Читать книгу Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus - Pawel Florenski - Страница 8
Die transkaukasische Steppe
Оглавление1916.15.X. Sergijew Posad
Und so zog unsere Familie 1880 in die transkaukasische Steppe. Als Wohnort wählten wir den Flecken Jewlach, Kreis Dshewanschar im Gouvernement Jelisawetpol. Heute gibt es dort eine Station der transkaukasischen Eisenbahn mit einer Gastwirtschaft, es wurden einige Häuschen gebaut und Bäume gepflanzt. Damals war da nur Steppe, die unsicherste Gegend ganz Transkaukasiens inmitten tatarischer Siedlungen am sumpfigen Ufer der Kura. In Federgras, Taubenkropf, Süßholz und anderen Kräutern dieser Steppe gab es Fasanen im Überfluß und das beste und seltenste Wild, die Turatschí [Halsbandfrankoline]. Die Kura wimmelte von Lachsen, Stören und anderen Fischen, so daß wir ständig frischen Fisch und Wildbret hatten und uns selbst Kaviar zubereiteten. Dafür gab es auch vielerlei Gefahren: Giftschlangen, Skorpione, Walzenspinnen und Taranteln, Mücken, Moskitos – die jungfräuliche Steppe war voll davon. Meine Eltern erzählten mir, wie der Vater einmal beim Schlafengehen das Kopfkissen hochhob und umdrehen wollte und eine zusammengeringelte Schlange darunter fand. Sie haben die Schlange natürlich getötet, aber der Eindruck des Grauens ist selbst mir bis heute geblieben. Skorpione und Giftspinnen kamen ständig in unsere Behausung gekrochen. Von Schildkröten, Dsheranen [Kropfgazellen] und anderen harmlosen Geschöpfen spreche ich erst gar nicht – da sie von den Menschen nicht weiter behelligt wurden, gab es davon übergenug.
Ich sage »in unsere Behausung«. Meine Eltern lebten nämlich anfangs in einem Güterwagen beziehungsweise in mehreren Güterwagen, die mit Teppichen ausgeschlagen waren, später wurde eine Baracke aus Wellblech gebaut, die innen mit Filz verkleidet war. Diese Baracke war der Ausgangspunkt für das künftige Stationsgebäude. Sie hatte drei Zimmer und in einem besonderen Anbau eine Küche.
Der Grund, warum wir uns in Jewlach niederließen, war die Ernennung meines Vaters zum Direktor der transkaukasischen Eisenbahn in diesem Abschnitt. Der Abschnitt wurde von meinem Vater gebaut. Andererseits kam das unserem Wunsch entgegen, der Besitzung der Melik-Begljarows, Karatschinar (die damals dem Vater von Sergej und Alexander Tejmurasowitsch, Tejmuras Fridonowitsch Melik-Begljarow, gehörte), so nahe wie möglich zu sein. Die Schwester meiner Mutter, Jelisaweta, war mit Sergej Tejmurasowitsch verheiratet, und die Eisenbahnstation Jewlach lag Karatschinar am nächsten. Tante Lisa und die anderen Schwestern waren häufig bei uns; auch wir besuchten sie und wohnten sogar eine Zeitlang bei ihnen, als mein Vater an einem Fieber erkrankt war.
Damit ihr euch den Geburtsort eures Vaters besser vorstellen könnt, meine lieben Jungen, müßt ihr das lesen, was Tante Julia in ihrer Skizze »Die transkaukasische Steppe« geschrieben hat. Ich habe sie zu ihren Briefen an die Pekoks gelegt, weil ich glaube, daß sie für sie so etwas schreiben sollte. In einer anderen Redaktion ist sie in ihr Tagebuch eingegangen. Tante Julia kam Ende 1880 oder im Januar 1881 nach Jewlach, also später als Mama und noch später als Papa.
Und so wurde ich in der Steppe, mitten in einer wilden Gegend am 9. Januar 1882 gegen sieben Uhr abends geboren, zu einer Stunde, die mir immer die liebste war. Diese Abendstunde zwischen sechs und sieben ist immer meine Stunde gewesen, und bis heute gibt es für mich nichts, was süßer, traulicher und mystischer im guten Sinne wäre als diese Stunde der Klarheit, des Friedens und der beginnenden Kühle. Der aufleuchtende Abendstern, das Licht in der Dämmerung...
Zu meiner Geburt hatte man eine Hebamme aus Tiflis geholt. Außerdem kamen die Schwestern meiner Mutter, Tante Lisa und Tante Remso, die damals siebzehn war, und möglicherweise auch Tante Sonja. Man nannte mich Pawel, zu Ehren des Apostels Paulus, wenn man überhaupt an den heiligen Apostel gedacht hat, und zum Gedenken an meinen Großvater Pawel Gerassimowitsch Saparow, der kurz zuvor gestorben war. Zunächst nur im Familienkreis, ohne den Geistlichen (übrigens gab es erst in Tiflis einen orthodoxen Geistlichen); getauft wurde ich erst ziemlich spät, teils weil es kaukasischer Sitte entsprach und teils vermutlich, weil meine Eltern den Mysterien gleichgültig gegenüberstanden.
An das Leben in Jewlach kann ich mich selbstverständlich nicht mehr erinnern, aber meine Eltern und die Tanten haben mir über diese Zeit auch fast nichts erzählt. Oder wenn sie etwas erzählt haben, so ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Nur eines habe ich mir gemerkt, das hat mir Tante Sonja erzählt, die mich vor dem Ertrinken rettete. Die Sache war so: Mama und die Tanten badeten in der Kura, das Ufer war steil. In der Gewißheit, daß ich noch zu klein sei, mich vom Fleck zu rühren, hatte man mich an den Rand des Steilhangs gelegt. Ich muß aber doch bis zum Rand gelangt und den Hang hinabgerollt sein. Tante Sonja fing mich knapp über dem Wasser auf.
Dann weiß ich noch, daß mein Vater an Malaria erkrankte und sich deshalb beurlauben ließ. Die ganze Familie zog nach Karatschinar, wo sie den Sommer 1882 verbrachte. Im Herbst zogen wir nach Tiflis, das war der Herbst des Jahres 1882.
In Jewlach haben wir nur anderthalb Jahre gelebt, einen Winter, einen Sommer und noch einen Winter