Читать книгу Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs - Pavel Kohout - Страница 12
ОглавлениеMittwoch, 21. August 1968
(Fortsetzung)
Roma
Er | Das ist der dritte und der schwerste Schock meines Lebens! |
Ich | Und was waren die andern zwei? |
Er | Stalins Tod und die Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteikongreß. Der Tod bedeutete das Ende eines Mythos. Die Rede den Verlust der Sicherheit. |
Ich | Was hast du heute verloren? |
Er | Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, es auszusprechen. |
Ich | Leben deine Eltern noch? |
Er hörte auf, das Glas zu drehen, in dem rhythmisch der Eiswürfel an die Wand stieß. Er nickte. Es war offensichtlich, daß er nach dem Sinn der abwegigen Frage forschte.
Ich | Du bist älter als ich, aber ich bin heute – leider – erwachsener. Ich erinnere mich genau an den März 53 und an den Frühling 56. Damals war auch ich überzeugt, daß eine Welt zusammengebrochen war. Aber dann habe ich kurz nacheinander beide Eltern begraben. Erst seither hat mein Leben einen Maßstab erhalten. |
Er | Du verbindest Unverbindbares. Ich bin vierzig wie du, und auch ich habe einiges durchstehen müssen. Die Scheidung ... anderes. Ich unterschätze die menschliche Sphäre des Lebens nicht. Aber wir sind eine streng determinierte Generation. Die Politik ist ein autonomer Bestandteil unserer Schicksale geworden. Politische Erschütterungen gefährden unsere Existenz ebenso wie persönliche, manchmal sogar mehr. Denk nur an die Selbstmordserie dieses Frühlings. Diese Menschen waren noch erwachsener als wir, sie hatten die Front und die KZ absolviert, und sie haben sicher auch ihre privaten Gewitter erlebt. Und doch genügte der Zusammenbruch einer politischen Konzeption, um ihr gesamtes menschliches Gleichgewicht zunichte zu machen. |
Ich | Wenn du nicht die Ehrenwerten meinst, die hinter sich die Tür zugeschlagen haben, weil sie die Zerstörung des Gleichgewichts anderer nicht verantworten konnten – dann ist das allerdings das schwerste Argument gegen uns. |
Er | Sind wir schuld, weil wir uns für mehr engagiert haben als nur für uns selbst? |
Ich | Wir haben den Kommunismus gewählt als Waffe gegen den Hunger, der mit uns von Kindheit an beim Abendessen saß, gegen den Tod, der seit der Heydrichiade mit uns auch in die Schule ging. Wir haben den Kommunismus gewählt als Arznei gegen Angst. Als höchste Form wirtschaftlicher und geistiger Freiheit. Wir haben ihn, kurz gesagt, im Namen des Lebens gewählt, er sollte unserer Selbstverwirklichung einen maximalen Raum gewährleisten. Auch wenn wir noch so naiv, noch so emotional, noch so dogmatisch gewesen sind, auch wenn wir wirklich bereit waren, im Namen der Weltrevolution jedes Opfer auf uns zu nehmen – hinter aller Abstraktion waren doch ganz konkrete menschliche Wünsche: schöpferisch tätig zu sein, zu lieben, banal gesagt – glücklich zu leben. Ist es nicht absurd, daß wir beinahe bis zur Negation der grundlegendsten Lebenswerte gelangt sind? |
Er | Unsinn. Wir haben nichts negiert! Wir haben nur den Weltkontext unserer Revolution falsch eingeschätzt. Wir haben damit gerechnet, daß die Welt, von den faschistischen Verbrechen erschüttert, aus ihrer Erkenntnis augenblicklich die Konsequenzen zieht, wie sie die Tschechoslowakei gleich in ihren ersten Nachkriegswahlen zog. Wir haben geglaubt, daß das nur eine Frage weniger Jahre ist. Wir haben die Stärke des Imperialismus ignoriert. Und zugleich auf der eigenen Seite den menschlichen Faktor unterschätzt. Wir waren rein und setzten die Reinheit bei allen andern voraus. Wir konnten nicht ahnen, daß die bewährten Führer der Revolution den Klassenkampf in eine Inquisition umwandeln! |
Ich | That is the question! |
Er | Wenn du auf die Moskauer Prozesse anspielst, so hat damals die überwältigende Mehrheit der europäischen Kommunisten aus guten Gründen daran geglaubt. Zudem waren die Traditionen unserer Partei tief demokratisch! |
Es war noch zu früh, atmosphärische Störungen machten es unmöglich, Prag zu empfangen. Wir warteten auf die Nachrichten des italienischen Fernsehens in einem Zimmer, dessen Unpersönlichkeit auch hier, im Herzen der Ewigen Stadt, die tschechoslowakische Dienstwohnung nicht verleugnen konnte. Auch sie war eine Visitenkarte unseres Bankrotts. Das Heimatland märchenhaften Porzellans und Kristallglases stattete seine Repräsentanten mit Warenhausgeschirr aus.
