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29. Februar 1968

(aus dem Tagebuch des Schriftstellers PK)

Praha

Frühmorgens auf dem Vyšehrad-Friedhof Dieses Jahr fehlt er mir doppelt. Wer hat das Glück, den eigenen Vater zum Freund zu haben ... Oder bin ich dadurch im Gegenteil um meinen wichtigsten Opponenten gebracht?

Ich weiß es nicht. Ich stelle mir vor, mit welcher Erregung er diesen Winter erlebt hätte. Jedenfalls würde er heute abend mit allem Pomp seinen neunzehnten Geburtstag feiern!

Welch ein Glück, daß der diesjährige Februar einen Tag mehr hat. Komisch: Voriges Jahr um diese Zeit flossen ganze lange Wochen, die sich ins Leben des Landes ungefähr wie ins Gedächtnis überwinternder Hummeln eingeschrieben haben.

Wenn wir uns nur nicht einmal nach ihnen zurücksehnen!

Die ersten öffentlich vorgebrachten Überlegungen über das Januarplenum finden stürmischen Widerhall. Vor allem das Fernseh-Interview Professor Goldstückers, der den Terminus «aufgeklärter Sozialismus» gebrauchte.

In Prag zirkuliert ein vervielfältigter Brief, unterschrieben von fünf alten Parteimitgliedern mit einem gewissen Genossen Josef Jodas an der Spitze.

Vierzehn dicht beschriebene Seiten: ein wahres Requiem für Antonín Novotný, der «nunmehr der einzige geblieben ist, der das Erbe der Gottwaldschen Parteiführung verteidigt, gegen die Reaktion kämpft und für eine bedingungslose Orientierung nach der Sowjetunion eintritt». Schon der Sekretär für ideologische Fragen, Jiří Hendrych, genannt Der Zweite, der noch im Sommer den Schriftstellerkongreß so hart manipulierte, wird in dem Werk als «Mann mit zwei Gesichtern» charakterisiert, der «in der Ideologie die Toleranz vom Kommunistischen Manifest bis zu ‹Mein Kampf› deklariert hat». Mit ihm angefangen, werden die ZK-Mitglieder einer nach dem andern persönlich des «ideologischen Marasmus» beschuldigt.

«Worum ging es eigentlich auf der Dezember- und Januartagung des ZK? Der Gestank ist an die Oberfläche gestiegen. Es ist die sogenannte Theorie der Elite. Jeder von uns erinnert sich, daß für einen Kommunisten das, was Elite genannt wurde, immer lächerlich und verächtlich war. Das waren die Preiß, die Petschek, Baťa, Beran, Göring, Himmler, Heydrich und ähnliche Ganoven. Zu dieser Elite bekennt sich nun lautstark eine Gruppe der Intelligenz. An ihrer Spitze stehen einige Schriftsteller, Redakteure und Professoren. Ihre Theorie ist die folgende: Es gibt eine Elite der Macht und eine Elite des Einflusses. Die Kommunistische Partei ist eine Elite der Macht, aber sie hat keinen Einfluß. Die Schriftsteller, Journalisten und Künstler sind eine Elite des Einflusses, aber haben keine Macht. Und eben am 5. Januar ging es im ZK darum, daß die Elite des Einflusses, d. h. unsere Bourgeoisie und Neobourgeoisie, auch die Macht haben soll. Damit unsere Reaktion nicht nur eine Elite des Einflusses, sondern auch eine Elite der Macht wird, muß sie die Partei beherrschen. Und das ist ihr mit Hilfe der ZK-Sekretäre gegen den Genossen Novotný gelungen. Das ist das Resultat der Tagung und kein anderes!»

Mit zunehmender Seitenzahl wird die Argumentation immer subtiler:

«Dieser ganze Zeitabschnitt wird von den Schriftstellern, Dichtern und Künstlern beherrscht, die sich in den Perversitäten des Westens und des Hitlerfaschismus bespiegeln. Schließlich haben sie das auch bewiesen, indem sie an die Spitze des Verbandes tschechoslowakischer Schriftsteller den Germanisten Eduard Goldstücker stellten, dessen Herz und Seele in Westdeutschland weilen ...»

