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Eindrücke des Geheimnisvollen

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1919.5.III. Sergijew-Posad

Der Funken. Etwas scheinbar Gewöhnliches und Einfaches, in seiner Häufigkeit ganz Alltägliches zog infolge bestimmter besonderer Umstände nicht selten meine Aufmerksamkeit auf sich. Plötzlich zeigte sich, daß es nicht so einfach war. Wahrhaftig, plötzlich erinnerte einen diese einfache und gewöhnliche Erscheinung an etwas anderes, in ihr offenbarte sich etwas Noumenales, das höher oder besser tiefer war als diese Welt. Ich vermute, daß es sich hier um das Gefühl und die Wahrnehmung handelt, die den Fetisch schafft: Ein gewöhnlicher Stein, ein Ziegel, ein Splitter offenbaren sich als etwas durchaus nicht Gewöhnliches und werden zu Fenstern in eine andere Welt. So ist es mir in der Kindheit oft ergangen. Während aber manche Erscheinungen meine Seele immer wieder von neuem anzogen, ohne sie zu sättigen, eröffnete sich mir die geheimnisvolle Tiefe anderer nur selten, für Augenblicke oder sogar nur ein einziges Mal. Zu diesen Wahrnehmungen gehörten die Funken.

Wir wohnten damals in Batum in dem Haus von Aiwasow. Ich war vier oder fünf Jahre alt. Da ich immer erst gegen Abend munter wurde, zögerte ich das Schlafengehen stets lange hinaus; wenn ich mich dann hinlegte, lag ich stundenlang wach, wälzte mich, ohne einschlafen zu können, von einer Seite auf die andere und betrachtete zum millionsten Male die Muster auf der Tapete oder auf meiner Bettdecke. Es war eine richtige Tortur, so schlaflos im Bett zu liegen. Deshalb ging ich trotz aller Ermahnungen nicht gern früh schlafen. Einmal saß ich mit Tante Julia im Schlafzimmer, das auf den Hof hinausging. Anfangs beschäftigte sich meine Tante mit mir, las mir vor, erzählte mir etwas, dann schickte sie mich ins Bett. Aber ich sträubte mich besonders hartnäckig und wollte nicht. Meine Tante sagte, es müsse aber sein. Auf dem Hof war es dunkel. Da sagte meine Tante, wenn ich nicht zu Bett ginge, könnte der Schlaf davonfliegen und sich schlafen legen, und dann würde ich nicht einschlafen; ich weiß nicht, ob sie den Schlaf tatsächlich hypostasierte oder ob ich das nur so auffaßte. Ich blickte zu dem dunklen Fenster hin – es war Herbst – und sah Funken fliegen, vermutlich hatte man ein Holzfeuer auf dem Hof entfacht oder einen kleinen Kohleofen aufgestellt. Ein letzter Funke, ein besonders heller, flog einsam wie zurückgeblieben hinter den anderen her. Ich sage zu meiner Tante: »Sieh mal, was ist das?« Und sie: »Da fliegt dein Schlaf. Jetzt wirst du nicht mehr einschlafen können.« Ich sah die Funken, wie ich sie viele Male vorher gesehen hatte. Aber ich fühlte, daß meine Tante recht hatte, daß da tatsächlich mein Schlaf flog, der, zwar nicht sichtbar aber unzweifelhaft, die Form eines Engelchens hatte, und daß er davonfliegend etwas nicht wieder Gutzu­machendes tat. Ich brach in Tränen aus. Ich fühlte, daß etwas geschehen war. Schnell legte ich mich schlafen, aber meine Augenlider wollten sich lange nicht schließen. Seitdem sind Jahre vergangen.

Vor kurzem las ich die Abendmesse in der Kirche des Roten Kreuzes. Die chemischen Kohlen waren ausgegangen, ich mußte das Weihrauchfaß mit gewöhnlichen Herdkohlen entzünden, die beim Schwenken manchmal Funken versprühten. Ein Funken aus dem Weihrauchfaß flog einsam durch den Altarraum. Und sofort erinnerte ich mich, wie in meiner Kindheit als ein solcher Funken »mein Schlaf davongeflogen« war. Jener Kindheits-Funken wiederum weckte die Erinnerung an den feurigen Funkenstrom vom Rad des Messer­schleifers, der mir eine andere Welt offenbart hatte, eine Welt voll geheimen Grauens, die den Verstand lockte und erregte. Funken sprechen zu Funken und bringen sich Kunde voneinander. Mein ganzes Leben ist durchzogen von einem unsichtbaren Funkenfaden, einem Strom goldenen Feuerregens, der meinen Verstand befruchtet wie Jupiter Danae: Unda, fluens palmis Danaen eludere posset [Die den Händen entrinnende Flut, kann sie Danaë verfehlen; Ovid »Metamorphosen« Buch 11].

