Читать книгу Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus - Pawel Florenski - Страница 19
2. Hafen und Boulevard (Batum)
ОглавлениеDas Meer war es, das mich in der Kindheit mit seinen bald ins Bläuliche, bald ins Gelbliche gehenden Grüntönen nährte. Kindheit und Knabenjahre verbrachte ich in ständiger unersättlicher und wohl nie zu sättigender Betrachtung des Meeres. Es verging kaum ein Tag, an dem wir Kinder, d.h. ich und Ljusja, nicht zwei-, manchmal sogar dreimal am Meer waren. Nie war das Meer langweilig. Nie huschte sein Eindruck nur so über die Seele hin – immer wurde das Meer mit dem ganzen Wesen eingesogen.
Morgens nach dem Tee brachen wir auf, wir nahmen zum Frühstück Brote mit Kotelett und Käse mit, manchmal noch frische oder getrocknete Früchte, Kastanien, Nüsse oder Montpensier [Fruchtbonbons], gelb und grün, auch das irgendwie korrespondierend mit jenen erregenden Farben. Das Kindermädchen oder Tante Julia brachte uns in wenigen Minuten zum Boulevard. Damals, vor fünfunddreißig Jahren, kam das Meer noch bis an die erste Allee des Boulevards heran; erst später hat es sich dann von den Anpflanzungen der Lebensbäume und Zypressen so weit entfernt, unabhängig von den auf den Spuren des zurückweichenden Meeres sich fast täglich vermehrenden Bäumen. Wir spielten im Sand der Allee oder gingen über den knirschenden Kies zum Wasser hinunter. Die Kiesel waren ganz glatt, wie künstlich geschliffen. Ich wußte von den Erwachsenen, daß sie in Wahrheit von der Meeresbrandung rundgeschliffen worden waren, glaubte es aber nur halb: Waren diese Steine nicht als Muscheln oder Korallen im Meer gewachsen? Waren sie nicht von Lebewesen hervorgebracht?
Wir wühlten in dem feinen Kies direkt am Meer und suchten durchscheinende Steinchen – blau und violett opalisierende Chalcedone, die im Innern geheimnisvoll flimmerten, als seien sie ganz von Licht erfüllt, Bandachate, feinschichtige orangene und rote Karneole mit weißen Einlagerungen, seltener Amethyste, gelbe und grüne Quarzite und manchmal durchsichtige Topase, so wie das Montpensier, das wir mitgebracht hatten, und viele andere – kaum ein Tag, an dem wir nicht mit Beute beladen nach Hause kamen. Diese Steine ähnelten künstlerisch nachlässig gearbeiteten Perlen, die aus einem unterseeischen Geschmeide herausgefallen waren; in meiner Vorstellung glichen sie den venezianischen Perlen, die mein Vater uns in einem kleinen Laden am Hafen gekauft hatte, und sie verwandelten sich dauernd in sie. Die geheimnisvollen Lagen der Karneole und Achate, ihre feine Schichtstruktur regte das Denken an: Ich sah hier einen verborgenen Sinn der Natur, und es schien, als müsse er sich insgeheim jeden Augenblick offenbaren und sich mir eröffnen. Manchmal gingen wir mit Papa ans Meer. Papa meinte zur Erklärung unserer Funde, diese Schichten seien durch jahrhundertelange Ablagerung in unterirdischen Spalten und Höhlen entstanden. Aber ich sah in diesen Schichten die abgelagerten Jahrhunderte, die versteinerte Zeit. Nie habe ich die Zeit als etwas unwiderruflich Vergangenes ansehen können; solange ich denken kann, lebt in mir die Überzeugung, daß sie irgendwo hingeht, vielleicht in diese Spalten und Höhlen einsickert und sich dort versteckt und einschläft; aber einmal wird man auf irgendeine Weise zu ihr vordringen, dann wird sie wieder zum Leben erwachen. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, dieses Gefühl hatte ich immer, nichts war klarer als das, in der frühen Kindheit sogar noch klarer als später. Ich empfand die pralle Wirklichkeit des Vergangenen und wuchs mit dem Gefühl auf, daß ich tatsächlich das vor vielen Jahrhunderten Gewesene berühre und mit der Seele dort eindringe. Was mich in der Geschichte wirklich interessierte, Ägypten, Griechenland, war von mir nicht durch die Zeit getrennt, sondern lediglich durch eine Art Wand, aber durch diese Wand hindurch spürte ich mit meinem ganzen Wesen, daß das ebenso jetzt und hier ist. Die Steine mit ihren Schichten kamen mir vor wie der unmittelbare Beweis der ewigen Wirklichkeit des Vergangenen: Da schlafen sie übereinander, die Schichten der Zeit, eng aneinandergepreßt in stummer Ruhe; aber ich brauche mich nur anzustrengen, und sie werden mit mir zu sprechen beginnen, davon bin ich überzeugt, sie werden im Rhythmus der Zeit zu fließen beginnen und aufrauschen – Brandung der Jahrhunderte. Später ist es wohl gerade dieses zärtliche Kindheitsgefühl für das Geschichtete gewesen, das mich für die Geologie schwärmen ließ – eben für die Schichtenbildungen: Beim Anblick der klaren geologischen Schichten überlief mich ein Schauer, mir wurde kalt vor Begeisterung. Das war genau wie ein Buch, und ist nicht ein Buch abgelagerte Zeit?
Interessant waren die flachen, ovalen Kalkkiesel, mit denen wir uns die Taschen vollstopften. Hin und wieder fanden wir auch Kiesel, die von Natur aus ein Loch hatten; wir steckten den seltsamen Stein auf einen Stock und begeisterten uns an ihm, ja wir haben ihn geradezu abergläubisch verehrt. Die rätselhafte Öffnung mit ihren glatten, wie geleckten Rändern zog den Geist an und bemächtigte sich seiner. Öffnungen schienen überhaupt die geheimnisvollen Wohnungen des unbekannten zu sein, sie korrespondierten mit den geliebten Höhlen, unterirdischen Gängen, Kellern und dunklen Böden, mit Gruben, Straßengräben, Tunneln und langen Korridoren; in ihnen allen erkannte ich die Kräfte des Urdunkels an, in dem alles Lebende geboren wird, und ich wollte dorthin vordringen und mich für immer dort ansiedeln. Andere leere Räume sind zu gefährlich, als daß man sie ungestraft an sich heranläßt; aber diesen Öffnungen in den Steinen, so licht und so rein und so glatt und so warm in der Sonne, fühlte ich mich durchaus gewachsen. Tausendmal habe ich den Finger hineingesteckt, jedesmal mit dem gleichen Gefühl des Geheimnisvollen, dem weder die Zugänglichkeit dieser Öffnungen noch die Erklärungen von Vater oder Tante etwas anhaben konnten. Erst als Erwachsener erfuhr ich dann, daß diese Steine bei den Bauern »Hühnergötter« heißen und in die Hühnerställe gehängt werden, um die Hühner vor dem Hausgeist und den verschiedensten Krankheiten zu schützen. Wie das meinen kindlichen Gedanken entsprach, ich erkannte in diesen »Hühnergöttern« meine geheimnisvollen Kiesel wieder.