«Smrkovský und Hübl haben in der Gewerkschaftszeitung ‹Práce› zwei Beiträge publiziert, von denen besonders derjenige Hübls von Gemeinheiten strotzt, deren nur ein Professor fähig ist ...»

Durch das Dokument defilieren Dutzende Namen von Politikern, Ökonomen, Philosophen, Publizisten, Künstlern. Sie werden der Öffentlichkeit mit ständig gesteigerten Epitheta vorgestellt: Provokateur, Liquidator, Pseudointelligenzler, Gauner, Komplize. Und hinter all dem klingt aus der Wahl der Namen und des Wortapparates deutlich eine Anklage, die unmittelbar aus dem Mausoleum der fünfziger Jahre stammt: Zionisten.

Fast gleichzeitig ist jedoch aus der Sicherheitsabteilung der Partei die graue Eminenz Genosse Mamula ausgeschieden, den General Prchlík ablöst, ein aufrichtiger Mann und mein Kommandant aus den Manövern von 1954.

Man kann nicht gerade sagen, daß die tschechoslowakische Bevölkerung vor Langeweile stirbt.

Zum zwanzigsten Jahrestag der Februarereignisse halten auf dem Altstädter Ring zwei Redner vor der Volksmiliz die Festansprache: Antonín Novotný und Alexander Dubček.

Jeder kann wählen ...

Den glorreichen Februar vor zwanzig Jahren habe ich im Glauben miterlebt, daß uns ein reaktionärer Putsch droht, und mit den besten Vorsätzen, früher oder später Führer der revolutionären Bewegung zu werden.

Eben jetzt, nach genau zwanzig Jahren, wurde ich mit der ersten Parteifunktion geehrt. Man hat mich zum Vorsitzenden einer Basisorganisation gewählt.

Ein etwas außerordentliches Ereignis ist das allerdings durch zwei Tatsachen: daß es sich um die Parteiorganisation des Schriftstellerverbands handelt und daß ich vorgeschlagen und gewählt wurde, obwohl die «Rüge mit Verwarnung» immer noch andauert, die mir vor knapp einem halben Jahr das ZK der Partei wegen des Schriftstellerkongresses erteilt hat.

Die Zeitungsnotiz über meine Wahl löste augenblicklich Reaktionen aus. Schon gestern nachmittag erhielt ich mit der Post einen Brief ohne Absender, der im Jodasviertel Prag 8 aufgegeben war.

Ein gewisser Genosse Morávek teilt mir darin im Namen der Arbeiterklasse mit, daß ich Zionist und Revisionist in einer Person bin. Der Genosse Morávek hat gute Nachrichten, ich sei zudem auch ein Agent des internationalen Imperialismus. Nachdem die von mir bezahlten Kreaturen den Putsch im ZK der Partei durchgeführt hätten, würde ich in Bälde Weisung erteilen, den Anschluß an Westdeutschland zu vollziehen.

Der Genosse Morávek erklärt, daß er das jedoch zusammen mit der Arbeiterklasse rechtzeitig verhindern wird, und versichert abschließend, die Laterne sei für mich schon ausgewählt.

Aber auch die Gegenseite ist nach langen Jahren zu erfreulicher Aktivität erwacht:

Heute, zwei Stunden nach Mitternacht, hat mich ein gewisser Herr Novák, wie er sich vorstellte, angerufen und sagte ungeduldig:

– Also wo willst du hängen, du rote Sau?

Ich überlegte. Dann antwortete ich ihm wahrheitsgemäß, daß ich eigentlich überhaupt nicht hängen will.

Er lachte hämisch und sagte, daß meine Meinung vielleicht zu Novotnýs Zeiten etwas bedeutet habe, aber jetzt, wenn die Freiheit einmal ausbreche, würde sich niemand mit mir unterhalten.

Inzwischen wachte ich völlig auf und fragte ihn, warum er von mir derartige Nebensächlichkeiten wissen will.

Er begann mich zu verfluchen und riet mir, nicht zu glauben, daß irgendein Trick mit Dubček uns vor einem neuen Budapest rettet. Er, Herr Novák, ist beauftragt, sich um mich zu kümmern.

