmal mit einem Augenzwinkern andeuten, wohin es für sie eigentlich geht? Oder wollen sie das alles wieder allein ausfechten?

Mein Gott, wann wird sich in der Tschechoslowakei endlich ein mittelmäßig erleuchteter Politiker finden, der aus der Geschichte lernt, daß dieses seltsame Land bereitwillig seine letzten Hosen dem opfert, der ihm die bittere Wahrheit sagt??

P. S. Gibt es den schon? Eben habe ich zu meinem Erstaunen in der heutigen «Práce» den Leitartikel Josef Smrkovskýs «Worum geht es heute?» entdeckt. Er greift als erster über die Resolution hinaus:

«Es handelt sich nicht nur um eine rein personelle Angelegenheit, sondern um alles, was jeden Kommunisten und jeden Mitbürger interessiert und beunruhigt. Die personelle Lösung im Bereich der höchsten Funktion ist der erste Schritt. Wir wollen so handeln, daß es keinen Unterschied zwischen unseren Worten und unseren Taten gibt. Und Realisten sein. Nichts Unerfüllbares versprechen, dem Volk die Wahrheit sagen, ob sie angenehm ist oder nicht, und gemeinsam mit ihm dann alles entscheiden. Die Deformationen des Sozialismus, zu denen es in der Vergangenheit gekommen ist, bis in die letzten Konsequenzen liquidieren und wiedergutmachen; und nicht zulassen, daß es zu neuen kommt.»

Wenn das tatsächlich eine Chance ist, dann sei uns Marx gnädig, denn es ist mit aller Wahrscheinlichkeit die letzte!

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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