Am Strand bauten wir mit Hilfe von Stöcken Meeresbuchten, oder wir stießen die Stöcke in den Sand und blickten mit der gleichen Empfindung von etwas Geheimnisvollem in das dunkle Loch, in dem sich das Meerwasser sammelte. Es machte uns Spaß zuzusehen, wie der trockene und grau gewordene Sand von der Feuchtigkeit aufquoll und dunkel wurde. Manchmal gruben wir den Kies am Strand auf und stießen auf eine nasse Schicht und noch tiefer auf das steigende und fallende, das lebendige, atmende Wasser. Eine Grube zu graben, und sei es eine ganz kleine, kam uns immer wie eine magische Handlung vor: Das Wesen der Grube selbst ist geheimnisvoll. Kein Wunder. In der Grube ist lebendiges Wasser. Alles ist auf dem Wasser und in dem Wasser, und das ist nicht etwa das einfache, bekannte Trinkwasser, sondern ein geheimnisvolles bitter-salziges, verlockendes und unnahbares Wasser. In Batum ist dieser Gedanke an das Wasser ganz natürlich, weil Batum im Wasser und auf dem Wasser liegt. Wir erforschten dieses Wasser in den kleinen Löchern, leckten am Finger, den wir hineingetaucht hatten, und staunten über seinen bitter-salzigen Geschmack. Wie Tränen! Bedeutet das dann nicht, daß auch ich selbst aus Meerwasser bestehe? Überall diese Entsprechungen, was du auch anfaßt, alles führt dich wieder und wieder zum Meer.
Mit Stöcken fingen wir Medusen. Schöne Blumen, lichterfüllt schaukelten sie wie opalisierende Kelche im Wasser, zart eingefaßt von einem violetten Band. Wir wußten, daß sie brennen, aber das mußte so sein: Dem Geheimnisvollen nähert man sich nicht ungestraft. Wenn du sie herausholst, verdunsten sie auf den heißen Steinen und bilden einen farblosen Schleim, von dem schließlich nichts übrigbleibt. Jemand erzählte uns, wenn man Medusen zwischen Löschpapier lege und trockne und dies mehrere Male wiederhole, so bliebe ein schönes zartes Netz zurück. Ich bezweifelte das nicht, aber es kam mir vor wie ein fernes Märchen, die unmittelbare Erfahrung sagte mir einfach: Medusen sind Geschöpfe des Meeres, nichts anderes als Wasser, und zerfließen daher wie Wasser. In der Erde ist Wasser, in mir ist Wasser, die Medusen sind Wasser... Dem Aussehen nach ist alles verschieden, doch seinem Wesen nach eins.
Unter dem vom Meer Angespülten fanden sich zu unserem nicht nachlassenden Staunen die gehörnten Nüsse des Tschilím [der Wassernuß], die von ihrem Aufenthalt im Wasser ganz schwarz waren. Wir fürchteten sie, ihre Verwandtschaft mit den Meeresteufeln stand für uns fest, deshalb bemühten wir uns, diese seltsamen Nüsse nicht mit den Händen zu berühren, und wenn wir sie aufhoben, dann zögernd und mit Vorsicht: Wer weiß, was sie in Wirklichkeit sind und was sie tun werden. Die Tiefen des Meeres sind voller Geheimnisse und Überraschungen. Die Erwachsenen sagen, das seien Wassernüsse, und die Erwachsenen haben selbstverständlich recht, aber Erwachsene berühren die geheimnisvolle Seite der Dinge nie, entweder bemerken sie sie nicht oder sie verbergen sie vor uns, wahrscheinlich um uns nicht zu erschrecken; nie erzählen sie uns etwas von diesen im Verborgenen lebenden Dingen wie Teufeln, Nixen, Waldgeistem, ja nicht einmal von den lieblichen Elfen. Wir aber wußten, woher weiß ich selbst nicht genau, über all das längst Bescheid, trotz der Schranken, die die Erziehung überall aufgerichtet hatte. So war es auch mit den Tschilim-Nüssen: Sie, d.h. die Erwachsenen, denken, daß wir nachts nicht schlafen können, und sagen daher absichtlich, das seien nur Nüsse. Aber vielleicht sind sie nur zum Schein Nüsse. Warum sind sie denn so schwarz? Und warum haben sie Hörner?
Häufig beschenkte uns das Meer mit weißen Röhrchen. Papa sagte, das seien die Wurzeln des Schilfrohrs und sie seien wahrscheinlich am Fluß Tschoroch zu Hause, der unweit von Batum ins Meer mündet. Aber auch hier war es wie mit jeder Vereinfachung, man glaubte ihr und glaubte ihr auch wieder nicht. Dem lieben Papa war alles zu klar. Warum waren denn diese »Wurzeln« so weiß und fett wie Würmer? Warum waren das Röhren? Irgend etwas an der Erklärung der Erwachsenen stimmte nicht: Die Seltsamkeit dieser »Wurzeln« war zu offensichtlich. Die weißen Röhrchen sind lebendig und fertig! Man braucht sich nicht in ihr Geheimnis zu drängen und es aufdecken wollen, wenn sie unerkannt bleiben möchten. Sie spielen Wurzel, gut, tun wir so, als ob wir ihnen glaubten, aber wir tun nur so, um sie nicht zu beleidigen und zu erzürnen. Und es bestand für uns kein Zweifel daran, daß sie nicht einfach so ans Ufer gespült worden waren, sondern daß das Meer sie uns, einzig uns zum Geschenk gemacht hatte. Es hielt noch viele andere Freuden für uns bereit – es erfreute uns, weil es wußte, daß wir zu ihm kommen und daß wir die Überraschungen lieben, die »surprises«, ja sogar das Wort surprise. Flaschenscherben, von der Brandung zu freundlichen matten Stückchen geschliffen und von der Sonne gewärmt, dann liebevoll von den Wellen geglättete Stangen und Hölzer, reingewaschen, hell leuchtend und warm, dann glattgeschliffene Spindeln von Maiskolben. Manchmal nach einem Sturm ein kleines Fischchen, Algen oder Muscheln – da wollte die Freude kein Ende nehmen, ich war hoch begeistert, mein Herz schlug mir bis zum Halse.
Manchmal, erinnere ich mich, jedoch sehr selten, fanden wir ein Seepferdchen, und einmal, nach einem sehr starken Sturm, stieß ich auf einen Stachelfisch, den ich viele Jahre in meiner Raritätensammlung aufbewahrte. Wenn ich heute auf meine Kindheit zurückblicke, bemerke ich die außerordentliche Armut der Anschwemmungen am Strand von Batum und die ausnehmende Dürftigkeit unserer Funde; außer ganz annehmbaren Steinen fanden wir nichts, was von Wert und Interesse gewesen wäre. Aber damals haben mich diese Funde unendlich gefreut, obwohl ich ein verwöhntes Kind war, gefreut als Geschenke des großen blauen Meeres, Geschenke für mich persönlich, Zeichen von Aufmerksamkeit, Vertrauen und Gewogenheit.