Ich fragte höflich an, ob ich hinunterkommen soll oder ob er sich in meine Wohnung bemühen will.

Darauf eröffnete er mir, daß mir die Zoterei bald vergehen wird, und hängte ein, ohne sich zu verabschieden.

Nein, man kann sicherlich nicht sagen, daß das politische Geschehen in unserem Vaterland uninteressant ist. Meine persönliche Situation ist allerdings ziemlich kompliziert.

Denn sowohl Herr Novák als auch der Genosse Morávek sind offensichtlich vom gleichen Maß edler Beweggründe durchdrungen. So stellt sich mir die Frage, welchem von beiden ich den Vorrang geben soll.

Ich stelle mir vor, wie die Sache ablaufen wird, wenn zufälligerweise beide zur selben Zeit eintreffen. Der Genosse Morávek hat versprochen, mit der Arbeiterklasse zu kommen, aber auch Herr Novák hat nicht ausdrücklich gesagt, daß er mich allein besuchen will.

Vor meinem Haus werden einander wahrscheinlich zwei Menschenhaufen begegnen.

Wenn man mich fragt, muß ich selbstverständlich wahrheitsgemäß sagen, daß der Genosse Morávek sich als erster angemeldet hat. Dann kommt es nur noch darauf an, ob Herr Novák das anerkennt.

Schwieriger wird die Sache, wenn mich niemand fragt. In diesem Fall müssen beide Seiten ihre Argumente darlegen.

Herr Novák reklamiert seinen Anspruch auf mich mit der Beschuldigung, daß ich in meinen Werken die Partei glorifiziert habe.

Der Genosse Morávek wird seinen Vorrang damit begründen, daß ich in meinen Werken die Partei in den Schmutz gezerrt habe.

Herr Novák wird anführen, daß ich dem Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes angehört habe.

Der Genosse Morávek wird einwenden, daß ich dem Zentralkomitee des antikommunistischen Schriftstellerverbandes angehöre.

Herr Novák wird erklären, daß ich mich an Moskau verkauft habe.

Der Genosse Morávek wird erklären, daß ich mich an den Westen verkauft habe.

Herr Novák wird ausrufen, daß ich die Demokratie verraten habe.

Der Genosse Morávek wird ausrufen, daß ich die Revolution verraten habe.

Herr Novák wird böse.

Der Genosse Morávek wird gleichfalls böse.

Beide Haufen beginnen drohend zu murmeln. Eine allgemeine Schlägerei wird sich abzeichnen.

Dann kommt mein großer Augenblick!

Ich rufe ihnen aus dem Fenster zu, ich sei Jude.

Im selben Moment sind beide Parteien handelseins, und meine Aufknüpfung verläuft ohne weitere Schwierigkeiten in lustiger, tatkräftiger Zusammenarbeit aller.

Das beste daran wird sein, daß ich überhaupt kein Jude bin.

Doch das sage ich ihnen nicht. Ich werde mit dem herzerquickenden Gefühl das Zeitliche segnen, daß ich mich um die Einheit beider extremen Flügel unserer Gesellschaft verdient gemacht habe.

Zum Glück hat sich das Interesse unserer Gesellschaft ganz anderen Dingen zugewandt: der Winterolympiade in Grenoble, wo sich die tschechische und sowjetische Eishockeymannschaft begegneten. In der letzten Minute des Kampfes, als die ČSSR mit 5:4 führte, ging die sowjetische Mannschaft zum Powerplay über. Die Unsern vollbrachten wahre Wundertaten und haben nach 10 Jahren und 20 Niederlagen endlich gesiegt. Vor Freude hat sich die Bevölkerung betrunken. Als ich die Flasche entkorkte, drückte ich mein Erstaunen darüber aus, daß Z. die letzte Phase des Kampfes ohne sichtbare Aufregung überlebt hat.

– Vielleicht ist es Gewohnheit, sagte sie. Du hast wohl nicht gemerkt, daß sie mit uns schon seit 20 Jahren Powerplay spielen.

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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