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Tiflis

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Von meinem Leben in Tiflis habe ich zwar sehr genaue, aber nur einzelne Eindrücke in Erinnerung behalten. Da aber die ersten Kindheitseindrücke das fernere innere Leben bestimmen, versuche ich, so genau wie möglich aufzu­schreiben, was mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben ist. Allerdings wird diese Schilderung nicht ganz chronologisch sein.

1916.18.XI. Sergijew Posad. Nacht

Wir wohnten in zwei Wohnungen. In der einen befand sich das Eßzimmer, das Wohnzimmer und einige Schlafzimmer. In der anderen wohnten ich und Tante Julia, d.h. wir beide wohnten im Seitengebäude. Verbunden waren die beiden Gebäude durch einen Hof, der mit Steinen gepflastert war, durch die das Gras hindurchwuchs. Gewöhnlich war ich in Begleitung eines Erwachsenen, traute mich manchmal aber auch schon allein über den Hof. Einmal aber, als ich im Eßzimmer saß, es war am Tage, bekam ich Sehnsucht nach Tante Julia oder nach Mama, die aus dem Seitengebäude nicht zu uns anderen herüber­gekommen war, und lief zu ihr oder wollte sie holen. Ich erinnere mich noch genau, wie das war. Ich öffnete die Tür, lief zwei, drei Stufen hinab und blieb unter dem ziemlich dunklen Vordach am Haus stehen. Ich weiß noch, daß dieses Vordach auf ungestrichenen Holzpfählen ruhte, sie waren ohne Rinde, grau vom Regen... Entweder ist es doch schon gegen Abend gewesen oder es schien keine Sonne, jedenfalls hatte ich den Eindruck von Dämmerung. Und da erblickte ich etwas auf dem Steinpflaster des Hofes, durch das das Gras wuchs, vielleicht war es schon Herbst – ich sehe dieses Pflaster wie heute vor mir. Besser: hörte es zuerst – einen eigentümlichen Laut, den ich noch nie vernommen hatte. Ich erschrak. Aber Neugier und Wagemut siegten. Ich entschloß mich, ganz schnell vorbeizuhuschen und auf mein Ziel zuzueilen. Doch als ich mit halbgeschlossenen Augen ein Stück gerannt war, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Vor mir erhob sich eine Vorrichtung, die ich noch nie gesehen hatte. Etwas drehte sich ganz schnell, kreischte, knirschte, und von einem Rad sprangen helle Funken. Aber was das Schrecklichste war: als dunkle Silhouette am wohl schon abendlichen Himmel stand an dieser Vorrichtung ein Mensch – ruhig, unerschütterlich und furchtlos und hielt etwas in den Händen...

Ich stand da wie behext von dem Blick eines Ungeheuers. Vor mir taten sich die Abgründe der Naturgeheimnisse auf. Ich hatte etwas zu sehen bekommen, was kein Sterblicher sehen durfte. Die Räder des Hesekiel? Die Feuerwirbel des Anaximander? Den ewigen Kreislauf? Das noumenale Feuer... Ich war überwältigt, starr vor Entsetzen und zugleich von einer unbändigen Neugier gepackt, wohl wissend, daß ich, was ich sah und hörte, nicht sehen und hören durfte. Was sich mir eröffnete, war die lebendige Wirklichkeit der geheimnisvollen Kräfte der Natur, Böhmes Ungrund, Goethes Mütter. Und der da an der geheimnisvollen funkenschlagenden Vorrichtung stand, diese dunkle Silhouette, das war natürlich kein Mensch, das war eines der Wesen der Erde, das war der Geist der Erde, ein unermeßlich großes Wesen. Wahrscheinlich bemerkte es mich gar nicht...