1919.1.VI.

Gifte [russisch: jady]. Aus der tiefsten Tiefe der Kindheit steigt das Wort »jad« empor, das mir immer besonders verlockend erschien, schon als ich seine Bedeutung noch nicht kannte. Allein der Klang »jad«, dann seine Schreibung

яд,

wie überhaupt der Buchstabe я, vor allem, wenn er

ja

gesprochen wurde, das alles erschien mir immer irgendwie schmeichelnd, süß, umgarnend, zerstörend, aber auf geheimnisvolle Weise zerstörend, ohne erkenn­bare physische Ursache, gleichsam magisch. Ja, ich empfand Gift als Magie, eine natürliche Magie vielleicht in ihrer Bestimmtheit, Unausweich­lichkeit, in der Promptheit und Unabwendbarkeit ihrer Wirkung besonders geheimnisvoll und deshalb besonders einschmeichelnd, besonders verführerisch und ein besonders süßes Prickeln verheißend.

Dieser Eindruck, den ich bei dem Wort »jad« hatte, ist für mich mit dem Wort »Jankel« verbunden. Vielleicht war in Gesprächen, denen ich zufällig gelauscht hatte, der Name Jankel gefallen, vielleicht in einem furchterregenden Sinne, ich weiß es nicht, aber dieses Jankel erschien mir eventuell durch das ja und das süße kel drohend, auf irgendeine Weise giftig, einschmeichelnd und tödlich. Ich glaube, daß das ein Echo war auf ein Gespräch über jüdische Schmuggler, die bei uns auf dem Hof wohnten und die plötzlich, all ihr geheimnisvolles Hab und Gut zurücklassend, auf geheimnisvolle Weise verschwanden.

Einmal stand ich mit Tante Julia auf dem Balkon, der rings um unser Haus in Batum herumlief. Es war das Haus der Aiwasows. Ich sehe uns noch wie heute auf dem Balkon zum Innenhof stehen. Meine Tante pflanzte wohl Blumen – wir waren beide große Blumenliebhaber – längs des Balkongitters in Kästen, die mein Vater auf ihren Wunsch bestellt hatte. Ich hatte nichts zu tun, und aus lauter Untätigkeit steckte ich ein Stückchen grünes Papier, etwas wie Zigaretten- oder Seidenpapier, in den Mund, kaute es und knetete, fasziniert von der leuchtend grünen Farbe, kleine Kügelchen daraus. Diese grüne Farbe, erinnernd an das Grün des Smaragds und das Grün des Meerwassers am Hafen, dessen fettiger Glanz durch die Spalte des Laufstegs schimmerte, zog mich durch ihr Leuchten und ihre, wie mir schien, geheime Feindseligkeit an. Als die Tante sah, was ich machte, fuhr sie mich erschrocken an: »Was machst du da? Wirf sofort das Papier weg«, ich warf es schnell weg, »und nimm nie wieder grünes Papier in den Mund. Merk dir, es ist mit grüner Farbe gefärbt, die Farbe heißt ›Jankel‹ – die Farbe ›Jankel‹ ist sehr giftig, und man kann daran sterben.«

»Jankel« – ich erbebte. Das also war »Jankel«, das Wort, vor dem ich zitterte. Jedenfalls hatte ich es so verstanden. Jetzt glaube ich eher, daß meine Tante nicht »Jankel« sagte, sondern »Myschjak« [Arsen], denn Grün ist die Farbe des Arsens, ich aber hörte statt des mir unbekannten Wortes Myschjak, das auch das geheimnisvolle ьяк – ja enthielt, das mir bekanntere Jankel, das schon den Schein des Giftigen angenommen hatte. Seither kann ich den Anblick dieses dünnen durchscheinenden grünen Papiers nicht vertragen, und wenn es gar jemandem an die Lippen kommt, habe ich das Gefühl, er vergiftet sich unmittelbar. Damit hängt es vermutlich auch zusammen, daß mir Smaragde seltsam anziehend und verlockend, dabei aber giftig und insgeheim tödlich vorkommen – ganz magisch. Und ich habe das Gefühl, hier besteht wiederum eine Korrespondenz mit dem Grün der Weintrauben, die mir einmal verwehrt wurden

Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus

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