Vor unseren Augen lebte das Meer sein Leben, änderte stündlich seine Farbe, bedeckte sich mit kleinen schaumgekrönten Wellen, wurde finster oder im Gegenteil erschlaffte, wurde still und träge und ließ am Ufer kaum noch ein Plätschern hören. An einem anderen Ort hätten unsere Funde nichts weiter bedeutet; aber hier am Meeresufer waren sie etwas Besonderes. Grünblau in der Ferne und grüngelb in der Nähe lockten die Meeresfarben meine Seele, und mein ganzes Wesen vernahm den Ruf ihres Zaubers von frühester Kindheit an, sie gaben allem Sinn und Schönheit. Die Gaben des Meeres waren wie ein Geigenbogen, der über meine Seele strich und ein Beben hervorrief, nicht ein Gefühl, sondern gewissermaßen einen Laut, der sich der Brust entrang – Ahnung der tiefen, geheimnisvollen, vertrauten Gründe, Nachricht aus dem chrysoberyllen und aquamarinen Schoß des Seins. Denn diese grünen Tiefen, herzbeklemmend in ihrer elterlichen Vertrautheit, waren die rätselvolle Enträtselung des Höhlendunkels, eines offenbaren Dunkels. Das Meer mit seinen abgeschliffenen, glatten, warmen Hölzchen und den warmen, glatten Steinen, salzig schmeckend und immer kaum merklich nach Jod riechend, wie lieb war es dem Herzen und wie ganz mein. Ich wußte: Diese Stöckchen, diese Steine, diese Algen – wie bekannt waren sie mir, zärtliche Nachricht, zärtliche kleine Geschenke meines gleichsam mütterlichen grünen Halbdunkels. Ich schaute und erinnerte mich, ich roch und erinnerte mich, ich leckte und erinnerte mich, ich erinnerte mich an ein Fernes und ewig Nahes, das Ersehnteste, Wesentlichste, das näher nicht sein konnte.
Dieser Jodgeruch des Meeres, rufend, ewig rufend; dieses rufende, ewig rufende Rauschen der kommenden und gehenden Wellen, zusammenfließend aus einer unendlichen Vielzahl einzelner trockener Geräusche und einzelner Zischlaute, aus Rascheln, Plätschern, trockenen Schlägen, dessen monotone Einförmigkeit so unendlich reich ist, immer neu und immer voller Bedeutung, rufend und seinem Rufen erlaubend, wieder und wieder zu rufen, immer stärker und immer drängender; dieses Rauschen der Brandung, das ganz aus Vertikalen besteht, körnig ist wie ein gotischer Dom, nie zäh, nie zerrend, nie klebrig, ungeachtet des Feuchten nie feucht, nie sonor und nie guttural; dieses Grün des Meerwassers, das in die Tiefe ruft, aber nicht süßlich und nicht klebrig, das fluoresziert und von innen her leuchtet von einem körnigen und unendlich feinen Licht, das sich in dem ganzen Stoff verbreitet, ein Grün, immer neu, immer bedeutungsvoll – all das, das Rufende und Vertraute, ist auf ewig in eins zusammengeflossen, in ein Bild, das der geheimnisvollen lebenschaffenden Tiefe; seither sehnt sich die Seele, sehnen sich Seele und Leib nach ihm, suchen es und finden es nicht, sie sehen das Wiedergesuchte nicht, selbst nicht in dem wiedererblickten, jetzt aber anders, nur mehr äußerlich wahrgenommenen Meer.
Jenes Meer, das selige Meer der seligen Kindheit, kann ich nicht mehr sehen – es sei denn in mir selbst. Es ist davongegangen, wahrscheinlich dorthin, wohin auch die Zeit geht, in das noumenale Reich. Aber dieses Noumen habe ich einmal wirklich gesehen, gerochen, gehört. Und gewisser als alles andere, was ich später noch erfuhr, weiß ich, daß diese meine Erkenntnis wahrer und tiefer ist, wenn sie auch von mir gegangen ist – von mir gegangen, aber dennoch auf ewig mein.
Aber einzelne Erscheinungen rühren manchmal dieses verborgene Wissen auf, es wird wieder aufgedeckt, und man erbebt. In den fluoreszierenden Stoffen, besonders in dem apfelgrünen Leuchten der Crookes-Röhre glaube ich es wiederzusehen, das Meer meiner Kindheit; im Geruch der Algen, ja selbst in der Jodtinktur im Reagenzglas rieche ich das metaphysische Meer, und seine Brandung höre ich in den kommenden und gehenden Rhythmen der Fugen und Präludien von Bach und in dem trocken klingenden Brausen der auseinandergezogenen Glut. Ich erinnere mich meiner Kindheitseindrücke, und ich irre mich nicht: Am Ufer des Meeres stand ich von Angesicht zu Angesicht der vertrauten, einsamen, geheimnisvollen, unendlichen Ewigkeit gegenüber, aus der alles fließt und in die alles zurückkehrt.
1920.14.V.
Sie rief mich, und ich war bei ihr. Unverwandt in meiner Seele der Ruf des Meeres, der sprühende Laut der Brandung, die unendliche, aus sich selbst leuchtende Fläche, auf der ich flimmernde Punkte unterscheide, immer kleiner und kleiner werdend, allerkleinste Teilchen, aber nie verschmelzend. Mein Körper verlangt nach der Salzigkeit des Meeres, nach der salzigen und jodgetränkten Luft, einer sprühenden Luft, die kleinste Salzkristalle trägt, und es ist manchmal eine Wonne, sich wenigstens über ein Reagenzglas mit Jodtinktur zu beugen. Quälend das Verlangen nach dem Geschmack des Meeres, nach Seefisch, nach Hummer, man hungert nach Meeresnahrung, und ich glaube, wenn mir plötzlich ein Häufchen Meeresalgen vorkäme, ich äße sie glatt auf. Und es »verlangt« einen doch nach dem, was der Organismus braucht und was ihm fehlt. Mir fehlen diese Geschmacksstoffe und Nahrungsmittel, die nach den Evolutionisten, etwa [René] Quinton [»L’ eau de mer«], die ursprünglichen im Leben waren.
Ich glaube natürlich den Evolutionisten kein Wort, ich denke, daß selbst ein Mann wie Quinton seine Theorie mitnichten aus rationalen Motiven entwickelt, sondern sich selbst das süße Märchen seiner Kindheit am Meer erzählt hat. Wenn die Schüler und die Anhänger begreifen könnten, worauf sich eigentlich die Theorie ihrer Lehrer gründet, auf welche der Rationalität fernen Intuitionen der Kindheit, würden sie mit ihrem jurare in verba magistri [auf die Worte des Lehrers schwören] aufhören und dafür tiefer in die verborgene, kindlich geniale Persönlichkeit dieser Lehrer einzudringen versuchen.
