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5. V. 45

Praha

Ich schreibe Dir am Ende eines Tages, der mir alles gegeben hat, wonach ich mich gesehnt habe:

die Freiheit und Dich!

Ich sitze an Deinem Bett und sehe zu, wie Du schläfst, verloren im viel zu großen Pyjama Deines Vaters. Nicht einmal das Echo der Schüsse weckt Dich. Du schläfst wie ein Igel, geschützt von den Stacheln der Barrikaden. Auch ich bin eine.

Mir scheint, daß es schon Jahre her ist, aber es war heute morgen, da mich Mutter mit der aufregenden Nachricht weckte:

– Der Rundfunk spricht nur noch tschechisch!

Sie wußte, daß ich heute eine Sendung habe.

– Du solltest nicht hingehen. Was, wenn es jetzt losgeht?

Ich wehrte mich.

– Sie haben mich dafür in der Schule entschuldigt. Was würden sie sich dort denken?

Vater verstand das zum Glück.

– Du bist bald siebzehn. Ich verlasse mich auf deine Vernunft.

Vor dem Studio Nr. 6 standen Robert und Slávek, und mit ihnen Petr. Er hat von seinen Panzergräben endgültig Reißaus genommen. Wir tauschten die letzten Nachrichten aus. Die Sowjets in Brünn, die Amerikaner in Cheb. Wir stritten darüber, ob Prag sich erheben soll. Rob meinte, es sei schade um das unnötig vergossene Blut. Petr, Slávek und ich waren von Grund auf dagegen. Wir haben allzulange in Knechtschaft gelebt. Die Freiheit darf kein Geschenk sein. Die Freiheit muß immer erkämpft werden, wenn ein Volk ihrer würdig sein soll. Rob brachte uns auf die Palmen:

– Um ihrer würdig zu sein, muß das Volk sie erst erleben!

– Sie können uns nicht alle umbringen, pochte ich auf den Tisch. Die es überleben, werden durch dieses Blut stärker. Ausgebügelte Fahnen kleiden nur die Spießervereine. Die Fahnen der Nationen spiegeln den Willen wider, die Wahrheit zu verteidigen!

Eine deutsche Patrouille schritt den Korridor ab. Zwei Jungs, nur um wenig älter als wir. Ihre Mäntel und Helme waren viel zu groß. Die Besatzung des Funkhauses bestand schon seit einigen Jahren aus ein paar älteren Österreichern, die jeder kannte. Es hieß, sie hätten versprochen, die Waffen niederzulegen, wenn wir sie dafür nach Hause ließen. Jetzt hat man sie also abgelöst.

Sie blieben bei uns stehen, der eine nah, der andere sicherte.

– Ausweise!

Wir zogen unsere deutsch geschriebene Mitgliedskarte des Schulfunks hervor.

– Wo ist hier der Ansageraum?

Petr zuckte die Schultern, als ob er nicht verstünde. Der erste machte eine mißtrauische Visage.

– Scheiße!

Er zog drohend sein Gewehr hoch, schob Rob, der ihm im Weg stand, beiseite, und sie gingen weiter. Fast gleichzeitig sprangen wir ihnen von hinten an die Kehle.

Schade, daß wir es in der Phantasie taten! Wir hätten die ersten sein können.

Dann klapperten Deine Absätze im Korridor, und ich vergaß alles, was nicht Du warst. Du sagtest uns, daß die Euren zu einem Begräbnis gefahren seien und daß Du am Abend gern ins Kino gehen würdest. Wir verabredeten uns alle auf sechs Uhr. Es tat mir leid, nicht mit Dir allein zu sein. Wer hätte ahnen können, was das Schicksal für uns bereithielt. Ein grausames Schicksal? Ein herrliches Schicksal!

Die Sendung war nach zehn zu Ende. Slávek hatte den Ikarus gesprochen, wir wie immer den Chor. Ich bin ihm nicht neidisch: ich habe Dich.

Redakteure, Techniker und Schauspieler gingen mit Schraubenziehern durch die Korridore und beseitigten überall die deutschen Orientierungstafeln. Wir halfen ihnen. Das war ein fröhlicher Aufstand. Wer hätte gedacht, wie wertvoll er sich bald erweisen wird!

Als wir Dich dann heimbegleitet hatten, fuhren wir mit der Tram nach Hause. Der Schaffner eröffnete zwei deutschen Fliegern, daß er keine Mark mehr annähme. Weil sie keine Kronen hatten, ließ er anhalten und wies sie hinaus. Dann erklärte er:

– Die Tschechen fahren wir heute gratis!

