Читать книгу Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs - Pavel Kohout - Страница 15
ОглавлениеMittwoch–Donnerstag, 21.–22. August 1968
(Fortsetzung)
Roma
Er bot uns an, bei ihm zu übernachten. Ich lehnte höflich ab. Der Satz, den er eben ausgesprochen hatte, war ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen. Und ich wollte ihm für nichts dankbar sein.
Er zuckte die Achseln und wandte sich zu ihr.
– Dann rufe ich wenigstens ein kleines Hotel an. Es liegt in der Nähe der Botschaft, und Tschechen haben dort Rabatt.
– Seien Sie so nett! sagte sie mit einem Lächeln.
Als ich mich ans Steuer setzte, fragte er:
– Was hast du vor?
– Den Papst besuchen, antwortete ich. Nur er kann mir die Absolution dafür erteilen, daß ich die nationale Tragödie verschuldet habe.
Ich war müde, schlechter Laune, und das System unbekannter Einbahnstraßen verwirrte mich. Als wir ein paar Minuten umherirrten, sagte sie:
– Ich verstehe nicht, warum wir nicht dort bleiben konnten.
– Ich dachte, daß es dir gerade heute noch unangenehmer wäre als mir.
– Warum? fragte sie. Ich habe euch nicht zugehört.
Das Hotel, das Tschechen Vergünstigungen gewährte, war ein tristes Zeugnis unserer Devisenlage. Obwohl es im Zentrum lag, gab es in den Zimmern weder Telephon noch fließendes Wasser. Neben eisernen Betten und einem alten Schrank stand hier ein Waschbecken aus Blech. Ich stellte mir in diesem verkrachten Interieur Menschen vor, die in ganz Europa bekannt sind, und ich wurde traurig. Gleich morgen früh würden wir übersiedeln. Ich warf in der Regel einen Großteil meiner Auslandshonorare in gute Hotels, weil es mir widerstrebte, unsere Misere vorzuführen.
Obwohl sie die ganzen Jahre nackt schlief und es hier heiß war wie in einem Treibhaus, zog sie ein Nachthemd an. Ich hatte überhaupt nicht geahnt, daß sie eines besaß. Sie schlief augenblicklich ein.
Ich ging zum Portier hinunter, um ein Gespräch mit Prag zu bestellen.
– Da können Sie die ganze Nacht warten, wenn Sie es überhaupt bekommen! sagte der Portier nach dem dritten Versuch in miserablem Englisch.
Der Wunsch, die Meinen zu hören, war stärker als das Schlafbedürfnis. Ich zog mein schweißdurchtränktes Hemd aus, legte mich in den Hosen aufs Bett und schaltete das Autoradio ein. Durch die schmalen Engpässe zwischen den italienischen Sendern rangen sich tschechische Laute zu mir durch und flossen immer wieder weg. Eine von den Stimmen mit einem fremdländischen Akzent, der an den Ohren riß, las monoton einen endlosen Artikel der Moskauer «Prawda»: «Die Verteidigung des Sozialismus als höchste internationale Pflicht.»
Es war eine unheimliche Sammlung gefälschter Beweise und verzerrter Zitate. Sie sollte die europäische Linke offenbar davon überzeugen, daß das brüderliche Eingreifen einen konterrevolutionären Putsch fünf Minuten vor zwölf verhindert habe. Als Argument dienten auch die Lügen heimischer Provenienz, deren Autoren von der Dubček-Führung ihrer langjährigen Parteizugehörigkeit wegen nie öffentlich verurteilt worden waren. Dank dieser politischen Naivität flogen die Lügen jetzt wie Bumerangs auf uns zurück.
«Der alte Kommunist Jodas sagte schon im Frühjahr, daß eine gewisse reaktionäre Gruppe innerhalb der Partei, die gut durchorganisiert ist und sämtliche Massenmedien beherrscht, in Fernsehen, Funk und Presse niederträchtig die Partei attackiert. Diese Gruppe, in der verschiedene reaktionäre Elemente aktiv mitwirken, führt schon seit fünf Monaten diese Kampagne, was unausweichlich mit der Vernichtung der Einheit der Partei enden wird.»