Und weiter: Eine mir innerlich, beinahe leiblich vertraute Sprache sprechen in der Mathematik die Fourier-Reihen und andere Gliederungen, die jeden komplizierten Rhythmus als ein Ganzes, als ein unendlich großes Ganzes von einfachen Gliedern darstellen. Vertrautes sagen mir kontinuierliche Funktionen ohne Differentialquotient und stetig diskontinuierliche Funktionen, wo alles gestreut ist, wo alle Elemente erhalten sind. Wenn ich in mich hineinhöre, entdecke ich im Rhythmus des inneren Lebens, in den Klängen, die mein Bewußtsein erfüllen, diese auf ewig in mein Gedächtnis eingegangenen Rhythmen der Wellen, und ich weiß, daß sie es sind, die in mir im Schema jener mathematischen Begriffe ihren bewußten Ausdruck suchen. Ja. Denn der rhythmische Klang der Welle wird geschnitten von kleineren und schnelleren Rhythmen, Rhythmen zweiter Ordnung, diese wiederum werden gegliedert durch Rhythmen dritter Ordnung und diese durch solche vierter Ordnung usw., usw. Wie weit wir auch immer gehen, nie hört das Ohr die letzte Gliederung, die nicht weiter zu gliedern ist, die unartikuliert bleibt wie ein der Brust sich entringender Laut, der sich dem Bewußtsein mitteilt; immer scheint der Laut gestreut und die Kontinuität der Welle wieder und wieder zerschnitten, bis ins Unendliche gegliedert, und sie gibt daher dem Begreifen immer neu Nahrung. Später, als ich das berühmte Glockenläuten von Rostow hörte, wo sich immer schnellere Rhythmen verflechten und überlagern, erinnerte ich mich wieder an die rhythmische Struktur der Meeresbrandung und die Fugen von Bach, die Urrhythmen meiner Seele. Tatsächlich setzt sich das Rauschen der Brandung aus den Geräuschen des Falls der einzelnen Tropfen des Meereswassers zusammen. Leibniz versichert, daß wir dieses einzelne Fallen nicht hören und nur das summarische Rauschen an unser Ohr dringt. Aber das stimmt nicht; wir hören es, wir hören das Fallen eines Tropfens, und wir hören das Fallen der Teile des Tropfens und so bis ins Unendliche, wenn wir hinhören, wenn wir uns dem Eindruck der Brandung in unserem Herzen, in der Tiefe unserer Seele hingeben: Da entdecken wir die unendliche Gestreutheit des Lautes, der bis in seine kleinsten Elemente gestreut ist, immer deutlich geschieden und trocken. Die geheimnisvolle, unendliche Fläche des Meeres, unendlich in ihrem Gehalt und in ihrem Klang, ist ebenso unendlich in ihrer Körnigkeit, in der feinsten Körnigkeit ihres Leuchtens. Das Tosen des Meeres – ein Orchester, eine unendliche Vielzahl von Instrumenten. Einen Klang gibt es, der ihm in seinem Gehalt verwandt ist und auch den schaffenden Tiefen des Seins entspringt. Es ist das Ornament der einander einholenden und überholenden Rhythmen, das entsteht, wenn Tropfen in Höhlen fallen – auch hier Tropfen, wo das Wasser durch Decken und Wände dringt. Auch hier hört man in den Rhythmen immer neue Rhythmen und auch hier bis ins Unendliche. Sie schlagen wie unzählige Pendel, die die Zeit des Lebens der ganzen Welt festlegen, verschiedene Zeiten und verschiedene Pulse unzähliger Lebewesen. Und wenn du in die Werkstatt eines Uhrmachers kommst, dann hörst du dort ein ähnliches Rauschen von einer Vielzahl von Pendeln, auch das vertraut, auch das an den Schoß der Erde und an die Tiefen des Meeres erinnernd.
Hafen. Auf andere Weise, dringlicher, intimer, aber geheimnisvoller und verlockender zog mein Wesen diese Tiefe im Hafen an. Die großen, in den Meeresboden gerammten hölzernen Pfähle und Pfosten sind gewissermaßen gefurcht von geheimnisvollen Hieroglyphen, den Gängen der Holzwürmer. Das hatte ich mir gut gemerkt: Gerade in solchen Öffnungen wohnen unbekannte Wesen, Geister, die Bukas [Kobolde, Hausgeister], das hatte einmal meine Kinderfrau gesagt, als ich, ganz in die Betrachtung eines dunklen Ganges an einem Balkonpfosten versunken, ungeduldig gefragt hatte, was das sei: »Hier wohnt der Buka.« Ich wußte genau, schon damals, daß mir nur ein einfacher Mensch die Wahrheit offenbart, und als ich sie von meiner Kinderfrau erfahren hatte, war ich innerlich sofort überzeugt, nur so konnte es sein, aber ich verbarg natürlich, um nicht unnütz Gespräche in Gang zu bringen, meine Entdeckung vor den Eltern und schwieg nur vielsagend, wenn sie mir etwas von Würmern erzählten.
Hier am Hafen also gab es zahllose Bukas, und sie verbargen sich nicht einmal, sondern schrieben auf die Pfähle höchst geheimnisvolle Zeichen. Diese Pfähle waren mit dicken Bohlen belegt, zwischen denen breite Spalte klafften. Die Bohlen waren immer sauber, wie überhaupt immer alles sauber ist, was zum Meer in Beziehung steht. Die abgestorbene, verrottete und morsche Schicht wird ständig abgetragen, gelegentlich finden sich Stellen von Pech, Erdöl oder Teer daran. Es riecht nach Teer, nach Harz, nach Meer und nach verschiedenen exotischen Waren, die in Ballen gestapelt daliegen. Eigentümliche Wurzeln liegen verstreut umher – Färberkrapp, Curcumá [Ingwer] und andere. Verschiedenenorts türmen sich dicke, dicke Taue nach damaligen Begriffen, die stark nach Teer und Pech riechen und wie Zwirnrollen von Riesen aussehen. Durch die Ritzen des Bretterbodens unter den Füßen sieht man das dunkelgrün schimmernde Wasser mit seiner nicht aus der Ruhe zu bringenden Oberfläche, die sich langsam und träge wiegt, ölig ist; ihre kaum wahrnehmbaren öligen Bewegungen bilden ein großes gleitendes Netz grüner kleiner Schlangen. Was bedeuten diese goldgrünen kleinen Schlangen? Woher kommen sie? Diese Frage ging mir ständig im Kopf herum, mein Gott, was habe ich über sie nachgedacht! Viele Male habe ich sie laut gestellt, aber immer erhielt ich die verdutzte Antwort, das scheine nur so, es komme von der Bewegung des Wassers. Von der Antwort war ich jedesmal tief enttäuscht.