Wir begannen zu singen. Die ganze Tram machte mit. Vor den Schaufenstern standen Spaliere aus Leitern. Die Ladenbesitzer beseitigten die deutschen Aufschriften. Als ich ausstieg, sagte Rob:

– Also um sechs!

Auf der Verkehrsinsel stand ein Kontrolleur mit einer Flasche und rief:

– Abends um sechs nach dem Krieg! Abends um sechs in der Republik!

Die Deutschen waren wie weggeblasen. Auf dem Adolf-Hitler-Platz flogen die Blechtafeln von den Hauswänden. Eine Menschenmenge mit einer riesigen Fahne zog zum Gebäude des Generalstabs. Sie trug wieder den blauen slowakischen Keil. Sie sangen die Nationalhymne. Ich erinnerte mich an jene Nacht im September 1938, ich war zehn Jahre alt und hielt mich an Vaters Hand fest, als der einäugige General das Münchner Diktat bekanntgab. Damals sah ich in Vaters Augen zum ersten Mal Tränen. Auch damals wurde die Hymne gesungen. Wieviel Tote und Tränen zwischen den beiden Hymnen!

Es war noch niemand zu Hause. Ich stellte den Rundfunk an. Nach sechs Jahren erklangen wieder Sokolmärsche. Voll Freude stellte ich das Gerät ans Fenster und drehte auf volle Lautstärke. Der Einfall lag vielleicht in der Luft. Sofort bebte die Straße in den Fundamenten. Die Menschen winkten einander zu und hingen Girlanden aus rotweißblauen Fähnchen an die Fenster. Plötzlich verstummte der Marsch, man hörte Schüsse und eine erregte Stimme:

– Wir rufen die tschechische Polizei und das tschechische Heer! Kommt uns zu Hilfe ins Funkhaus! Die Deutschen morden unsere Leute!

Ich konnte gerade noch auf einen Zettel schreiben Habt keine angst, bin in ordnung! Zum zweiten Mal in diesem Jahr rannte ich mit der Zeit um die Wette zu Deinem Stadtviertel. Die Menschenmengen waren fort. Die Geschäfte ließen die Rolläden herunter. Ein paar Menschen eilten in der gleichen Richtung wie ich. Ein Lastwagen, vollbesetzt mit bewaffneten Pragern, fuhr vorbei, sie trugen Zivil, hatten deutsche Helme auf. Auf dem Trittbrett stand ein tschechoslowakischer Offizier. Ich hatte diese Uniform sechs Jahre lang nicht mehr gesehen. Sie war ihm inzwischen zu klein geworden, er konnte sie nicht zuknöpfen. Ich winkte, sie fuhren weiter, nahmen mich nicht mit.

Der Wenzelsplatz lag unter deutschem Beschuß. Auch beim Viadukt konnte ich nicht durch. Schließlich glückte es mir über die Schienen des Hauptbahnhofs.

Beim Funkhaus war’s schon fast vorbei. Im Torweg des gegenüberliegenden Hauses lagen Tote. Man hatte ihnen die Gesichter mit Fahnen zugedeckt.

Die Deutschen hatten zu schießen begonnen, als sie den Ansageraum nicht fanden. Sie fanden ihn nicht, weil wir mit Dir am Morgen die Orientierungstafeln abgeschraubt hatten! Die Unseren kamen über die Dächer. Um jedes Stockwerk wurde gekämpft. Die Reste der Besatzung zogen sich in den Keller zurück. Jetzt schwemmte sie die Feuerwehr mit Wasser hinaus. Sie haben uns das doch selbst gelehrt! So haben sie vor drei Jahren in der Karel-Boromejský-Kirche das Fallschirmkommando, das den Heydrich bestraft hatte, erwischt.

Einer von denen, die die Helden mit Essen versorgten, jetzt kann ich das schon sagen, und ich sage es zuerst Dir, war mein Vater. Er war ein Freund vom Pfarrer Vladimír Petřek.