Ich drehte den Knopf weiter. Eine mir irgendwie bekannte Stimme las eine Regierungserklärung an die gesamte Bevölkerung der Tschechoslowakei:
«So ist es zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung zu einem Aggressionsakt gekommen, begangen von den verbündeten Armeen sozialistischer Länder gegen einen Staat, der von einer kommunistischen Partei geführt wird.»
Der Sinn des Textes entging mir mehr und mehr. Die Stimme faszinierte mich. Sie mußte jemandem gehören, den ich sehr gut kannte. Ich schloß die Augen und sah gleich sein Gesicht vor mir
Wenn ich den Sender Prag noch dort in der Botschaftswohnung eingestellt hätte, wären wir alle drei zusammen gewesen. Drei Musketiere nach zwanzig Jahren.
Es ging auf Mitternacht. Der Empfang besserte sich, aber die Stimme wurde durch ein merkwürdiges Knistern beeinträchtigt, das gar nicht an eine atmosphärische Störung erinnerte. Erst nach einer Weile merkte ich erstarrt, daß es sich um Feuerstöße aus Schußwaffen handelte. Trotz der tropischen Hitze erschauerte ich.
Wo spricht er? Sind sie vielleicht wieder in die Hus-Kirche übersiedelt? Woran mag er in den Pausen zwischen den Nachrichten denken, in dem provisorischen Ansageraum, durch dessen Wände das Knattern der MP-Garben dringt? An die sechs verlorenen Jahre im Untergrund des Uranbergwerkes? Wie konnte er sie überhaupt überleben?
Als wir ihn damals nach dem Krieg zu einer einzigen Nachtschicht in die Grube mitschleppten, hatte er solche Angst, daß er kreidebleich war. Was fürchtet er heute?
Seine Stimme klang jedoch ernst und ruhig.
«Mitbürger und Mitbürgerinnen, noch ist es in unserer Macht, das große Werk einer Erneuerung des Sozialismus, das wir im Januar begonnen haben, zu vollenden. Wendet gegen die Okkupanten keine Gewalt an, laßt euch nicht von jenen Kräften provozieren, die sich Beweise dafür verschaffen wollen, daß die Intervention berechtigt war. Wir machen schwere Stunden durch. Tun wir alles, um daraus mit erhobenem Kopf und geradem Rückgrat hervorzugehen!»
Aus den Nachrichten ergab sich die erschütternde Bilanz der letzten vierundzwanzig Stunden. Dubček, Smrkovský, Černík, Kriegel und weitere – vermißt. Der Präsident auf dem Hradschin isoliert. Die Republik war in diesem Augenblick ein unbewachtes Pulverfaß, das jeder zur Explosion bringen konnte. Von all den Stimmen, die das verhindern konnten, war eine einzige übrig.
Seine.
Es war geradezu phantastisch, daß er, der zehn gute Gründe hatte, sich zu Hause einzuschließen und abzuwarten, wie das alles enden würde, in der heutigen Nacht diese schwere und riskante Wacht an der nationalen Goldreserve der Vernunft und des Gewissens hielt.
Tausend Kilometer von ihm entfernt, hinter drei Staatsgrenzen, zu einer machtlosen Sicherheit verurteilt, beschloß ich, sie mit ihm zu halten ...
Der Pförtner weckte mich. Er hielt es für seine Pflicht, mir um sechs Uhr früh mitzuteilen, daß Prag sich nicht gemeldet habe. Auch die Prager Welle wurde schon von der Morgendämmerung ausgelöscht. – Komm, sagte ich zu ihr, wir müssen etwas unternehmen, sonst werden wir noch wahnsinnig.
Wir versuchten, die Ferien fortzusetzen. Sie endeten wieder, als wir auf den Steinfliesen der Vatikanbasilika, wo die Längenmaße der Kathedralen der ganzen Welt verzeichnet sind, die des St.-Veits-Doms entdeckten.
Ich schloß die Augen. Wandte mich um. Ich ging im Gedächtnis die zweihundert Schritte zurück durch die Kirchentür, über den Burghof, zum Matthias-Tor. Auf dem Hradschin-Platz, im liebenswerten Geviert der Barock- und Rokokoportale, stand eine Kette stählerner Ungeheuer. Die Kanonenläufe zielten auf die Fenster meiner Wohnung. Gegen den Hintergrund der blauen Decke, die mich seit meiner Kindheit als ein kleiner Privathimmel begleitet, strahlte zart der rosig-weiße Fayencelüster aus Karlsbad. Dann ein Donnerschlag.
