Читать книгу Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus - Pawel Florenski - Страница 6
1. Frühe Kindheit Die einsame Insel
Оглавление1916.7.IX. Nacht. Nach den Vorbereitungen zum Gottesdienst: Am Vorabend der Geburt der Heiligen Gottesgebärerin. Ich schreibe auf dem Pult vor der Bilderwand im Lichte der Ampel. –
Überarbeitet 1916.20.IX.
Unsere Familie (ich meine die Eltern und die bei uns lebenden Tanten und uns Kinder), unsere Familie bildete eine geschlossene kleine Welt. Vater und Mutter, die Mutter besonders, waren darauf bedacht, die Familie von allem, was außerhalb von ihr war, fernzuhalten. Die ungewöhnlich große Neigung meiner Eltern füreinander; der Widerwille meines Vaters gegenüber allem Gewöhnlichen im gesellschaftlichen Alltag und die stolze Lebensangst meiner Mutter; die Auffassung meines Vaters (und auch meiner Mutter), jede gesellschaftliche Bindung und jede Art menschlicher Aktivität sei, wenn auch nicht gänzlich abzulehnen, so doch im Vergleich zur Familie unendlich gering zu schätzen; dann vielleicht die ungenügende Versorgtheit der Familie in der Zeit ihres Entstehens, die grundsätzliche Verachtung jeder Konvention, allen »Firlefanzes« und Flitterkrams bei meinem Vater und bestärkt durch ihn auch bei meiner Mutter; ein gewisser, wenig verständlicher, aber unzweifelhaft vorhandener aristokratischer Stolz der Familie, besonders der Mutter, und das ständig mit der Betonung »wir sind ganz gewöhnliche Leute«, was sie sich offenbar selbst einredete, ohne wirklich daran glauben zu können; vielleicht ein Hauch der Vergeistigung auf dem Boden einer Lebensabkehr und eines eigentümlichen, nicht kirchlichen, nicht religiösen Asketismus – all das führte dazu, daß unser Leben einem Leben auf einer einsamen Insel glich, wenn man so will auf einer unbewohnten Insel, wir waren nicht besonders neugierig auf Menschen, sondern bemüht, uns abseits zu halten. Die Menschen hätten dieses Inselparadies seiner Reinheit, seiner Ruhe und seiner Unbedingtheit berauben können, deshalb waren sie nur geduldet, und auch das nur vorübergehend. Ich sagte »Paradies«, denn so verstehe ich meinen Vater – er wollte auf dem reinen Grund des Familienlebens ein Paradies errichten, das durch nichts zu bedrohen wäre, weder durch äußere Unbilden noch durch die Kälte und den Schmutz der gesellschaftlichen Beziehungen und wohl nicht einmal durch den Tod. Ja, soweit ich ihn verstehe, hat mein Vater den Tod nie einkalkuliert, ebenso wenig wie die Sünde, obwohl er als Pessimist zugab »Menschen sind immer und überall Menschen mit ihren Leidenschaften und Schwächen«. Die Aufgabe dieses Lebensexperiments, für die mein Vater wirklich sein Leben hingab und auf die er viele, viele seiner reichen und großartigen Gaben und große Anstrengung verwendete, war es also, die Familie von allem, was anders war, auf das sorgfältigste fernzuhalten, von allem, was die Ruhe dieses wolkenlosen Daseins stören konnte.
Die ganze Last des Alltags trug der Vater allein, die Familie durfte nicht damit behelligt werden; und als er die Last nicht mehr allein tragen konnte, all diese Mühen und Sorgen und Unannehmlichkeiten des Alltags, damit die Familie davon verschont bliebe, brach er zusammen, er verlor angesichts seines unverwirklichten Lebens das Gleichgewicht, körperlich und geistig. Das war wahrhaft eine Katastrophe: Vor seinen Augen stürzte alles zusammen, was er sein Leben lang aufzurichten versucht und wofür er sich aufgeopfert hatte. Ja, aufgeopfert, denn die Familie war sein Idol, sein Gott und er ihr Priester und ihr Opfer.