Ich | Es geht hier nicht um Einzelheiten, sondern um das Wesen der Sache: Wir bekannten uns zum Marxismus, weil er uns die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur und der Gesellschaft anbot. Können wir uns also damit entschuldigen, daß wir etwas geglaubt, etwas unterschätzt oder nicht richtig eingeschätzt haben? Wenn ein Arzt eine Operation durchführen will, dann muß er als conditio sine qua non a) die Diagnose, b) die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten kennen. Sonst macht er sich eines Verbrechens schuldig. Für einen Marxisten, der die Gesellschaft operieren will, gilt das doppelt. |
Er | Willst du damit sagen, daß wir Verbrecher waren? |
Ich | Ich will damit sagen, daß wir keine Marxisten waren, und wenn man uns einmal bestrafen sollte, so sollte man es vor allem wegen unseres Verbrechens gegen den Marxismus tun. Wir sind Quacksalber, die sich für Chirurgen ausgaben. Man kann unsere uneigennützigen Absichten in Betracht ziehen, aber man kann uns nicht entschuldigen. Wir haben die objektiven Gesetze frommen Wünschen untergeordnet. Wir haben es zugelassen, daß eine unwissenschaftliche Ideologie das revolutionäre wissenschaftliche Denken unterdrückte und ersetzte. Und so geschah es, daß unsere noch so reine und noch so gerechte Revolution ihre eigenen Kinder frißt. |
Er | Ich bin leider kein Dichter ... |
Ich | Aber du warst einer. Warum sprichst du ständig wie ein Parteifunktionär? |
Er | Weil ich ein Parteifunktionär bin, wenn sie mich auch ins Exil geschickt haben. Weil irgend jemand das machen muß. Aber darüber können wir uns vielleicht dann ein anderes Mal unterhalten. |
Es war klar, daß er darüber nicht vor ihr sprechen wollte. Sie nippte an ihrem Campari, in dem das Eis schnell schmolz, und man konnte nicht erkennen, ob sie überhaupt zuhörte. Vielleicht war es besser so. Wenn sie mich gewöhnlich mit ihrem absichtlich übertriebenen Antikommunismus zwang, die grundlegenden Gedanken zu verteidigen, so befand ich mich vor ihr bei Diskussionen mit Kommunisten in einer grotesken Kontraposition. Ich erinnerte mich an eine gewisse Prager psychiatrische Institution, die in ihren Mauern sowohl ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge als auch Protektoratskollaboranten, Opfer der politischen Prozesse und ihre Untersuchungsrichter beherbergt. Und mir fiel ein, daß meine Generation eine beachtliche Gruppe von Schizophrenen beisteuern wird.