Ich spürte, daß man die Frage eigentlich nicht verstanden hatte und über meine Frage nur in Verlegenheit geriet. Nicht verstanden, weil man nie gesehen hatte, was ich sah. Ich sah Schlangen, die an der Oberfläche spielten, schillernd in Smaragd und Chrysolith, bezaubernd schön und freundlich, freundliche, gütige kleine Schlangen, die mit mir in Verbindung treten wollten. Ich sah sie, ich spürte sie und ich wußte, daß sie freundliche, gütige und schöne kleine Schlangen waren. Ich wollte es nur bestätigt haben, ich wollte im einzelnen hören und erfahren, wie man mit ihnen in nähere Verbindung käme, wie man sie berühre, küsse und sich mit ihnen unterhalte. Statt dessen leugnete man einfach ihre Existenz, und nicht nur ihre, sondern die Existenz des Besonderen, das ich im Spiel des Wassers sah, überhaupt. Da verbarg ich meine Frage und das, was ich sah, für lange in meinem Inneren. Nach einer gewissen Zeit stellte ich sie erneut, aber wieder das gleiche Unverständnis. Die gesuchte Antwort über die lieben kleinen grünen Schlangen und die Bestätigung meiner Bekanntschaft mit ihnen bekam ich erst bedeutend später, schon als Student, nämlich von dem Studenten Anselmus in E.Th.A. Hoffmanns »Goldenem Topf«.
Hier am Hafen war das Wasser besonders geheimnisvoll. Es war durchscheinend und von sattem Grün wie ein riesiger Smaragd; von Licht durchtränkt, leuchtete es giftig und drohend, aber auch überströmend von schöpferischer Kraft. Langsam, kaum sichtbar glitten schillernde Wellen über seine ölige Oberfläche und schlugen gegen Pfosten und Schiffswände. Kelch und Fangfäden ausgebreitet, vergnügten sich große und kleine Medusen im Wasser. Langsam schwammen sie vorbei, ihre bläulich opalisierenden Körper schaukelten und wiegten sich in dem smaragdenen Naß. Schwärme kleiner Fische schossen vorüber, und manchmal sah man die Umrisse eines größeren Fisches in der Tiefe. An verschiedenen Stellen schillerte die Oberfläche des Wassers vom Erdöl in den Farben des Regenbogens.
Von einem Dampfschiff wurden Ballen abgeladen, aus denen geheimnisvolle Wurzeln oder Samen herausfielen; Vogelbauer mit Papageien, Bananenstauden, Kokosnüsse, Säcke voll amerikanischer dreieckiger Nüsse, Erdnüsse wurden von Bord gebracht. Alle möglichen Sprachen und Dialekte waren zu hören. Menschen verschiedenster Nationalität waren am Hafen zu sehen – Griechen, Türken, Armenier, Georgier, Franzosen, Engländer, Belgier, Deutsche, Italiener usw., usw., sogar Neger, deren Kolonie sich unweit von Batum befand – wen hätte man hier nicht gesehen? Und alle in ihren besonderen Kleidern. Alles war ungewöhnlich – alles: die Gerüche, die Laute, die Farben, eins steigerte sich am anderen und weckte das Gefühl für das Geheimnisvolle. Und das Wichtigste war, von allem gab es viel, viel, viel... Der schöpferischen Kraft der Natur war kein Ende, und all dieses »Viele« wird von dieser durchscheinenden, grünen, fluoreszierenden Oberfläche des Meeres hierher getragen. Die Tiefe des Meeres birgt unzählige Leben, seltsame und schöne Tiere und Pflanzen, deren jedes innerlich mit mir verbunden ist, innerlich zu meinem persönlichen Leben in Beziehung steht, sich mit seinem Sein in meines ergießt und es als gleiches unter gleichen anerkennt, als Glied des unendlichen Reiches des geheimnisvollen, von fluoreszierendem Licht leuchtenden Lebens.
Mein Vater erzählte uns von Reisen in ferne Länder und begeisterte sich, glaube ich, selbst an den Bildern der exotischen Natur oder der Natur des hohen Nordens. Auch meine Tante erzählte von Reisen. Die feuchte, salzige und nach Teer riechende Luft, zusammen mit den in die Ferne lockenden Erzählungen lenkte die ganze Aufmerksamkeit, alle Seelenkräfte auf die Schiffe und die Glücklichen, die auf dem Rücken des Meeres in ferne Länder fuhren, wo biegsame Palmen emporragen, beladen mit Kokosnüssen und Datteln; wo sich auf den Zweigen sonderbarer Bäume rote und grüne Papageien wiegen, die geheimnisvollen, dunklen, dreieckigen amerikanischen Nüsse knacken und seltsame Dinge sagen, voll geheimen Sinns, natürlich auf Russisch; wo um riesige, grelle, wohlriechende Blüten liebliche Kolibris flattern; wo die Giraffen mit ihren Hälsen die höchsten Bäume überragen, wo die gigantische Rafflesia Arnoldi wächst und wo in den Gewässern wie Kissen von einem bis anderthalb Metern Durchmesser die üppige Victoria regia schwimmt, auf die ich mich so gern einmal gesetzt und gelegt hätte. Breitblättrige Bananenbäume brechen fast unter der Last ihrer Früchte. Farbenprächtige geheimnisvolle Orchideen thronen Vögeln gleich auf den Ästen der Bäume und lassen ihre Wurzeln, die wie weiße, fette Würmer aussehen, herunterhängen. Äffchen tun sich an Bananen gütlich und werfen mit den Schalen nach behäbigen Elefanten. Ein würziger, warmer Hauch hängt zwischen dichten Lianen: Er kommt von den unzähligen wohlriechenden Bäumen – Nelke, Kardamom, Muskat, Sternanis (Sternanis hielt ich für einen Baum) – und den geschwungenen Peitschen der Vanille, die die Luft mit ihren Düften erfüllen. Allein das Wort Aroma war voll Musik für mich und von hoher Bedeutung. Riesige stachlige Kakteen tragen weiße und rote Blütenkrönchen.
Und alle diese Laute und Düfte vor dem Hintergrund der Brandung des blauen, blauen Meers, das auf den goldenen Sand des flachen Strandes perlt. Im Meer blühen prachtvolle Korallen, schwimmen wundersame Fische, kriechen Ungeheuer von Langusten und Krabben. In unmittelbarer Nachbarschaft natürlich, aber doch etwas entfernter und als weniger angenehm empfunden im Schatten des Bewußtseins – Wale, Pottwale, Haie, besonders der Hammerhai, der Sägefisch und der Narwal. Hier, bei uns in Batum verbarg das Meer immer sein geheimnisvolles Wesen; aber dort in den fernen überseeischen Ländern tritt es in überwältigendem Glanz in all seiner Majestät hervor.
Und diesen ganzen unendlichen Reichtum an Farben, Blüten und Düften, der meinen Verstand betörte und mir den Atem benahm vor Erregung, diese ganze Fülle bringt das Meer hervor. Diese ganze überseeische Welt erschien mir in meiner Phantasie wie emporgestiegen aus dem blauen, dem tiefen blauen Meer, das diese Welt umspült und nährt.