Die Aufgabe der Familie war es, sich von der Umgebung zu isolieren. Unser Leben war ein Leben »in uns«, wenn auch nicht »für uns« – ein vom gesellschaftlichen Umgang und von der Vergangenheit abgeschnittenes Dasein. Im Raum wie in der Zeit waren wir ein »neues Geschlecht«, eine neue Generation, wir ganz allein. Natürlich hing diese Lebensführung nicht allein von dem Wunsch der Eltern ab, sondern von vielen Umständen, unabhängig von irgend jemandes Absicht. Wie dem auch sei, wir Kinder kannten die Vergangenheit unserer Familie fast gar nicht, von der unseres Geschlechts ganz zu schweigen. Der Blick meiner Eltern war auf die Gegenwart und vor allem auf die Zukunft gerichtet. Und die Vergangenheit ... die Vergangenheit wurde geleugnet, theoretisch, praktisch war sie unbekannt oder so gut wie unbekannt; soweit es die Vergangenheit der Eltern selbst betraf, war sie nicht rosig gewesen. Darauf werde ich später zurückkommen. Jetzt nur so viel, mein Vater wie meine Mutter waren beide aus ihren Geschlechtern herausgefallen; verständlich, daß ihnen der Faden der lebendigen Überlieferung entglitten war, vielleicht hatten sie ihn auch einfach losgelassen. Wir Kinder wußten davon fast nichts. Dann erfuhr ich einiges. Aber das war erst später. Und auch das nur durch Ausfragen, wobei meine Mutter übrigens nie bereitwillig und unumwunden antwortete, durch Gespräche mit Fremden, durch Nachforschungen in Archiven und Büchern. Das war keine Kenntnis, die ich mit der Muttermilch eingesogen hatte, sie war ohne Leben, meinem Verstand nicht auf ewig eingeprägt, sondern es war der Versuch, die Vergangenheit auf archäologischer Grundlage zu restaurieren, eine wissenschaftliche Arbeit wie jede andere. Es ist schmerzlich und betrübt mich, daß das so ist; aber es ist so. Ich bete zu Gott, meine Lieben, daß es mir gelungen sein möge, euch auf einem lebensvolleren und ursprünglicheren Boden großzuziehen; Gott gebe, daß alles, was ich in langem Bemühen und mit vieler Anstrengung für euch gefunden habe, euch auch zum Nutzen gereiche und ihr nicht an Atemnot in einem geschichtslosen Milieu leiden müßt, wie das eurem Vater widerfahren ist. Meine Eltern zählten auf ihre Art zu den Selbstlosen und Gerechten; aber ihre Weltanschauung, die den Versuch darstellte, durch die Familie den Nihilismus zu überwinden, der sie in ihrer Jugend umgab, barg selbst das Gift des Nihilismus in sich. Ich beschuldige meine Eltern nicht, denn sie haben nicht nur viel für uns getan, sondern auch für sich selbst, indem sie den Positivismus durch die Schaffung einer positivistischen Religion der Familie immanent zu überwinden versuchten. Aber ich wiederhole, es war dies eine schreckliche Periode in der russischen Geschichte, wie viele Seelen wurden nicht zerstört, wie viele reine Herzen ins Unglück gestürzt und in die Unbehaustheit getrieben! Ohne das Gefühl eines lebendigen Zusammenhangs mit den Großvätern und Urgroßvätern ist man der Stützpunkte in der Geschichte beraubt. Ich aber möchte in der Lage sein, mir ganz darüber klarzuwerden, welches mein Teil gewesen ist und wo ich mich in jedem Augenblick der Geschichte unserer Heimat und der Welt befunden habe – ich natürlich in Gestalt meiner Vorfahren. Dieses Wissens war ich beraubt, wenn ich auch immer ahnte, warum weiß ich nicht, daß unser Geschlecht sehr alt und die Möglichkeit einer geschichtlichen Selbstbestimmung für uns, die Florenskis, prinzipiell nicht ausgeschlossen ist.
Wie dem auch sei, ich wuchs ohne Vergangenheit auf. Wenn ich euch nun, meine lieben Söhne, von meinem Leben und meinen Eindrücken erzähle, beschränke ich mich dabei bewußt auf den Kreis von Kenntnissen, der mir von Kindheit an vertraut ist und den ich in mein Bewußtsein aufgenommen habe. Die anderen Kenntnisse, die ich später gewann, werde ich euch in einer besonderen Arbeit, die wissenschaftlichen Charakter tragen wird, darlegen; wenn hier dennoch etwas von jenen anderen Kenntnissen durchscheint, dann nur insoweit, als das für das Verständnis meines Berichtes unumgänglich nötig ist. So wird es leichter für mich sein, euch eine Vorstellung vom Geist unserer Familie, von der Art unseres Lebens, von meinen frühen Interessen und den Beschäftigungen der einzelnen Familienmitglieder zu geben. Außerdem kann ich auch nur so die Einsamkeit unserer »Insel« schildern.
Ich spreche hier die ganze Zeit von unserer Familie. Nun will ich endlich genauer beschreiben, wer dazu gehörte.