Wie lange diese Offenbarung und diese Starre andauerte, weiß ich nicht. Eine Sekunde, mehrere Sekunden; jedenfalls nicht sehr lange. Und erst als der betäubende und furchtbare Augenblick der Vereinigung mit dieser feurigen Urerscheinung der Natur vorbei war, als ich wieder zu Bewußtsein kam, ergriff mich panischer Schrecken. Und nun eine charakteristische Einzelheit: Die Selbstbeherrschung, die mich auch in Augenblicken äußersten Entsetzens nie verläßt, zeigte sich auch damals, bei dieser ersten mir erinnerlichen geheimnisvollen Erschütterung meiner Seele. Ich verzagte nicht. Ein Sprung, und ich befand mich wieder im Eßzimmer, woher ich gekommen war, und erst hier, wie auch später in solchen Fällen, im sicheren Hafen, auf den Knien der Erwachsenen, gab ich dem Entsetzen nach. Ich bekam so etwas wie einen Nervenschock. Man gab mir Zuckerwasser zu trinken und beruhigte mich. »Das ist doch der Messerschleifer, der die Messer schleift, Pawlik«, sagten die Erwachsenen. »Komm, wir sehen uns das mal an.« Ich glaubte ihnen selbstverständlich nicht, widersprach aber auch nicht. Ich wußte damals schon, daß sie das Mysterium, das sich mir offenbart und über das ich mich entsetzt hatte, nicht fassen würden. Sie schlugen mir vor, mich über den Hof zu geleiten, aber auch dem ergab ich mich nicht. Schwer zu sagen, ob nur aus Furcht vor dem noumenalen Funkenstrom oder weil ich Angst hatte, ich würde das eben Erlebte nicht wieder erleben und nur sehen, was die Erwachsenen mir sagten, etwas ganz Gewöhnliches, das keinerlei Entsetzen einflößt... Noch lange danach fürchtete ich mich, allein über den Hof zu gehen.

Dieses Gefühl der Offenbarung der Naturgeheimnisse und des damit verbundenen Entsetzens vor Tjutschews Abgrund [in dem Gedicht „Tag und Nacht“], wie des Hingezogenseins zu ihm, gehörte und gehört, wie ich glaube, den tiefsten Regionen meines seelischen Lebens an.

Sehe ich mit noch schärferem Blick in mich hinein, stoße ich auf etwas, was mich unser Dasein in den beiden, durch den Hof verbundenen Wohnungen gelehrt hat. Es ist die feste, organische Gewißheit eines mystischen »es ist« gegenüber einem empirischen »es scheint«.

1916.23.XI. Sergijew-Posad. Morgen.

Gedenken an Alexander Newski

Zwei Wohnungen, dazwischen ein Raum, es sind zwei, aber geistig sind sie eins, eine Wohnung, unsere Wohnung, in zwei Wohnungen erscheinend. Das Haus, die Familie, das ist eine lebendige Einheit und eine Vorstellung von der Familie, die, wäre sie nicht als völlige Einheit und, rein abstrakt gesehen, nicht als unteilbar erschienen, hätte, wenn sie überhaupt aufgekommen wäre, in meinem kindlichen Bewußtsein keinen Platz gehabt. Nicht »ich«, sondern »wir« – das bestimmte das Verhältnis zur äußeren, d.h. außerhalb der Grenzen der Familie existierenden Welt. Aber diese eine, unteilbare, organisch verbundene Familie lebte in zwei Häusern. Da aber das Haus, die Form des Daseins der Familie, der Einheit der Familie entsprechend unbedingt eines sein mußte, erfuhr ich hier die geheimnisvolle Einheit zweier Wohnungen, die durch einen Hof getrennt waren.

Ich weiß genau, daß ich das nicht später hinzuerfunden habe, es war damals, als in mir das Verständnis dafür erwachte, daß die räumliche Getrenntheit Schein sein kann und es entgegen dem Schein der äußeren Wahrnehmung eine innere Einheit geben kann – nichts Vereinigtes, sondern eine Einheit. Aber der oben beschriebene Vorfall mit dem Messerschleifer erzeugte in mir die nicht geringere Gewißheit, daß man, um diese geheimnisvolle Einheit zu erfahren, in Bereiche hinabsteigen muß, wo es viele furchtbare Dinge gibt, wo sich die Mysterien der Natur ereignen, zu denen man zwar durch eine unbe­zwingbare Wißbegierde hingezogen wird, wo aber unmenschliche Schrecken lauern, die diesen geheimnisvollen Bereich bewachen.

Das menschliche Auge darf die Geheimnisse der Natur nicht schauen, obwohl sie die Welt von einer ganz anderen Seite, von ihrer inneren Einheit her, offenbaren. Aber diese Einheit kann sich auch weniger unmittelbar offenbaren, durch eine verfeinerte Wahrnehmung, nicht nur durch direkte Erfahrung, und das genügt. Das ist es, was sich meiner Seele nach diesem Vorfall einprägte – natürlich nicht so deutlich, dafür aber unauslöschlich. Es war eine Prägung für mein ganzes Leben, wenn ich natürlich auch, meinem unbezwingbaren Forscherdrang nachgebend, dieses Gebot eines Nicht-Erkennens nicht immer befolgte.

Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus

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