1920.22.VI.Montag
Dort, unter den glühenden Strahlen der Sonne ist das Meer offenherziger, dort zeigt es seine Flut und seine Ebbe, die ich für mein Leben gern gesehen hätte. Dort wirbeln Wassersäulen über das Meer, Wasserhosen, dort werden die Wellen so hoch wie vierstöckige Häuser. Und doch ist es hier dasselbe Meer, aber hier verbirgt es seine Kräfte und sein Leben im Geheimnis seiner Wellen.
Ich lauschte den Wellen. Matt schlagen sie ans Ufer – Nachrichten aus fernen Ländern, aus dem Unbekannten, eine Welle, eine zweite Welle, eine dritte... Aber dann plötzlich eine stärkere Welle, wenn du badest, wirft sie dich um. Dann wieder träge schmeichelnde Wellen, mehrere, und dann wieder eine stärkere. Ich fragte, warum sind die Wellen nicht gleich? Ich bekam irgendeine Antwort, welche, weiß ich nicht mehr. Aber ich wußte auch ohne Antwort, warum: Wenn jemand erzürnt ist und sich beherrscht, spricht er scheinbar ruhig, bis er sich plötzlich an einem Wort stößt und der Zorn offenbar wird. So auch beim Meer. Es möchte seine Kraft verbergen, aber von Zeit zu Zeit verrät es sich durch eine starke Welle.
Auf dem von der Sonne erwärmten Kies liegend blickte ich stundenlang aufs Meer. Es war von stahlblauen Streifen durchzogen, seine Oberfläche war unregelmäßig. Woher kamen diese Streifen und Flecken? Im Nu änderte sich die Farbe des Meeres, wenn sich auch nur das kleinste Wölkchen vor die Sonne schob: Das Meer wurde finster, es war deutlich unzufrieden. Wie goldene Fischlein sprangen Fünkchen auf der Oberfläche des Meeres – konnte man bezweifeln, daß im Meer etwas Bedeutsames vor sich ging? Wenn ich fragte, sparten die Erwachsenen durchaus nicht mit Erklärungen, aber diese Erklärungen gingen an den Fragen vorbei, und ich hielt es nicht einmal für nötig zu widersprechen: So sehr mich die Erwachsenen liebten, so wenig verstanden sie, wie mir schien, den wahren Sinn meiner Fragen. Jede Frage bot doch auch eine gewisse Antwort oder wenigstens die Richtung der Antwort an. Aber die Erklärungen der Erwachsenen rechneten gar nicht mit diesem Sinn, sie erkannten das, was meine Frage eigentlich ausmachte, nicht an: Sie vernichteten die Frage, sie vernichteten meine Grundfrage, die nach dem Leben des Meeres.
Ja, ich sah, ich spürte, das Meer lebt, und ich nahm sein Leben als eine ganz gewöhnliche Tatsache, die keiner weiteren Erklärung bedurfte – ich nahm es wie mein eigenes Leben. Wenn ich mein »Warum?« fragte nach den grünen Schlänglein, nach der Veränderlichkeit der Farbe der Meeresoberfläche, nach dem gebrochenen Rhythmus der Brandung, nach den vom Meer abgeschliffenen Hölzern und nach vielen anderen ähnlichen Erscheinungen, so wollte ich erstens eine Bestätigung für das erhalten, was ich im Grunde selbst wußte, daß das Meer lebt, daß es ein lebendiges, geheimnisvolles Geschöpf ist; ich wollte von meiner Umgebung nur das hören, so etwas wie ein Amen für meine Erfahrung. Wenn diese Tatsache im allgemeinen anerkannt war, dann suchte ich zweitens etwas im besonderen über den Sinn der einzelnen Erscheinungen in seinem Leben zu erfahren, über die Lichtblitze, über das Lächeln und über das Zürnen des Meeres. Man antwortete mir etwa in dem Sinne, daß es sich bei der mich bewegenden Erscheinung eigentlich nicht um eine Erscheinung des Lebens handle: Die Erwachsenen machten sie zu etwas Zufälligem und Äußerem, das zufällige und äußere Ursachen hat.
Man antwortete mir, es handle sich »einfach um eine Spiegelung des Lichts«, »einfach um eine Strömung an der Oberfläche«, »einfach um Wellen« usw. Ich wollte mich in das Leben des Meeres versenken, das, ich wiederhole es, für mich eine Tatsache war; ich forschte nach jenen geheimen Kräften des inneren Lebens, die die einzelne Erscheinung hervorriefen. Und da zogen die Erwachsenen diese Erscheinung ans Licht und erzählten mir, das sei sehr einfach und nur etwas Äußerliches. »Ich muß das besser wissen, sie ist nicht einfach und nicht von ungefähr so. Das lasse ich mir nicht ausreden. Und ich bitte darum, mir zu sagen, welches der Platz dieses Nichteinfachen unter den verschiedenen Einzelheiten der auch nicht einfachen primären Tatsache ist.«
Meine damaligen Überlegungen in eine spätere Sprache übersetzend – und ich weiß, daß ich das Wesen meiner Empfindungen und vagen Gedanken richtig wiedergebe – bediene ich mich eines Beispiels: »Ich sehe einen Menschen; sein Leben ist für mich eine Tatsache. Wer diese Tatsache nicht leugnet, erkläre mir bitte, warum er gewissermaßen ohne Grund lächelt und plötzlich grollt. Er erkläre mir, welche Eindrücke oder Gedanken sein Mienenspiel hervorrufen.« Die Antwort wäre etwa: »Es handelt sich um die Verkürzung gewisser Muskeln infolge eines Impulses, der die und die Nervenstränge passiert.« Das wäre eine Antwort gewesen auf meine Frage, die die eigentliche Frage nach dem Sinn der Erscheinung negierte. Ich zweifle ja nicht daran, daß das Lächeln dieses Menschen eine innere Bewegung ausdrückt. Genauso empfand ich die Antworten der Erwachsenen auf meine Frage nach dem Sinn dieser oder jener Erscheinungen im Leben des Meeres. Ich blieb natürlich bei meiner Auffassung und versuchte selbst, mich in diese Erscheinungen einzufühlen. Stundenlang lauschte ich den komplizierten Rhythmen der Brandung, beobachtete ich das Spiel des Aufblitzens und das Spiel der Farben an der Meeresoberfläche. Besonders beschäftigte mich der Schaum auf dem Meer. Wie kommt es, daß ständig dieses weiße Netz an der Oberfläche des Meeres entsteht und dann wieder vergeht? Der Schaum sollte nicht leben? Er kam mir vor wie ein riesiges Wesen, das auf der Meeresoberfläche schwimmt, und ich wollte dieses Wesen fangen und es näher betrachten. Aber es gab sich mir nicht in die Hände, auf der Handfläche blieben nur ein paar uninteressante Luftbläschen zurück. Der Schaum ließ sich wie die Medusen nicht erforschen, er existierte nur in dem ihm eigenen Element. Sollte einem das nicht zu denken geben, daß es viele Erscheinungen und Wesen gibt, die zu nichts werden, wenn der Forscher sie aus ihrem Lebensmilieu herausreißt; das sagt aber nicht, daß sie nicht existieren. Zum Beispiel die Träume. Man sieht sie, wenn man schläft, und sie verschwinden beim Erwachen. Heißt das etwa, daß es sie nicht gibt? Wäre es nicht richtiger zu sagen: In die Wachheit geholt, lösen sie sich auf wie die Medusen und der Schaum an der Luft?