In der Wölbung von San Pietro verhallte kreisend ein Glockenton. Sie kniete neben mir auf der Längenmarke des St.-Veits-Doms und betete demuts- und hingebungsvoll, wie es jemand tut, der nach Jahren in der Angst seinen vergessenen Gott sucht.
Noch ein Versuch, der Gegenwart gegen die Zeit zu entgehen. Vielleicht wird uns wenigstens für ein paar Minuten das Kolosseum herausreißen, dieser zweitausendjährige titanische Zweikampf von Menschenwerk mit der Sonnenglut! Nein ... Ich hatte ganz einfach eine hoffnungslos andere Optik. Ich sah es nur als ein deprimierendes Denkmal der Relativität und Vergänglichkeit. Um Gottes willen, wenn das große Rom untergegangen ist, welche Chance haben wir denn überhaupt gehabt?
Im antiken Inneren, an dessen feuchten Quadern noch der Todesschweiß von Menschen und Raubtieren zu haften schien, war eine scheußliche Bar mit Eisschrank, aber auch Kühle, gekühltes Coca-Cola, und vor allem gab es Zeitungen in einer verständlichen Sprache. Alle widmeten der Tschechoslowakei mehrere Seiten. Ab und zu übersetzte ich ihr daraus. Unsere Depression vertiefte sich: Erst Einzelheiten, selbst die banalsten, bewirken eine Tiefenreaktion und lähmen.
Ein Bus führte uns zurück, dem Tiber entlang. Die Ewige Stadt lief jedoch schon zum zweiten Mal an den Fenstern vorbei – ein uninteressanter, bis zum Überdruß vorgeführter Film ohne Ton und Titel.
Völlig automatisch kamen wir wieder zur Botschaft. Wir mußten unter den Unseren sein, die bekannte Sprache hören. Es war der uralte Atavismus: Verzweiflung und Hoffnung mit dem Stamm zu teilen.
Die ständige Spannung und Unsicherheit hatte dem Haufen deutliche Spuren eingeprägt. Die Frauen hatten ungeordnetes Haar, den Männern wuchsen Stoppeln. Der rehabilitierte Offizier aus Bratislava sah über Nacht wie ein Greis aus.
Man machte eben auf. Wir zwei zwängten uns ins Vestibül, zum Ansatz einer mächtigen Freitreppe, und setzten uns auf die unterste Stufe. Ein Beamter hielt eine Ansprache. Die Behörde hatte offenbar panische Angst, daß sich diese ganze Horde der Botschaft an den Hals klammere. Daraus erwuchs die Tonart der Ansprache. Die Okkupation wurde darin ein kleiner Familienstreit.
– Warum können Sie nicht zurück? rief er optimistisch. Was kann Ihnen denn passieren? Sie waren doch ganz einfach auf Urlaub! Wovor haben Sie Angst? Wer von Ihnen hat sich denn schon politisch engagiert?
Da erblickte er mich und wurde plötzlich nüchterner.
– Natürlich muß das jeder individuell bedenken ...!
Touristen umringten uns.
– Was werden Sie machen??
Eine so einfache, so grundlegende Frage. Wieso hatte ich sie mir bisher nicht gestellt? Was suche ich eigentlich in Rom? Jetzt hätte ich schon an der Grenze sein können! Warum bin ich nicht geradewegs aus Perugia dorthin gefahren? Ich war total verwirrt. Trotzdem antwortete ich mit Bestimmtheit:
– Ich will nach Hause.
Ich sah, wie sie erleichtert aufatmeten. Auch ich atmete auf. Ich wußte zwar noch nicht, ob ich konnte, aber ich wußte wenigstens schon, daß ich mußte. Ich hatte keine andere Wahl. Es gibt Situationen, in denen der Schriftsteller nur einer der Schauspieler des nationalen Schicksals ist. Sicher in Böhmen. Leider auch ich. Inmitten des Stücks die Rolle zu wechseln, damit würde man das Publikum verraten und das Gesicht für immer verlieren.
Sie reagierten spontan.
– Das wollen wir alle. Aber kommen wir hinein?