Im Funkhaus roch es nach Schießpulver. Auch im Vestibül lagen Tote. Für mein Alter habe ich schon mehr als genug Tote gesehen. Ich werde mich nie an sie gewöhnen! In einer Ecke die unseren. In der anderen Deutsche. Man hatte sie aufeinandergeschichtet, wie graugrüne Holzklötze. Eine Reihe Stiefel, eine Reihe Köpfe. Ich erinnerte mich an die beiden Soldaten. Sie mochten Primaner sein wie ich. Ich stellte sie mir hier in diesem Haufen vor, und ich schauderte. Aber Mitleid empfand ich nicht. Mitleid nicht.

Als Pfarrer Petřek zum letzten Mal bei uns zu Hause war, einen Tag vor dem Attentat, sprach er mit Vater über die deutsche Schuld und Sühne.

– Wenn ich nach dem Krieg auf der Straße einem Deutschen begegne, sage ich ihm: Weich aus, Deutscher, siehst du nicht, daß hier ein Mensch geht?

Dieser schlanke, asketische Priester und Gelehrte, der mich immer an Jesus erinnerte, hob täglich die Betonplatte der Krypta auf, um den Gehetzten Essen zu reichen und ihre Exkremente zu entfernen ... jawohl, auch solche Taten machen einen Helden. So wie Jesus wurde er verraten, gefoltert und getötet, ohne ein Wort zu sagen. Um seinetwegen wehre ich mich jetzt gegen das Mitgefühl. Meines hingerichteten Onkels, meines erschossenen Dichters Vančura, der Toten der Konzentrationslager wegen. Und auch meiner und Deiner sechs Jahre Hoffnungslosigkeit wegen.

Das Vestibül begann zu beben. Im Keller explodierten Granaten. Ich suchte jemanden, der mir eine Waffe geben konnte, aber die schon Soldaten gewesen waren, hatten Vorrang. Da stieß ich plötzlich auf Herrn Karel.

– Komm mit, flüsterte er mir zu, weil du’s bist!

Er mag mich wegen der Fuhrmannslaterne, die ich ihm für seine Requisitensammlung gebracht habe. Er führte mich in sein Lager. Auf dem Boden lag ein Haufen deutscher Helme, Gasmasken, Gürtel, Mützen und Rangabzeichen.

– Das würd’ verschleppt und verschwinden, sagte er triumphierend, wir müssen jetzt schon an die Theater denken!

Ich nahm mir einen Helm, einen Gurt und ein Bajonett. Sie liegen jetzt auf Deinem Bett. So eilte ich zu unserem Rendez-vous. Die Straßen waren wieder voll Menschen. Man richtete Barrikaden auf. Gerade vor unserem Kino kippten die Leute einen Tramanhänger um. Der Triebwagen lag schon auf der Seite in einem Haufen von Glassplittern. Du erschrakst: – Wo ist Robert? Wo sind die Jungs?

– Wahrscheinlich sind sie nicht durchgekommen. Mir ist es auch erst im letzten Augenblick gelungen.

– Ich habe Angst um die Eltern. Es fahren ja keine Züge mehr. Sie haben uns umzingelt.

– Die Amerikaner sind in Pilsen. Spätestens morgen früh sind sie in Prag!

Drei Stunden lang waren wir zwei Glieder einer Menschenkette. Die Pflastersteine, über die ich Dich so oft begleitet habe, wanderten durch unsere Hände. Ich hätte nie geahnt, was so eine Straße wiegt. Es fing an zu regnen. Über Deine Wangen lief das Wasser herab, der Stein rieb Dir die Hände wund. Und doch hast Du durchgehalten. Ich will, daß Du weißt, daß ich glücklich und stolz war. Ich sah eine lebendige Jeanne d’Arc vor mir. Und das war meine Liebe!

Wir kamen vor Euer Haus. Aus allen Richtungen hörte man Schüsse. Auf der anderen Seite der Stadt stiegen im Nebel Leuchtraketen auf. Du fragtest:

Wohin gehst du?

Ich weiß es nicht.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Und dann hast Du es doch gesagt: Ich mach’ dir das Bett in der Küche.

Ich saß angekleidet auf den Sofakissen, die zwischen dem Küchenherd und dem Eßtisch auf dem Fußboden lagen. Ich hörte zu, wie im Badezimmer Wasser floß. Du kamst im Schlafrock, und darunter schleiften die Pyjamahosen Deines Vaters über den Boden. Du warst rührend wie ein Lustiger August. Ich sagte es Dir. Du lachtest. Eine ganz neue Vertrautheit verband uns. Du fragtest:

Warum schläfst du nicht?

Ich stand auf.