»Hotel Frankreich«. Die venezianischen Läden. Die Besuche im Hafen sind in meiner Erinnerung mit Garnelen verknüpft. Nach dem Hafen lud uns Papa gewöhnlich in ein Strandrestaurant ein, es war das beste in der Stadt; es wurde von einem Franzosen bewirtschaftet, und er hatte ihm den für meine Ohren verführerischen Namen »Frankreich« gegeben. »Hotel Frankreich« – »Hotel de France« stand auf dem Schild. Für meine Begriffe war Frankreich der Gipfel der Verfeinerung und der Kultiviertheit; in Frankreich ist alles elegant, alles gepflegt, und es kann keine bedeutendere Sprache geben als das Französische, ganz im Gegensatz zum Deutschen, das ich verachtete, und zu Deutschland, von dem ich nichts wissen wollte.
Spießigkeit, Geschmacklosigkeit, Pedanterie, Verschrobenheit, Geiz, Knickrigkeit – Deutschland bestand für mich nur daraus. Freilich kannte ich seit frühester Zeit den »Faust«, ich hatte ihn im Gefühl und konnte ihn in der Übersetzung von Wrontschenko auswendig, die Namen und die Musik der deutschen Klassiker lebten in meinen Gedanken. Davon übrigens später. Das alles brachte ich jedoch nicht mit Deutschland in Verbindung, ich hielt es für allgemeinmenschlich. Kultur, das war Frankreich. Deshalb erschien mir das »Hotel Frankreich«, obwohl es nicht Frankreich selbst war, sondern nur ein Hotel, auch der Anerkennung wert: Ausschlaggebend war dabei das Gefühl für die Wirklichkeit der Namen und der Glaube an Namen.
Vor diesem Hotel standen direkt an der Straße, auf einer breiten asphaltierten Terrasse inmitten von Kübeln mit Apfelsinenbäumen und Kästen mit Schlingpflanzen unter einem Leinendach kleine Tischchen. Wir ließen uns nieder, und Papa bestellte wie immer die von uns so geliebten Garnelen. Manchmal nahmen wir sie in Papiertüten mit nach Hause, selbstverständlich für jeden eine, eine für mich und eine für Ljusja. Unser größtes Vergnügen war eine Unart – von Mama wurde sie unter keinen Umständen geduldet, von Papa aber unterstützt –, die Unart, auf der Straße zu essen. Es war so spannend, mit dem Blick auf Hafen und Meer die kleinen Krebse zu knabbern, die ebenfalls nach Meer rochen. Übrigens eine sehr unschuldige Unart, denn Batum war nicht viel mehr als ein passables Dorf, und ein Spaziergang durch die Straßen in jenen fernen Zeiten unterschied sich nicht von einem Ausflug in die Umgebung der Stadt mit Picknick.
Manchmal gingen wir die Uferstraße weiter bis ans Ende, bogen rechts in eine enge Gasse ein und gingen dann noch einmal links ab. Hier war das türkische Viertel. Eng aneinandergeschmiegt standen kleine Fischerkneipen und winzige Läden, die mit Mühe zwei Kunden faßten. Die langen Beine ausgestreckt saßen Adsharier, Türken und Griechen auf den kleinen Steinen vor der Tür, spielten Nardi und sogen phlegmatisch an ihren Wasserpfeifen. Das Viertel galt als gefährlich, es war damals von Schmugglern bewohnt. Aber es war von solcher Eigenart, daß es sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt hat. Auch Papa ging, glaube ich, nicht ohne Bangen hierher. Es hieß, man werde hier am hellichten Tage ausgeraubt, und man riet in Batum allgemein von einem Besuch ab. Es gab hier einen kleinen Laden, der das Ziel unserer Wünsche war und den wir wie alte Bekannte betraten. Der Besitzer war ein von der Luft gegerbter und braungebrannter Venezianer oder Grieche. Er handelte mit Korallenketten, verschiedenen anderen kleinen Sächelchen aus rosa und roten Korallen, mit Muscheln, venezianischen Perlen und daneben mit dicken teergetränkten Tauen, Schiffsleinen, Schnüren und Angelgerät. Der Laden war märchenhaft schön. Schnell zusammengezimmert aus grob gehobelten teergetränkten Brettern, so klein, daß man sich nicht drehen konnte; stark nach Harz und Meer, nach Tang und Meeresprodukten riechend, barg er in seiner Schale viele herrliche geheimnisvolle Dinge, wie eine schiefrige Muschel Perlen. Übrigens gab es in diesem kleinen Laden tatsächlich Perlen. Die Korallen lockten mich mit der Grellheit ihrer abstrakten Farbe und ihren eigenartig eckigen Konturen – wie das geronnene Paraffin an den roten Weihnachtskerzen, sagten meine Schwester und ich damals, und diese Nähe der Korallen zum Weihnachtsbaum ließ sie uns besonders verlockend erscheinen. Man hatte das Gefühl eines geheimnisvollen Lebens und einer eigenen Magie; ich liebte die rote Farbe nicht, aber dieser, in ihrer Abstraktheit nicht klebrigen, konnte ich nicht widerstehen. Der Händler, höchstwahrscheinlich ein Schmuggler, zog unter dem Ladentisch, wo auch Dörr- und Räucherfisch lagerte, riesige Tridacna-Muscheln hervor, und ich mußte denken, daß die Tridacna sogar einen Adler wie mit Eisenklammern festhalten kann, so daß er nicht mehr loskommt und in der Meeresflut zugrundegeht. Die weißen Korallenäste sahen aus wie Meerespflanzen; ich wußte, daß sie die Behausung kleiner Lebewesen sind, glaubte es innerlich aber nicht recht. So sagt man wohl, dachte ich, wenn man mit Erwachsenen spricht; wie viele andere naturwissenschaftliche Erklärungen hielt ich auch diese für eine Art konventionellen Entgegenkommens, für einen Euphemismus, der erlaubt, die Geheimnisse nicht zu berühren, der aber im Grunde der Sache nicht entspricht.
1920.24.VI.
Das beste waren die venezianischen Perlen. Sie waren alle mit der Hand gemacht. Seit ich mich erinnern kann unterschied ich, ohne mich je zu irren und beinahe ohne hinzusehen, sofort Hand-Arbeit von Maschinen-Arbeit. Obwohl die Maschinen und ihre Erzeugnisse mein Denken sehr beschäftigten, habe ich doch, einesteils aus ästhetischen Gründen, andernteils von meinem inneren Wesen her, Maschinenerzeugnisse unbesehen verachtet: Die ganze Welt durchfloß nach meiner Vorstellung ein Lebensstrom, der sie organisiert, die ganze Welt zeichnete in ihrem Inneren ein Spiel der Tiefe aus, und die maschinellen Dinge erschienen mir irgendwie seelenlos und flach, nicht im geringsten geheimnisvoll, sondern durch und durch verständlich, ganz so wie bei Mill und Bain.
