Читать книгу Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus - Pawel Florenski - Страница 15
Pockenimpfung
ОглавлениеEin Ereignis unserer ersten Lebensjahre aber hat sich mir fest eingeprägt. Die Pockenimpfung von mir und Ljusja. Ich weiß noch ganz genau, daß bei uns wiederholt von der Notwendigkeit der Impfung gesprochen wurde. Doch die Impfung verzögerte sich Tag um Tag, wahrscheinlich weil man lange keinen frischen Impfstoff bekam. Ich zitterte die ganze Zeit vor diesem unbekannten Schrecknis und hoffte insgeheim, daß alles immer weiter hinausgeschoben und schließlich vergessen werden würde. Tatsächlich hörten die Gespräche über die Impfung auf, vielleicht weil man bemerkt hatte, daß sie einen so starken Eindruck auf mich machten. Und ich hatte mich beinahe beruhigt.
Einmal saß ich auf einer kleinen Bank in der Nähe des Hauses. Jemand saß neben mir, wahrscheinlich einer meiner Cousins, Datiko (David Sergejewitsch Melik-Begljarow) oder Sandra (Alexander Stepanowitsch Tschrelajew). Wahrscheinlich ging es auf den Abend zu. Da kommt ein Mann die Straße entlang. Sofort fing mein Herz wild an zu schlagen, als spürte es irgendeine Gefahr, eine mir zwar unbekannte Gefahr, die mir aber umso schrecklicher vorkam. Als er uns erreicht hatte, fragte er, ob Florenskis hier wohnten, vielleicht bat er auch auszurichten, der Feldscher sei gekommen. Blitzschnell und wie von Sinnen rannte ich nach Haus und stürzte durch die halboffene Tür, nicht so sehr, um den Auftrag zu erfüllen, als vielmehr um dem bösen Mann zu entfliehen.
1916.24.XI.
Ob ich den Eltern die Mitteilung machte oder, wie ich mich zu erinnern glaube, mein Cousin, weiß ich nicht genau zu sagen, daß ich mich aber im Schlafzimmer in eine Ecke verkroch, das weiß ich noch. Man fand mich wohl nicht gleich, hatte es aber mit der Suche eilig, weil man den Feldscher nicht aufhalten wollte und die Dunkelheit schon hereinbrach. Während man mich suchte, wurde Ljusja schon geimpft. Als man mich ins Wohnzimmer brachte, in dem es zu dieser Tageszeit schon schummrig war, hatte die Impfung bereits begonnen. Man hatte bei ihr einen tiefen Einschnitt gemacht. Von dem Anblick des Blutes, das ich wohl zum ersten Mal sah, war ich so betroffen, daß ich vor Schreck erstarrte und mich nicht wehrte, als die Reihe an mich kam. Vor Schreck merkte ich gar nichts von der Impfung und spürte keinen Schmerz. Die Aufregung und die Tränen, das kam sicher erst viel später.
Diese erste Impfung war erfolgreich, und zwar über alle Maßen. Vielleicht war ich schon zu groß dafür und kratzte mich am Arm, jedenfalls wurden die drei Irnpfnarben so groß wie Dreikopekenstücke und sind bis heute an meinem linken Arm gut zu sehen. Wasjenka, mein kleiner Sohn, interessierte sich immer sehr dafür, und ich erklärte ihm, das seien die Knöpfe, mit denen meine Menschenhaut zugeknöpft sei, man brauche sie nur aufzuknöpfep, dann könne ich sie abwerfen und als Vogel herausschlüpfen, das Fensterglas durchstoßen und in ferne Länder fliegen...
Wenn ich mich frage, welche Idee mir dieser Vorfall offenbarte, wenn ich die tiefsten Schichten des Gedächtnisses mit meinem Bewußtsein durchleuchte, so finde ich, daß es die Idee des Unausweichlichen war. Mir war klargeworden, daß es das Unausweichliche gibt – über mir, über allen, sogar über den Erwachsenen, ja über den Eltern, und daß es sich dabei nicht um eine äußere Notwendigkeit handelt, sondern um eine innere, die aber unseren Wünschen und unserem Geschmack nicht entspricht. Die Unterordnung, ich will nicht sagen unter einen höheren Willen, sondern unter eine Unausweichlichkeit, unter die Weltvernunft, die unpersönlich unermüdlich tätig und keineswegs warm ist, die Unterordnung unter die pantheistische Vorsehung offenbarte sich mir als Pflicht. Gehorsam von Natur aus wurde mir bewußt, daß Gehorsam verlangt wird und daß er nicht Nachgiebigkeit von mir ist, nicht meine Abneigung zu kämpfen.