Ich habe einen Wunsch, einen einzigen Wunsch, ich möchte bei dir sitzen und deine Hand halten, bevor du einschläfst, ich schwöre, ich werde nichts anderes tun.

So betrat ich zum zweiten Mal im Leben das Zimmer, wo wir uns vor einem Vierteljahr geküßt hatten. Wie anders war es mit der Verdunkelung, beim Schein der Tischlampe, wie anders warst Du, mit dem Kopf auf dem Kissen. Ich legte Gurt, Helm und Bajonett ab, aber der Krieg blieb mit uns, im Rundfunk ertönte immer wieder ein alter Sokolmarsch als Signet des kämpfenden Volkes. In den Pausen wurden auf russisch und auf englisch die alliierten Truppen gerufen. Dazwischen eine Warnung, daß von Benešov her deutsche Panzer angefahren kamen.

Wir hielten uns an den Händen. Lange. Dann wurde ich verrückt.

– Ich habe zwei Geliebte, dich und die Republik, mit einer bin ich beisammen, zur andern geh ich in einer Weile; wenn Gott mir schon diesen Abend vergönnt hat, laß mich meine Hand auf dein Herz legen, ich will sterben, wenn ich mehr möchte als die Wärme, die ich als Geschenk in meiner Hand mitnehmen will.

Du lagst regungslos. Ich war verzweifelt. Es blieb mir nichts übrig als aufzustehen und schnell fortzugehen. Da hörte ich Deine Stimme.

– Dreh das Licht aus ...

Ich gehorchte. Hitze übergoß mich. Stoff raschelte. Deine Hände umarmten mich und zogen mich zu Dir. Die Pyjamajacke Deines Vaters war nicht mehr da, nur Haut. Ich legte beide Hände auf Deine Brust. Sie war warm und lebendig. Ich legte meinen ganzen Körper an sie. Mir schien, ich würde bewußtlos. Ich hörte Dich von fern:

– Hast du schon jemanden gehabt?

– Nein ... und du?

– Ich auch nicht ... So komm, wir werden uns haben ...!

Für einen Augenblick stand mir das Herz still. Ich öffnete die Augen. Nur schwach erkannte ich die Umrisse der Gegenstände. Entfernte Schüsse übertönten den Regen.

– Nein ...

– Warum nicht ...?

– Ich habe es dir geschworen ...!

Ich will, daß Du weißt, warum ich das sagte! Ich kenne Dich. Ich weiß, wie lang es damals dauerte, bevor ich Dich an der Hand nehmen durfte. Ich sehne mich nach Dir. Aber ich will nicht, daß Du Dich mir gibst in dieser Nacht des Abschieds und des Blutes. Das erschiene mir wie ein Opfer. Ich will kein Opfer, ich will Liebe. Ich will Dich im Juni haben, wenn das Heu duftet, auf einer stillen Wiese, wohin alle Sterne fallen. Um diesen Juni wird jetzt die Schlacht geschlagen. Warte auf mich, und ich kehre zu Dir zurück. Ich bin unverwundbar, wenn mich meine Jungfrau erwartet.

Du küßtest mich.

– Du bist brav!

Jetzt schläfst Du, meine Liebe, zu einem Knäuel zusammengekauert wie ein Kind. Vorher hast Du noch geflüstert:

– Geh nicht fort, bleib bei mir ...

Aber ich muß. Ich habe es Dir versprochen. Uns beiden habe ich’s versprochen! Auch dem, der kommen wird und der sich nie seines Vaters schämen darf. Wenn es sein muß, werde ich auch töten können. Wenn es sein muß – das glaube ich fest –, werde ich auch sterben können.

Ich hasse eine Welt, in der ich beim täglichen Abschiednehmen fürchten muß, es sei ein Abschied für immer. Aber heute ist diese Welt noch da, und sie schlägt wild um sich. Deshalb habe ich Dein Schulheft genommen, und deshalb schreibe ich Dir diesen Brief. Ich bete zu Gott, daß Du ihn nie erhältst. Wenn ja, so wird er mein Testament. Sag meiner Mutter, sie möge mir verzeihen. Und sag meinem Vater, daß ich zwar Vernunft hatte, aber dazu auch noch Ehre.

Und Du, lebe. Auch für mich. Wenn Du einmal mit einem andern einen Sohn hast, gib ihm wenigstens meinen Namen.

Ich küsse Dich, meine Frau.

P.S. Ich will Dich nicht wecken. Ich steige durchs Fenster hinaus.

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs

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