Jedes Erzeugnis von Menschenhand, was immer es sei, auch das allergröbste, hat immer den geheimnisvollen Schimmer des Lebens, diesen Schimmer nimmt man an einer Muschel, an einem von den Meereswellen glattgeschliffenen Stein, an der Geschichtetheit des Achats oder Karneols, an den feinen Verästelungen der Adern eines Blattes unmittelbar wahr. Das Maschinending schimmert nicht, es blitzt, es hat einen toten, unverschämten Glanz. Und es wäre verfehlt zu glauben, Kinder bemerkten diesen Unterschied nicht; nein, sie bemerken ihn im allerfrühesten Alter. Was mich betrifft, so habe ich die Kluft zwischen Handarbeit und Maschinenarbeit damals tiefer erfahren als später. Da war etwas definitiv Trennendes wie zwischen ja und nein, wie zwischen Weiß und Schwarz. Davon war ich von Kindheit an vollkommen überzeugt. Ich erinnere mich ganz genau, daß ich den qualitativen Unterschied zwischen Hand- und Maschinenarbeit sehr lebhaft, unmittelbar, beinahe physiologisch – wie den Zustand meines Körpers – empfand, obwohl ich das so deutlich nicht immer hätte sagen können. Später erfaßte mich aus dem Gefühl für das Handgemachte eine Neigung zu [John]Ruskin, aber da ich mit Physik und Mathematik beschäftigt war, stieß ich erst sehr spät auf Ruskin, erst nach der für mich entscheidenden geistigen Krise, von der später noch die Rede sein wird. Jetzt aber zu den venezianischen Perlen. Sie waren wahrhaft wahr und deshalb schön: Jede offenbarte genau das, was ihrem ursprünglichen Wesen entsprach, die Bearbeitung diente einzig der Offenbarung dieses Wesens – sie war eine Enthüllung, nicht Verhüllung dieses Wesens. Jede dieser Perlen atmete, lebte, verband sich ganz und gar mit der Natur, indem sie auf ihre Art die Natur übertraf. Die einen bestanden aus einer Paste, sie hatten die Form von vierkantigen Stängchen und von Würfelchen, die runden oder flachen waren mit Einsprengseln aus andersfarbiger Paste versehen. Angenehm war, daß sie nicht bemalt waren, daß ihrer Oberfläche nicht ein besonderes Ansehen gegeben wurde, sondern daß das echte Material sichtbar blieb. Angenehm auch ihre Form, die in den Konturen nichts mechanisch Regelmäßiges hatte; zielgerichtet strebten sie alle einem bestimmten Typ zu, soweit und in dem Maße, wie es die Sache erforderte; diese Perlen hatten keine mechanisch scharfen Kanten, keine mechanisch geraden Linien, keine mechanisch identische Zeichnung. Die Perlen ließen einen die formende Hand spüren, sie waren der unmittelbare Ausdruck schöpferischer Kraft. Deshalb hatte man den Wunsch sie anzufassen, sie mit den Fingerspitzen zu berühren, sie auf der Handfläche zu fühlen und springen zu lassen und sie in den Mund zu nehmen.
Die anderen Perlen waren aus Glas, vornehmlich dunkelgrün und dunkelblau. Zu ihnen muß ich auch etwas sagen. Ihre Farbe empfand man als die Farbe der Glasmasse, als wesentliche Eigenschaft des Materials und nicht als äußerlichen, willkürlichen, zufälligen Schmuck. Ihre unpolierte Oberfläche mit den auf natürliche Weise entstandenen parallelen Unebenheiten in Gestalt feinster Schraffierungen, ihre inneren, parallel zu diesen Schraffierungen auftretenden Farbunregelmäßigkeiten zeigten die Tiefenstruktur des Stoffes der Perlen; man fühlte richtig, wie sich der weiche zähe Glasteig bei der Herstellung der Perlen zog, wie die Kräfte der Oberflächenspannung wirkten, die der halb erstarrten Masse ihre Form gaben, überhaupt spürte man etwas von dem festgehaltenen Kampf und dem Wechselspiel der Kräfte, die die Perlen hervorgebracht hatten.
Diese Perlen haben sich meinem Bewußtsein als erstarrte Urphänomene eingeprägt, als von einem arglosen Handwerker enthüllte tiefe Wahrheit des Stoffes. Mir war klar: Diese Perlen sind weniger künstlich als zufällige Stücke solchen Stoffs, denn die Kunst führt hier nicht zur Verhüllung, sondern zur Enthüllung des Willens des Materials, hilft ihm, das zu werden, was es sein möchte, während die Maschine diesem Willen Gewalt antut. Durch diese Perlen, über die Vermittlung dieser Perlen lehrt uns der Stoff der Welt, ihn zu lieben und sich seiner zu freuen. Und ich liebte ihn – nicht die Materie der Physiker, nicht die Elemente der Chemie, nicht das Protoplasma der Biologie, sondern den Stoff selbst, mit seiner Wahrheit und seiner Schönheit, mit seiner Sittlichkeit. Bebend fühlte ich, daß die Perlen dieses venezianischen Schmugglers nicht allein schön sind, sondern wahrhaft herrlich, wie überhaupt die erschaute Tiefe des Seins herrlich ist, wie alles Echte herrlich ist. Sie waren in meinem kindlichen Bewußtsein etwas Noumenales. Und dieses Noumen der Perlen verband sich mit dem Noumen des Meeres, erinnerte an seine Steine, seine Muscheln, sein bald blaues, bald grünblaues und grünes Wasser. Und nun frage ich mich: Hat nicht dieses Gefühl für das Meer den Venezianern, diesen halben Meeresbewohnern, die Kunst dieser, den Hervorbringungen des Meeres so verwandten Perlen eingegeben?
Überfluß. Ich liebte das Meer für sein Geheimnis – das Geheimnis der seine ganze Masse erfüllenden Farbe, das Geheimnis seines verlockenden Geruchs und seines Rauschens, das Geheimnis seines bitter-salzigen Wassers, das in so überraschender Weise Tränen glich, das Geheimnis der seltsamen Wesen, die in ihm lebten. Es gab eine innere Verwandtschaft zwischen ihm und mir, was aber das Wichtigste war, es erdrückte nicht durch seinen Überfluß. Jene über-seeische Welt war auch eine Welt über alle Maßen, sie kam einem beinah unirdisch vor. In dem Meer vor mir, hier am Ufer gab es diese übermäßige Zeugungskraft nicht, man hätte es mit Homer eher »unfruchtbar« nennen müssen. Von qualitativer Fülle, erdrückte es nicht mit der Quantität seiner Erzeugnisse. Ich sah seine schöpferische Kraft, aber das war eine verhaltene Kraft, sie begegnete einem nur als Möglichkeit und ermüdete den Geist nicht. Die Zeugungskraft der tropischen Ufer hatte hier am Ufer des Schwarzen Meeres ihre Besonderheiten.