Er | Eine Revolution, und sei sie noch so wissenschaftlich, ist vor allem eine Revolution. Ein Zusammenstoß der Wirklichkeit mit der Idee. Diese Idee können nur Menschen realisieren, die von der Realität gezeichnet sind. Das Hirn eines Wissenschaftlers oder eines Heiligen kann die Revolution programmieren, aber durchführen müssen sie Millionen elender Sünder. |
Ich | Ich höre mit Vergnügen, daß auch zwanzig Jahre Parteiarbeit dich von literarischen Formulierungen nicht geheilt haben. |
Wie einst folgte er auch jetzt konzentriert seinen Gedanken und ließ sich nicht stören:
Er | Vielleicht können wir noch heute miteinander darin übereinstimmen, daß der Kapitalismus seine historische Rolle erfüllt hat und an seinen eigenen Plafond stößt. |
Ich | Warum vielleicht? Bestimmt! |
Er | Um so besser. Er hat die Stafette von den Kolonialisten übernommen, die mittelalterliche Ausbeutung durch die moderne ersetzt, und ebenso ist der Krieg sein Ausweg aus den zyklischen Krisen geblieben. Eines hat er jedoch gelernt: Er hat begriffen, daß brutale Gewalt seinen Untergang nur beschleunigt. Darum mußte auch er sein eigenes Kind – Hitler – auffressen. Und darum ist gerade das besiegte Deutschland zu einem Schaufenster der Waren und der Freiheiten geworden, für die Blicke der hungrigen Sieger bestimmt. Wir haben gewußt, daß das ein schändlicher Trick ist. Aber haben es alle gewußt? Auch Unwissen und Müdigkeit sind politische Faktoren. Sie stumpfen das Klassenbewußtsein ab und bringen einen verfrühten Liberalismus oder gar Anarchie hervor, also eigentlich bürgerliche Ressentiments, gegen die auch der Proletarier nicht gefeit ist, weil er nicht außerhalb von Zeit und Raum lebt. Die Berufung der leitenden Revolutionäre ist dadurch soviel schwieriger, weil sie auch für die Unwissenden die Verantwortung übernehmen müssen ... |
Ich | Und manchmal sogar gegen sie ... |
Er | Jawohl, weil das in ihrem eigensten Interesse geschieht. Durften wir wegen vollen Mägen und einer Fiktion der Demokratie die erkannte Wahrheit aufgeben? Durften wir eine Neuauflage der Ersten Republik riskieren, von den Schüssen auf Arbeiter über die Arbeitslosigkeit bis zu München? Durften wir im Namen eines relativen Lebensstandards und relativer demokratischer Traditionen die frisch geformte Gemeinschaft der osteuropäischen Völker verraten, die sich unmittelbar aus dem Feudalismus oder dem Faschismus heraus zum Sozialismus begaben? Gerade die Tatsache, daß die industriell und kulturell hochentwickelte Tschechoslowakei sich so spontan zur Revolution bekannte, hatte doch für ganz Europa eine maßgebende Bedeutung! Der Westen hat das augenblicklich begriffen. Er lähmte uns durch sein Embargo und umringte uns mit seiner Propaganda. Er erklärte uns den Kalten Krieg, der allerdings verdammt heiß war, weil er Diversion und Sabotage und brutalen Mord von Kommunisten mit einschloß. Hast du die Toten in der Schule von Babice schon vergessen? Es war der Westen, der uns zwang, den Eisernen Vorhang herunterzulassen! Das war für uns die einzige Möglichkeit, Raum, Ruhe und Zeit zu gewinnen. Daß damit gleichzeitig auch ein Klima entstand, in dem die Wachsamkeit in Mißtrauen und die Klassenjustiz manchmal in Willkür umschlug, ist zwar tragisch, aber nicht unsere Schuld. Solange die Revolution um ihre nackte Existenz kämpft, enthält sie immer den latenten Konflikt zwischen dem Gewissen und der Notwendigkeit. Willst du ein Beispiel? Denk an Romain Rollands «Wölfe», eins deiner Lieblingsstücke! Ich bin selbstverständlich absolut dafür, daß man die Leute bestraft, die gefälschte Prozesse inszeniert oder die Macht für ihre egoistischen Interessen mißbraucht haben. Aber ich lehne das modische Flagellantentum ab, das in einer Welt der Vietnams und Biafras Hunderttausende ehrlicher Kommunisten in die Rolle von Angeklagten versetzt. Ich kann meine Fehler bedauern. Ich bin bereit, für sie zu zahlen. Aber es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte! |
Ich wurde mir bewußt, wie wenig er sich verändert hatte. Trotz der ergrauten Schläfen und der schärferen Gesichtszüge sah er genauso aus wie vor dreiundzwanzig Jahren. Auch Monologe führte er noch. Er sprach allerdings leiser, ohne zu gestikulieren, als dächte er laut nach.