Es folgte ein langer Streit zwischen Begeisterten und Skeptikern. Die Begeisterten schlugen vor: gemeinsam zu fahren; die Wagen in Österreich zu lassen und zu Fuß die Grenze zu überschreiten; zunächst eine Delegation voranzuschicken; das Schweizerische Rote Kreuz um Geleit zu bitten; die Donau in Booten zu überqueren und unsere Grenzsoldaten zu ersuchen, uns passieren zu lassen.
Der Mann, der diesen letzten Vorschlag machte, war natürlich ein Mährer. Er begleitete uns dann noch mit seiner Familie zum Hotel. Er, seine Frau und seine Tochter hatten Bademäntel an. Das Mädchen trug eine irrsinnig lange Pappschachtel im Arm. Auch hier, im tolerant denkenden Rom, wirkten sie exzentrisch. Wir standen endlos lang vor dem Hotel, und er forderte ständig Unterstützung für seinen Gedanken.
Ich sah ihr an, daß sie müde war. Höflich fragte ich:
– Wo steht Ihr Wagen?
Man hatte ihnen den Wagen gestern in Venedig mit allen Sachen gestohlen, als sie gerade badeten. Nur die Bademäntel waren ihnen geblieben und eine riesengroße Gondel, die sie kurz zuvor als Souvenir gekauft hatten. Als sie in völliger Verzweiflung bei der Polizei anlangten, erfuhren sie, daß ihnen außer dem Wagen auch noch ihr Vaterland verlorengegangen war. Der zweite Schicksalsschlag übertraf offenbar den ersten. Als ich fragte, wie sie jetzt nach Hause kämen, antwortete er:
– Mein Gott, die Unseren müssen uns doch hineinlassen!
Die angebotene Hilfe lehnten sie ab. Es zeigte sich, daß sie das Zimmer über uns bewohnten. Die Botschaft war anscheinend doch aus ihrer Ohnmacht erwacht.
Als ich in der Hotelrezeption den Schlüssel entgegennahm, erhielt ich auch einen Brief.
«Es tut mir leid, ich wollte Dich nicht beleidigen. Ich hätte schrecklich gern mit Dir gesprochen. Wir verhandeln mit der italienischen Partei. Ich komme kurz nach Mittag zu Euch hinüber. Bleib inzwischen unbedingt da, die Sowjets sind an den Grenzen. Schönen Gruß an Dein prächtiges Weibsbild!»
Sie las es über meine Schulter hinweg.
– Geh dich hinlegen, sagte ich, ich nehme draußen einen Kaffee.
Sie legte den Schlüssel auf das Pult.
– Eigentlich habe ich Hunger. Ich geh mit dir.
Ich war zu abgestumpft, um das kommentieren zu können. Als ich mich umwenden wollte, fiel mein Blick auf einen Brief, der irgendwo in der Ecke des Concierge-Pultes hingeworfen war. Ein mir bekannter Vogel war auf den Umschlag geprägt. Ich versuchte ihn zu identifizieren und sah mit Erstaunen, daß neben ihm mein Name stand.
Ich warf das dem Concierge vor, aber er sagte, bei ihnen sei noch nie etwas verlorengegangen, der Beweis dafür sei, daß ich meinen Brief in der Hand halte.
Ich zog es vor, den Umschlag zu zerreißen. Der Vogel war ein Adler – von jener Gattung, die nur noch in Amerika vorkommt, und auch dort nur auf dem US-Staatswappen.
«Dear Sir», schrieb der Kulturattaché, «soeben haben wir für Sie eine Depesche von der State University of Iowa/State Iowa erhalten. Dank der liebenswürdigen Vermittlung Ihrer Botschaft sind wir imstande, es Ihnen unverzüglich zu übermitteln und erwarten Ihre geschätzte Antwort.»
«Dear sir comma State University of Iowa State Iowa Laedt sie ein an einem jahreskurs fuer junge schriftsteller aus der ganzen welt teilzunehmen full stop dies ist unser altes projekt comma das wir mit ruecksicht auf die fuer sie so tragischen umstaende zu beschleunigen beschlossen haben full stop reise und aufenthalt werden uebernommen von der State University of Iowa State Iowa Semicolon ebenso erhalten sie ein stipendium von dollar 4000 full stop in erwartung ihrer sofortigen nachricht yours sincerely university of Iowa State Iowa End+++»
Ich wußte überhaupt nicht, was ich tun oder sagen sollte.
