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Tante Sonja

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Bei uns lebte auch eine Schwester meiner Mutter, Tante Sonja. Sie war noch ziemlich jung, fast ein Mädchen, und sie lernte Klavierspielen. Dunkel erinnere ich mich an ihre Tasche, mit der sie in die Musikschule ging, sie war schoko­ladenbraun und trug eine goldene Aufschrift, wahrscheinlich Musique. Dann erinnere ich mich noch an warme Milch, sie wurde ihr in einem Glas ins Zimmer gebracht; vielleicht war sie krank, oder es war, als sie Tuberkulose bekam. Milch aber, besonders warme, ekelte mich von Kindheit an, das erklärt möglicher­weise, warum ich so leicht zu entwöhnen gewesen war, oder umgekehrt, ich hatte eine Abneigung gegen Milch, weil ich nicht mit ganzer Seele an der Brust der Mutter gehangen hatte, und Tante Sonja, die diese warme Milch gebracht bekam, betrachtete ich halb mit Staunen, halb mit Mitleid. Mir erschien das alles geheimnisvoll und rätselhaft. Den Erwachsenen offenbarte ich mich verständ­licherweise nicht. Und zwar nicht, weil Kinder ihre tiefsten Empfindungen Erwachsenen nie offenbaren, sondern eher deshalb, weil mir meine Empfin­dungen so natürlich, so allgemein, so gewöhnlich vorkamen, daß über sie zu sprechen sich nicht lohnte; und wie sollte man die Worte finden, die die Gefühle und Gedanken ausdrückten, welche den ganzen Umkreis des inneren Lebens umfaßten und die zudem bei all ihrer starken Besonderheit und Kraft unklar, unfaßbar, unausdrückbar waren? In der Kindheit beherrschte mich vollkommen das Gefühl des Geheimnisvollen, es bildete den Hintergrund meines inneren Lebens, von dem sich die Zärtlichkeit und Liebe zu meinen Eltern abhob. Die ganze Umgebung, alles, was gewöhnlich gar nicht als geheimnisvoll erscheint oder gilt, sehr viele einfache Gegenstände und Erscheinungen des Alltags hatten für mich besonders tiefe Schatten, geradezu eine vierte Dimension, sie traten wie aus einem prophetischen Rembrandtschen Dunkel hervor.

Es gab noch einen Vorfall, der diese Empfindungen in mir verstärkte. Einmal hörte ich die Erwachsenen davon sprechen, daß Tante Sonja eingewachsene Zehennägel habe und eine Operation nötig sei. Ich war ungeheuer aufgeregt. Das Wort »Operation« schreckte mich, obwohl ich es gar nicht verstand. Ich weiß noch genau, wie jemand kam, wahrscheinlich der Feldscher, wie alle in Tante Sonjas Zimmer gingen und mich allein ließen, wie man warmes Wasser verlangte und wie dann die Schüssel mit dem blutuntermischten Wasser herausgetragen wurde. Mir schien, die Schüssel sei voll dampfenden Blutes, ich war betroffen, ein Anblick – Geheimnis und Grauen zugleich. Diesmal aber war es die objektive Sicht auf das Grauen, ich begriff, daß die geheimen Mächte dieses Mal nicht mich bedrohten.

Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus

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