Auch sie beobachtete ihn. Merkwürdigerweise eher interessiert als ablehnend, wie ich es vermutet hätte. Er mußte bei Frauen immer noch Erfolg haben. Das alte Unrecht meldete sich.
– Ist es nicht schwer, gerade in dieser Stadt allein zu leben? Oder hat die Partei aus dir einen Ordensbruder gemacht?
Er war überrascht. Aber dann lachte er zum ersten Mal. Fast jungenhaft.
– Eben jetzt fängt es an, schwer zu sein. Wenn ich sehe, daß es schöne Frauen gibt, die es trotzdem freut, solchen Ausführungen zuzuhören!
– Sind die Nachrichten noch nicht an? fragte sie abrupt.
Als hätte sie Angst, daß ich sie vor ihm herabsetzen könnte. Doch die Uhr stand wirklich genau auf sieben. Der italienische Ansager las das TASS-Kommuniqué. Er übersetzte es für uns, soweit er folgen konnte.
«Die Partei- und Staatsfunktionäre der ČSSR haben sich an die Sowjetunion und die übrigen Bruderländer mit der dringenden Bitte um militärische Hilfe gegen die Konterrevolution gewandt.»
Erklärung des Präsidiums des ZK der KPČ:
«Dies geschah ohne Wissen des Präsidenten und des Präsidiums der Partei, der Regierung und der Nationalversammlung. Dieser Akt steht im Widerspruch nicht nur zu den Grundnormen des Völkerrechts, sondern auch zu den Prinzipien der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern.»
Eine Filmreportage. Aufnahme aus dem fahrenden Auto. Ich fahre den Wenzelsplatz hoch. Ein Slalom zwischen Menschen und Panzern hindurch. Woran erinnert mich das? Ich will verlangsamen, aber die Bremse gehorcht mir nicht. Die berühmte dunkle Fassade ist weiß gesprenkelt. Bildstörung? Das Gebäude weicht nach rechts aus. Ich fühle die Machtlosigkeit des Droschkengauls, der verurteilt ist, nur nach vorn zu schauen. Er übersetzt:
– Das Nationalmuseum war Ziel einer kurzen konzentrierten Beschießung.
Ich höre ihr entsetztes Warum ...?
Doch ich weiß es schon. Diese Salve ging vorzeitig los. Sie war für ein anderes Ziel bestimmt. Ich nähere mich ihm durch die Mündung der Weinberger Straße. Sie hat ihren unschuldigen traditionellen Namen wiedererhalten, nachdem sie ein nur wenig dauerhaftes Denkmal von drei Regimen war. Foch-Straße. Schwerin-Straße. Stalin-Straße. Für die Prager – Straße dreier Marschälle. Jetzt haben fünf weitere gleichzeitig ihre Visitenkarten hiergelassen.
Ein umgestürzter Autobus mit erblindeten Fenstern, einsame und vergebliche Barrikade. Vor dem vertrauten Gebäude mit der Aufschrift Tschechoslowakischer Rundfunk brennt ein Panzer. Und im Torweg des gegenüberliegenden Hauses liegen stumme Körper, zugedeckt mit der Fahne.
Wieder! Um Gottes willen, ist es denn möglich, daß die Geschichte sich auf so absurde Weise wiederholt??
– Und das ist die Strafe, sage ich. Das ist die Strafe!
Er wandte sich zu mir um.
– Dazu wär’s nicht gekommen, ohne euch.