– Siehst du, wenn du mich geheiratet hättest, sagte sie, müßten sie mich jetzt auch einladen. Jetzt müssen wir die eine Reise halt selber bezahlen!
– Ich danke dir! sagte ich, ein solches Argument habe ich gerade gesucht.
Ich schrieb auf ein Blatt Papier, daß ich erfreut und dankbar sei, daß ich aber nicht allein, sondern in Begleitung meiner Frau hier sei. Ich wußte, daß auch die Großzügigkeit à l’americaine ihre Grenzen hat.
Ich wartete, bis der Portier das Telegramm in meiner Anwesenheit der Post aufgegeben hatte. Sie vertiefte sich inzwischen in eine Vitrine, die ganz und gar leer war.
Das Ristorante befand sich neben dem Hotel am Gehsteig. Die Tische entlang der Wand standen im Schatten, aber die Kühle war nur fiktiv. Ich nahm einen Eiskaffee, etwas anderes konnte ich nicht. Sie bestellte Spaghetti alla milanese und einen halben Liter Frascati. Keine Menschheits- oder Naturkatastrophe konnte ihrem Appetit etwas anhaben.
Seit dem Wortwechsel in Perugia sprachen wir nur die notwendigsten Sätze miteinander. Jetzt schwiegen wir uns aus. Das störte mich nicht. Im Geist sah ich wieder die drei in ihren Bademänteln und mit der unsinnigen Gondel, den müden Mann in Militärhosen und seine weinende Frau, das ganze soziologische Zufallsmuster von Bürgern, die die Botschaft belagerten. Wie viele von ihnen waren vom unmenschlichen Mechanismus der Deformationen erfaßt und verletzt worden, wie viele warteten bis zu diesem Frühling auf eine Entschuldigung, Wiedergutmachung, auf eine menschenwürdige Arbeit, auf den Reisepaß. Und dennoch ein geradezu fanatisches Vertrauen, daß vor allem die Kommunisten – jawohl, die Kommunisten dort zu Hause – die Hoffnung erfolgreich verteidigen würden, die Hoffnung aller, die man nunmehr Sozialismus mit menschlichem Gesicht nannte. Wie oft habe ich heute schon den Satz gehört:
– Wenn sie es schaffen würden, den Parteikongreß einzuberufen.
Von allen Ländern, wo die Bourgeoisie unterlegen ist, war der Sozialismus doch am natürlichsten in der Tschechoslowakei verwurzelt! Von allen Versagern und Irrtümern der revolutionären Bewegung von der Oktoberrevolution bis heute ist dieser der tragischste!
Wer ist hier Konterrevolutionär?
Sie vielleicht?
Jawohl, sie machte mir Vorwürfe, jawohl, sie beleidigte mich, bezichtigte mich aller Todsünden von der Abhängigkeit von Moskau bis zum geringen Milchertrag der Kühe, und ihre Stimme war sogar die Stimme der Generation, wenn sie fragte, warum wir auf dem Kontinent, wo es eine Schweiz gibt, zum Sozialismus verurteilt sind.
Aber war es Sozialismus, was sie ablehnten – diese Verschwörung Unfähiger, dieses Zarenreich der Durchschnittlichen, errichtet nach dem Bilde Antonín Novotnýs?
Kaum hatten wir die einfache Wahrheit bewiesen, daß der König nackt ist, kaum war die Politik aus der Küche der Novotnýs wieder auf die Plätze hinausgetreten und kaum hatten die befreiten Hirne der Revolution ihre Reinheit und ihr Programm zurückgegeben, war sie mit mir, waren sie mit uns – wegen dieser Chance, der ganzen Welt eine neue Botschaft zu übermitteln, eine Botschaft, nach der sich Völker oft nur einmal in ihrer Geschichte strecken.
Einen Augenblick lang sah ich sie wieder in jener Märznacht vor fünf Monaten, ich hörte ihre erstaunte Stimme wieder:
– Mein Gott, schau dir die Fenster an ...
Und ihr haßerfülltes Credo in Perugia?
Leider ... wäre ich ein Bankier, hätte sie genauso leidenschaftlich den Kapitalismus angegriffen. Die Politik war in diesem Augenblick nur das stellvertretende Thema der Liebe.
Doch das ist ein anderes Kapitel. Daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich war zu müde.